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DIE WELT

So laßt uns denn kein Klopapier werfen

In seinem 40. Jahr besinnt sich das Berliner JazzFest auf Europa und feiert gerade damit das Gute, Wahre und Schöne aus Amerika

Das Publikum buhte und warf mit Klopapierrollen. Es gab da diesen schlimmen, verfahrenen Krieg und diesen unbeliebten amerikanischen Präsidenten. Die Künstlerin auf der Bühne hatte es allerdings vorgezogen, eskapistische Standards im Abendkleid vorzutragen, statt kämpferische politische Parolen ins Rund der Philharmonie zu schreien. Das kam in Berlin gar nicht gut an. Das Auditorium zeigte sich ungnädig, und Sarah Vaughan, die große Sängerin, war der Verzweiflung nahe. 1969 geschah das, anläßlich der Jazztage.

Wir schreiben das Jahr 2004. Im Festspielhaus steht ein erleuchteter amerikanischer Künstler gegen Ende des 40. Berliner Jazztreffens auf den Brettern. Charles Lloyd zitiert Martin Luthers Spruch vom Apfelbaum und Buddhas Aufruf zur Friedfertigkeit. Er spielt sehr leise und sehr herzenserwärmend Klavier, bläst ekstatisch das Tenor- und Altsaxophon, die Querflöte und eine fernöstliche Klarinette. Zakir Hussain, der unglaubliche indische Tabla-Trommler, und Eric Harland, der mächtige Schlagzeuger aus den Staaten, bewahren Lloyd davor, sich im Allzu-Esoterischen zu verlieren.

Das Publikum hustet entrückt. Wenig später applaudiert es mit fröhlichem Ingrimm, angesichts der Video-Collage, die sich der britische Saxophonist Denys Baptiste zur Illustration seiner Suite "Let Freedom Ring!" ausgewählt hat. Man sieht dort unter anderem George W. Bush. Und einen Schimpansen. Brüder im Geiste, denkt sich das Auditorium und rührt die Hände. Das ist ziemlich dumm. Denn eigentlich sollte Baptiste mit seiner feinen Musik Martin Luther Kings "I have a dream"-Rede ehren. Mit den Bildern, die aus einer Michael-Moore-Schüler-AG entstammt zu sein scheinen, degradiert er das Sprachkunstwerk jedoch zum plakativen Polit-Rap über Osama, Rumsfeld, Beslan, Palästina und all das, was in der Welt derzeit irgendwie nicht okay ist. Diese Undifferenziertheit hat Martin Luther King, der 1964 den ersten Berliner Jazztagen ein bemerkenswertes Geleitwort mit auf den Weg gab, nicht verdient. Der Bürgerrechtler schrieb damals über die außerordentliche Fähigkeit des Jazz, Leiden und Schmerz in Hoffnung und Zuversicht zu verwandeln.

In Berlin beherzigte man diese Worte. Denn das Festival, das Joachim-Ernst Berendt dort nur einen Trompetenwurf von der Mauer entfernt zunächst in der Philharmonie installierte, erwies sich gewissermaßen als ästhetische Luftbrücke. Die Jazztage, die 1981 in JazzFest umbenannt wurden, holten sich die ganze Welt auf die Bühne und unterstrichen, daß Meinungspluralismus für Deutschland kein Fremdwort mehr war. Für die Musiker war das zuweilen eine erschütternde Erfahrung. Wer nicht alles gab oder die falsche Gesinnung hatte, wurde ausgeschimpft oder mit Sitzblockaden bestraft. Gelebte Demokratie, ebenso wie der Jazz ein wichtiges Geschenk der Amerikaner. Man vergißt das gerne. Weil die Werte der freien Rede und des freien Improvisierens inzwischen zum globalen Kulturkanon gehören.

Das mag (neben den Gagenforderungen) ein Grund sein, weshalb das Berliner JazzFest bei seiner Jubiläumsausgabe weitestgehend auf die amerikanischen Erfinder und ihre prominenten Nachfahren verzichtete. Transatlantischen Rang und Namen hatten in Peter Schulzes Zusammenstellung nur Charles Lloyd und der in Tennessee geborene Tenorist Bennie Wallace, der mit einem traditionsprallen Konzert an Coleman Hawkins erinnerte - den ersten berühmten Aussiedler des Jazz, den es in den 30er Jahren nach England zog. Wallace erwähnte diesen Umstand mit Bedacht. Denn er fügte sich perfekt in ein Programm ein, daß sich vollkommen auf Europa und seine Originale besann.

Das fing beim Eröffnungskonzert in der Philharmonie an, wo das französische Akkordeon-Unikum Richard Galliano mit dem belgischen Mundharmonika-Meister Jean "Toots" Thielemans um die Herrschaft über die schönste Real-Book-Melodie stritt, wo George Gruntz und Albert Mangelsdorff, die beiden langjährigen Festivalleiter, die NDR Big Band zum Abheben brachten, wo Willem Breuker schließlich Gershwins "Rhapsody in Blue" notengetreu in ein nettes Arbeiterlied verwandelte.

Es ging in den nächsten Tagen weiter. Mit dem Berliner Quartett Yakou Tribe auf seiner Suche nach dem Wilden Westen an der Spree, mit dem britischen Pianisten Huw Warren und seiner singenden Landsfrau June Tabor im Spagat zwischen englischem Witz und uralter Balladenkunst. Mit dem verblüffende Weltmusik zupfenden, streichenden und schlagenden Cellisten Ernst Reijseger. Mit der altersmilden Kuschel-Avantgarde des niederländischen ICP Orchestra. Mit der in Berlin lebenden japanischen Pianistin Aki Takase in humorvollem Angedenken an Fats Waller. Mit dem Blues-Clown Billy Jenkins aus England. Mit den punkjazzigen Jimi-Hendrix-Bearbeitungen des britischen Jungmännerbundes Acoustic Ladyland. Viele Hommagen. Wenige Ausfälle.

Das alte Europa ist eben doch das beste. Was Bennie Wallace unter beifälliger Zustimmung des Auditoriums bei seinem Auftritt in Berlin erklärte, barg eine janusköpfige Wahrheit in sich. Ohne den Zuspruch der Alten Welt würde der Jazz heute einerseits vielleicht immer noch ein Randexistenzleben als Bordellbeschallung oder Kneipengehupe führen. Ohne die amerikanische Tradition hätten die Europäer andererseits nichts, wovon sie sich zu Widerspruch und origineller Anverwandlung inspirieren lassen könnten. Es ist dieses Geben und Nehmen, von dem das Berliner JazzFest in seinen 40 Jahren zehrte. Es hat es ebenfalls bei seinem Jubiläum getan, mit seinen respektvollen Gegenwarts-Remixen der Vergangenheit. Und ja, auch wenn es jetzt Klorollen regnen sollte: eigentlich war das alles eine einzige Liebeserklärung an die Standards des Guten, Wahren, Schönen aus Amerika.

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