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Artikel 34 / 60

Kalte Füße

aus DER SPIEGEL 50/1961

Ärzte westdeutscher Frauenkliniken beobachteten in den letzten Monaten ein unheimliches Phänomen. Unverhältnismäßig oft wurden Mütter von Kindern entbunden, die mißgestaltet waren. Zugenommen hatten vor allem Fehlbildungen eines bestimmten Typs: Arme und Beine waren verkrüppelt, mitunter fehlten die Gliedmaßen überhaupt.

In zehn Monaten, konstatierte im September der Direktor der Städtischen Kinderklinik Krefeld, Professor Dr. Hans-Rudolf Wiedemann, in der Ärzte-Zeitschrift »Die Medizinische Welt«, seien in seiner Klinik 13 solcher Fälle beobachtet worden. In den zehn Jahren davor jedoch seien in die Klinik nur vier Kinder eingeliefert worden, die an Mißbildungen von Armen oder Beinen litten.

Aber auch außerhalb Krefelds, so hatte Wiedemann durch Umfragen in Erfahrung gebracht, waren auffallend viele Kinder mit mißgebildeten oder fehlenden Gliedmaßen geboren worden. Binnen kurzem hatte der Mediziner »mindestens 95 Fälle« im Bundesgebiet registriert, obgleich aus zahlreichen Orten noch keine Meldungen vorlagen. Wiedemann: »Ein erschreckendes Fazit! Man ist versucht, geradezu von einem 'epidemischen' Geschehen zu sprechen.«

Bis zum Montag vergangener Woche wußten die Bundesbürger nichts von der »Mißbildungs-Epidemie«. An diesem Tage jedoch wurden die westdeutschen Zeitungsleser unter dicken, mit mehr ("Die Welt": »Mißbildungen durch Schlaftabletten?") oder weniger Takt ("Bild":"Mißgeburten durch Schlaftabletten?") verfaßten Schlagzeilen zwar nicht über das Ausmaß des Unglücks, wohl aber über seine vermeintliche Ursache aufgeklärt.

Der Kinderarzt und Dozent an der Hamburger Universitäts-Kinderklinik Dr. Widukind Lenz habe, so berichteten die Zeitungen, »Alarm geschlagen« und vor dem meistbenutzten Schlafmittel gewarnt. Die Blätter identifizierten das Schlafmittel als »Contergan« und meldeten, daß die Herstellerfirma, die pharmazeutische Fabrik »Chemie Grünenthal GmbH« in Stolberg bei Aachen, inzwischen ihr Erfolgspräparat aus dem Handel gezogen habe.

Zum zweitenmal innerhalb weniger Monate wurde damit die erst nach dem Krieg gegründete Arzneimittelfabrik Chemie Grünenthal mit ihrem Contergan-Präparat in eine Medizin-Affäre verwickelt.

Im Spätsommer hatte der SPIEGEL (34/1961) auf einen Sachverhalt hingewiesen, der bis dahin nur Lesern medizinischer Fachzeitschriften bekannt war: Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan kann bei Gebrauch über einen längeren Zeitraum bedenkliche Nebenwirkungen verursachen.

Weit über eine Million Bundesbürger schluckten damals täglich das rezeptfreie Präparat, das 1957 aus Tierversuchen und Kliniktests mit guten Noten hervorgegangen und schnell das erfolgreichste Schlafmittel der Welt geworden war. Die Ärzte lobten, daß sogar Patienten mit schweren Leberschäden Contergan gut vertrügen, daß Asthmatiker und Tuberkulöse damit trefflich einzuschläfern seien und auch Magenkranke keine Beschwerden meldeten.

Doch Mitte dieses Jahres zeigte das »stärkste Kind der Firma Chemie Grünenthal« (so Grünenthal-Wissenschaftler Dr. Sievers) bedenkliche Charakterzüge: In den medizinischen Fachblättern erschienen nun immer häufiger wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Folge-Erscheinungen des Contergan-Gebrauchs befaßten. Die Ärzte berichteten, daß Patienten, denen sie dieses Schlafmittel empfohlen hätten, nach einiger Zeit über unangenehme Gefühle an Händen und Füßen, etwa »Brennschmerz« oder »abnormes Kältegefühl«, sowie über Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, innere Unruhe und vielerlei andere Beschwerden klagten.

