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Schwarmintelligenz Gemeinsam sind wir dümmer

Der Modebegriff Schwarmintelligenz verheißt Positives - aus vielen guten Entscheidungen Einzelner wird die Weisheit der Masse. Wie kam es dann trotzdem zur Finanzkrise? Eine Studie zeigt, woran es liegen könnte: Das Individuum sollte besser nicht wissen, was der andere denkt.
Menschenmasse (bei den Olympischen Spielen in Sydney): "Meinungsspektrum kultivieren"

Menschenmasse (bei den Olympischen Spielen in Sydney): "Meinungsspektrum kultivieren"

Foto: STEPHAN JANSEN/ AFP

Die Welt wird immer komplizierter, wie soll man da als Einzelner noch den Überblick behalten? Auf sich allein gestellt erscheint das unmöglich - aber wenn Hunderte oder Tausende Menschen sich zusammentun, sieht die Sache schon anders aus. Der Mensch profitiert von der sogenannten Schwarmintelligenz, der Weisheit der Vielen.

Der Nachrichtendienst Twitter gilt als Musterbeispiel für erfolgreiche Schwarmintelligenz. Spannende Nachrichten finden rasend schnell Verbreitung, Langweiliges verschwindet bereits nach wenigen Tweeds im Datennirwana. Dass Menschen gemeinsam bessere Entscheidungen treffen als einer allein, haben Experimente schon mehrfach bewiesen. So können Personen das Gewicht eines Bullen relativ präzise bestimmen, wenn sie einfach den Mittelwert ihrer Schätzungen nehmen.

Aber es gibt auch immer wieder Zweifel an der Weisheit der Vielen. Wie konnte es beispielsweise zur Finanzkrise kommen? Ein Forscherteam von der ETH Zürich hat nun in einem Experiment gezeigt, wie schnell Schwarmintelligenz in Schwarmdummheit umschlagen kann. Sobald Menschen nämlich erfahren, dass andere über ein Problem anders denken als sie selbst, ändern sie ihre eigene Meinung - zumindest ein bisschen.

Vertrauen in eigene Schätzung immer größer

Dirk Helbing und seine Kollegen stellten 144 Studenten der ETH Zürich sechs verschiedene Fragen. Unter anderem wollten sie wissen, wie hoch die Bevölkerungsdichte in der Schweiz ist, wie viele Kilometer die Grenze zwischen der Schweiz und Italien misst und wie viele Morde es 2006 in dem Land der Eidgenossen gegeben hat. Sämtlich Zahlen, die jeder irgendwann schon mal gehört hat, aber kaum genau kennt. Damit die Probanden auch motiviert waren, gute Antworten zu geben, bekamen sie etwas Geld als Belohnung, wenn sie dem tatsächlichen Wert besonders nahe gekommen waren.

Die Weisheit der Vielen wurde auf zwei verschiedene Arten berücksichtigt. Ein Teil der Probanden erfuhr nach der ersten eigenen Schätzung den Mittelwert aller anderen Studienteilnehmer, denen dieselbe Frage gestellt worden war. Ein anderer Teil der Probanden bekam sogar die Schätzwerte aller anderen Teilnehmer vorgelegt. Jede Frage wurde fünfmal wiederholt. Am Anfang und am Ende wurden die Probanden zudem gefragt, wie sicher sie sich mit ihrer eigenen Schätzung sind.

Bei fast allen Fragen zeigte sich, dass die zuerst gegebenen Antworten im Durchschnitt die besten waren. Je mehr die Probanden über die Schätzungen der anderen Studienteilnehmer wussten, umso mehr sank die Schwarmintelligenz. Extremwerte verschwanden nach und nach, die Schätzwerten der einzelnen Probanden näherten sich immer mehr an, ohne dass der Mittelwert dem tatsächlichen Wert näher kam.

Das Experiment zeige, dass sozialer Einfluss die Diversität der Antworten verringere, nicht jedoch den kollektiven Fehler, schreiben die Forscher im Wissenschaftsblatt "Proceedings of the National Academie of Sciences" . Gleichzeitig seien sich die Teilnehmer auch immer sicherer gewesen, dass ihre eigene Schätzung stimme, obwohl dies objektiv nicht der Fall war. Dieses Phänomen bezeichnen die Wissenschaftler als Vertrauenseffekt. "Das ist genau wie vor der Finanzkrise", sagt Helbing im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Wenn alle anderen das Gleiche machen wie man selbst, glaubt man, auf dem richtigen Dampfer zu sein."

Grundlage der repräsentativen Demokratie

"Wenn Menschen sehen, wie andere Menschen denken und entscheiden, konvergieren die Meinungen", sagt Helbing. Dieser Effekt betreffe alle Gremien in Politik und Wirtschaft, überall, wo man zusammensitze und diskutiere. "Ein derartig zustande gekommener Konsens kann eine schlechte Entscheidung sein." Sich an anderen Menschen zu orientieren, sei nicht automatisch gut, warnt der ETH-Forscher. "Es ist wichtig, ein Meinungsspektrum zu kultivieren und nicht von Vornherein auf Konsens zu gehen." Abweichende Meinungen seien wichtig, auch, um kritisch zu bleiben gegenüber der eigenen Meinung.

"Mit dem Begriff Schwarmintelligenz bin ich nicht so glücklich", sagt Helbing. Er passe sicher gut für Fische oder Vögel, "wir Menschen verhalten uns jedoch nicht einfach so wie Schwärme". Dass Probanden sich nach und nach in ihren Schätzungen immer mehr annähern, erklärt der Wissenschaftler mit dem Herdentrieb, den es unbestrittenerweise unter Menschen gibt - siehe Aktienmarkt oder Mode. Es gebe immer wieder neue Trends, und der Mensch neige dabei dazu, über das Ziel hinauszuschießen.

Um die Weisheit der Vielen trotzdem nutzen zu können, ist es wichtig, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung nicht weiß, wie die anderen entscheiden. "Das ist auch Grundlage der repräsentativen Demokratie", sagt Helbing. Die kollektive Weisheit funktioniere gut, solange Menschen unabhängig voneinander wählen könnten.

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