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DIE WELT

Die kleine Kim war nicht sein erstes Opfer

Am Donnerstag beginnt der Prozeß gegen den geständigen Kindermörder von Varel - Bürgerinitiative kündigt Demonstration an

Von JÜRGEN BUNGERT


Oldenburg - "Wir denken an dich, kleine Kim. Tot ist nur, wer vergessen ist." Ein unbekanntes Kind hat den Satz auf einen Zettel geschrieben, den ein brauner Teddy in seinen Tatzen hält. Der Bär sitzt zwischen bunten Blumen vor einem weißen Kreuz. Eine kleine Gedenkstätte am Wegesrand in Varel (Niedersachsen). Hier wurde am 9. Januar die zehnjährige Kim Kerkow entführt, sexuell mißbraucht und ermordet. Am 30. Oktober beginnt vor der 5. Großen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg der Prozeß gegen den mutmaßlichen Täter. Rolf Diesterweg (35) ist des sexuellen Mißbrauchs und Mordes angeklagt. Außerdem werden ihm zwei weitere Sexualdelikte an Kindern zur Last gelegt. An sechs Verhandlungstagen wird das Schwurgericht drei Gutachter und 22 Zeugen hören. Als Nebenkläger treten Mutter und Stiefvater des getöteten Mädchens auf. Beide aber nehmen am Prozeß nicht teil, ein Anwalt vertritt sie. Der Mordfall Kim in der friesischen Kleinstadt (25 000 Einwohner) - kaum ein anderes Sexualdelikt löste in Deutschland eine so erregte Diskussion um eine Verschärfung des Sexualstrafrechts aus. Politiker setzten sich für höhere Freiheitsstrafen und eine wirkungsvollere Therapie der Täter ein. Bürgerinitiativen bildeten sich, schlossen sich zu einem Dachverband zusammen, veranstalteten Demonstrationen. "Alle haben sie geredet. Alle haben gefordert, daß was geändert werden muß. Aber bisher ist nichts geschehen", sagt Maike Geißler, die Mutter von Kim. Sie ist zum zweitenmal verheiratet. Kims leiblicher Vater lebt ebenfalls in Varel. Maike Geißler weiter: "Dabei ist es so wichtig, daß schnell etwas geschieht. Daß Wiederholungstäter nichts mehr anrichten können. Auch der Mörder meiner Tochter hatte schon einmal getötet. Wieso durfte er sich unbeaufsichtigt in der Öffentlichkeit bewegen? Kim könnte heute noch leben." Rückblick: 9. Januar 1997, ein Donnerstag. Kim hatte eine Klassenkameradin im Nachbarort besucht. Am frühen Abend radelte sie gemeinsam mit drei Freundinnen zurück nach Varel. 600 Meter von ihrem Elternhaus entfernt verabschiedete sie sich von den anderen Mädchen und fuhr allein weiter. Doch in dem kleinen Einfamilienhaus am Ortsrand kam sie nicht an. Die Eltern wurden unruhig. Stiefvater Klaus Geißler ging hinaus, um nach ihr zu sehen. Knapp 60 Meter vom Wohnhaus entfernt entdeckte er das Trekkingrad der Tochter, einen rosafarbenen Handschuh - und eine halbvolle Dose mit Tränengas. Er ahnte sofort ein Verbrechen und rief die Polizei an. Eine der größten Suchaktionen wurde gestartet. 700 Bundeswehrsoldaten, unterstützt von Polizei, Feuerwehr und freiwilligen Helfern, durchkämmten das Gelände. 24 Stunden später wurde das blonde Mädchen entdeckt. 340 Kilometer weiter westlich im Naherholungsgebiet Amsterdamer Busch in Holland. Spaziergänger fanden die Leiche. Ihr Mörder wurde sechs Tage später gefaßt. Zwei Bundesgrenzschutzbeamte erkannten ihn auf einem Phantombild. Der erfolglose Jungunternehmer Rolf Diesterweg hatte vor 18 Jahren schon einmal ein Mädchen gekidnappt, sexuell mißbraucht und getötet. Damals war er zu sechs Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags verurteilt worden. Er wurde wegen guter Führung nach vier Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Im Polizeiverhör gestand Diesterweg, er habe das verängstigte Mädchen vor dessen Elternhaus in sein Auto gezerrt. Dann sei er mit dem Kind zur 40 Kilometer entfernten Wohnung seiner Eltern, die im Urlaub waren, in Horumersiel bei Wilhelmshaven gefahren. Dort habe er die Kleine vergewaltigt und aus Angst, sie könne ihn verraten, mit einem Schal erdrosselt. Die Leiche versteckte er in dem Wald bei Amsterdam. "Wir wollen es nicht tatenlos hinnehmen, daß in Deutschland Jahr für Jahr 800 Kinder und Jugendliche verschwinden, mißhandelt und ermordet werden", sagt der ehemalige Bundeswehroffizier Harald Menge (56), der die "Initiative Kim" gründete. Zu den mehr als 100 Mitgliedern der Bürgerinitiative in Varel gehören auch Kims Eltern und ihr leiblicher Vater. "Leider ist die von zahlreichen Politikern versprochene Verschärfung des Sexualstrafrechts immer noch nicht verabschiedet", klagt Menge. Das wichtigste für ihn ist die Prävention. "Wir müssen vorbeugen, um Schlimmes zu verhindern." Sein Forderungskatalog: regionale Notruftelefone für Kinder, die 24 Stunden besetzt sind, mehr Schutz für die Opfer, Einführung eines Opferanwalts und eines Kindesbeauftragten sowie die Verschärfung des Strafmaßes für Sexualtäter. In einer Demo vor dem Landgericht in Oldenburg will die "Initiative Kim" auf ihre Forderungen aufmerksam machen. Kims mutmaßlicher Mörder Rolf Diesterweg wartet in einer Zelle der Justizvollzugsanstalt Celle auf seinen Prozeß. Sein Rechtsanwalt Reinhard Nollmann: "Mein Mandant ist geständig. Er weiß, daß er krank ist." Die extra für diesen Fall gebildete Sonderkommission wurde Ende August aufgelöst. Fünf Kripobeamte ermitteln allerdings noch weiter. Diesterweg ist ledig. Die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin, einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern, ging in die Brüche. Im Gefängnis besuchen ihn seine Eltern und drei Geschwister. Die angesehene Familie besitzt in Horumersiel ein Strandhotel. "Die Stammgäste halten uns die Treue", sagt die 67jährige Mutter. Auf die Frage, wie sie zu ihrem Sohn stehe, fügt sie leise hinzu: "Wir lassen ihn nicht allein."

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