Jeder vierte Patient, der über Contergan-Schäden klagte, wies Lähmungen auf. Die Mediziner hielten diese Erscheinungen für um so schwerwiegender, als die Störungen nur langsam oder gar nicht verschwanden.

Was manche Ärzte aus den Fachzeitschriften lernten, viele aber erst von Patienten erfuhren, die den im August veröffentlichten Contergan-Bericht des SPIEGEL gelesen hatten, wußten die Grünenthal-Werke schon seit Herbst 1959. Freilich waren damals erst sehr wenige Gesundheitsstörungen durch Contergan beobachtet worden. Bis zum November 1960 hatte die Firma - nach eigenen Angaben - 31 Meldungen über Contergan-Schädigungen erhalten.

Sechs Monate später - der Contergan-Konsum war nunmehr in der Bundesrepublik auf über eine Million Einschlafportionen pro Nacht gestiegen - erschien es Chemie Grünenthal ratsam, für Contergan die Rezeptpflicht zu empfehlen; Begründung: Es solle dem Mißbrauch Einhalt geboten werden.

Mehrmals hätten Vertreter der Firma, so versicherte der Grünenthal-Wissenschaftler Dr. Sievers, die Gesundheitsbehörden der Länder gedrängt, die Rezeptpflichtverordnung für Contergan baldmöglichst zu erlassen. In einigen Ländern, in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg, dem Saarland, wurde dann auch seit dem 1. August dieses Jahres Contergan nur noch auf Rezept verkauft.

Andere Länder dagegen ließen sich Zeit. In Hamburg wurde Contergan am 7. November rezeptpflichtig, in Schleswig-Holstein am 9. November. Trotzdem wurde das Mittel noch am vergangenen Montag von Kieler Apotheken anstandslos ohne Rezept abgegeben. Zum gleichen Zeitpunkt war es in Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz noch gar nicht rezeptpflichtig.

Die naheliegende Folgerung, den Verkauf des bedenklichen Schlafmittels zu stoppen, bis die Rezeptpflicht in allen Bundesländern verfügt sein würde, gedachte die Firma jedoch nicht zu ziehen. »Die Frage, dieses gute Präparat aus dem Handel zu nehmen«, erklärte der Syndikus der Chemie Grünenthal, Dr. von Veltheim, »stand für uns nicht zur Debatte.«

Statt dessen verschickte die Arzneimittelfirma an Ärzte und Apotheker mehrmals hektographierte Rundschreiben ("mit Sondermarken beklebt, damit die Briefe zwischen der Reklame auffallen"), in denen die beobachteten Nebenwirkungen vorsichtig angesprochen und zugleich die guten Eigenschaften des Medikaments hervorgehoben wurden. Auch die den Packungen beigegebenen Gebrauchsanweisungen wurden mehrmals geändert. Noch die letzte Fassung war indes so gehalten, daß sie weniger als Warnung, eher als Beschwichtigung aufgefaßt werden konnte.

»Unkontrollierte Anwendung«, hieß es etwa auf den Gebrauchsanweisungen, »kann in vereinzelten Fällen Nebenwirkungen hervorrufen ... Wird bei Beobachtungen der ersten Anzeichen ... das Präparat sofort abgesetzt, so klingen die Symptome meist ohne weitere Therapie ab.«

So verkauften Apotheken in Teilen der Bundesrepublik Contergan noch immer rezeptfrei, als in der vorletzten Woche gegen das Schlafmittel auch der Verdacht ausgesprochen wurde, es könne möglicherweise noch weitaus schwerwiegendere Schäden hervorrufen: Mißbildungen bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten.

Der Krefelder Kinderarzt Professor Wiedemann (heute Direktor der Universitäts-Kinderklinik Kiel), der im September als erster auf die plötzliche Häufung von »Fehlbildungen der Gliedmaßen« hingewiesen hatte, erörterte damals auch die möglichen Ursachen der Mißbildungen. Wiedemann hielt für unwahrscheinlich, daß es sich um Erbschäden, Folgen von Röntgen- oder radioaktiven Bestrahlungen oder Schäden durch chemische Empfängnisverhütungsmittel handele. Er schrieb: »Wir möchten am ehesten die Auswirkung eines sonstigen in unserem Zivilisationsbereich neuerdings 'eingeführten' und hier weit oder allgemein verbreiteten 'toxischen' Faktors vermuten - aber wir kennen ihn nicht.«

Unterdes war auch an der Hamburger Universitäts-Kinderklinik der Dozent Dr. Lenz auf die Häufung des besonderen Typs von Mißbildungen aufmerksam geworden. Um den Ursachen auf die Spur zu kommen, entwarf Lenz umfangreiche Fragebogen für Frauen, die mißgebildete Kinder geboren hatten.

Der Kinderarzt fragte die Mütter nicht nur nach Beschwerden, unter denen sie im Verlauf der Schwangerschaft gelitten hatten. Er erbat auch Aufschluß darüber, ob die Frauen geraucht oder Alkohol getrunken hätten, welche Art und Marken von Spirituosen dabei bevorzugt worden seien, welche Waschmittel sie benutzt hätten. Vor allem aber wollte Lenz wissen, welche Medikamente sie eingenommen hätten.

In einigen Fällen untersuchte Lenz sogar persönlich die Apothekenschränke der Familien. Als der Forscher 20 Fälle recherchiert hatte, stellte er fest,

▷ daß die Mehrzahl der von ihm befragten Frauen Contergan eingenommen hatte,

▷ daß bei fast allen übrigen Müttern mit mißgebildeten Kindern die Möglichkeit des Contergan-Konsums während der Schwangerschaft nicht ausgeschlossen werden konnte.

Am 16. November teilte Lenz der Chemie Grünenthal telephonisch seinen Verdacht mit, daß Contergan die Ursache von Mißbildungen sein könne und forderte die Firma auf, das Präparat vorsorglich sofort aus dem Handel zu ziehen.

Drei Tage später erfuhren Mediziner, die sich zur Tagung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärzte-Vereinigung in Düsseldorf versammelt hatten, von dem Verdacht des Dr. Lenz. In einer Diskussionsbemerkung wies der Hamburger Arzt darauf hin, daß er seinen Verdacht zwar noch nicht nach wissenschaftlichen Kriterien einwandfrei bestätigen könne.

Jedoch: »Als Mensch und Staatsbürger kann ich es mit meinem Gewissen als Arzt nicht vereinbaren, zu schweigen.« Jeder weitere Monat, in dem das Schlafmittel (Lenz vermied, den Namen Contergan zu erwähnen) noch im Handel sei, könne bedeuten - falls sich sein Verdacht bestätige -, daß die Zahl der mißgebildeten Kinder in der Bundesrepublik um 50 bis 100 vermehrt würde.

Sechs Stunden lang rangen dann am Freitag vorletzter Woche Gesundheitsbeamte und Grünenthal-Abgesandte im Düsseldorfer Innenministerium um die Konsequenzen, die aus den Beobachtungen des Dr. Lenz zu ziehen seien.

Chemie Grünenthal erbot sich, Ärzte und Apotheker über die Bedenken des Hamburger Kinderarztes zu unterrichten und die Contergan-Packungen künftig mit dem Etikett »Bei Schwangeren nicht verabreichen« zu bekleben. Als die Gesundheitsbeamten jedoch andeuteten, daß möglicherweise der Verkauf des Präparats unterbunden werden müsse, zeigten sich die Firmen-Vertreter empört: Sie drohten an, gegen eine solche Verfügung rechtlich vorzugehen.

Einen Tag später, offenbar angesichts der »Riesengefahr, wenn die Unterlagen zu Recht bestehen könnten« (Grünenthal-Wissenschaftler Dr. von Schrader-Beielstein), bekam die Firmenleitung, was manche Contergan-Esser als harmloseste Folge des Schlafmittel-Konsums verspürt hatten: kalte Füße. Am Sonnabend vorletzter Woche beschloß Chemie Grünenthal, Contergan aus dem Handel zu nehmen. Kurz darauf verschwand eine Reihe anderer Präparate, die den gleichen Wirkstoff wie Contergan enthielten, vom Markt. Seit Dienstag vergangener Woche geben die Apotheken Contergan nicht mehr ab.

Daß der Verkaufsstopp angebracht war, bestätigte letzten Donnerstag ein Gremium von Wissenschaftlern, die von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen zu einer Geheimsitzung über Contergan eingeladen worden waren. »Es läßt sich nicht ausschließen«, verlautbarte die Professoren-Kommission nach vielstündiger Sitzung, »daß mindestens in ungünstigen Fällen nachteilige Wirkungen auf die kindliche Entwicklung eintreten können.«

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