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Panorama Berlin-Kreuzberg

Ein „Gewaltvideo“ – und was wirklich geschah

Redakteurin
Mitten in Kreuzberg: Die Berliner Markthalle (links), hier bei einem Food-Festival Mitten in Kreuzberg: Die Berliner Markthalle (links), hier bei einem Food-Festival
Mitten in Kreuzberg: Die Berliner Markthalle (links), hier bei einem Food-Festival
Quelle: picture-alliance
Ein Video löst Empörung aus. Es zeigt, wie ein Dieb, der angeblich aus Hunger ein Brötchen gestohlen hat, „gewürgt“ wird. Angeblich ist er ein geistig behindertes Kind. Die Wahrheit ist eine andere.

Der Junge schreit. Er blickt verzweifelt in die Kamera. Ein kräftiger Mann hat seine Hand an seinem Nacken, er hat ihn fest im Griff. „Das dürfen Sie nicht!“, ruft eine Frau. „Sie würgen ihn!“ Sie sagt, dass sie alles aufzeichnet. Sie soll nicht so schreien, sagt jemand. „Ist doch nicht so schlimm!“, sagt eine andere Frau. „So hält man keinen Menschen fest!“, ruft die Frau mit der Kamera. „Wen denn?“, fragt eine andere.

Die Frau mit der Kamera droht. Sie werde das ins Internet stellen, um zu zeigen, wie man es in Deutschland mit den Menschenrechten hält. Sie solle aufhören mit den „Menschenrechten“, sagt ein Mann. Da, wo sie herkomme, würde sie „ganz anders behandelt“ werden.

In Berlin-Kreuzberg hat sich eine Szene abgespielt, die in den alternativen Bezirk eigentlich nicht passen will. Ausgerechnet in der „Markthalle Neun“, die mit ihrem ökologischen Konzept zeigen will, „wie ,Anders-Essen‘ und ,Anders-Einkaufen‘ in der Stadt möglich sind“, die Impulse setzen will für ein „global gerechtes Ernährungssystem“ wurde zum Schauplatz von Gewalt. Das zeigt ein Video, das der Account Apachefightsupporter am 21. April ins Netz gestellt hat und das seitdem für Aufsehen sorgt.

In dem Text unter dem Film ist von einem schlichten Brötchenklau die Rede, bei dem der junge Mann erwischt worden sei. Er soll sich auch übergeben haben. In dem Video ist das nicht zu sehen. Wohl aber, dass hier mit Gewalt jemand festgehalten wird, dass sich der Festgehaltene wehrt. Und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass das schmerzhaft ist. Immerhin war der Griff so locker, dass der Festgehaltene trotz der Hand an seinem Nacken irgendwann sein Handy betätigen und offenbar eine SMS schreiben konnte.

Der Täter soll nur ein Brötchen geklaut haben

Die „Markthalle Neun“ hat auf ihrer Facebook-Seite Stellung zu den Vorkommnissen genommen. Danach war es nicht ein Brötchen, sondern die Tageseinnahme aus der Standkasse, die dem Marktanbieter gestohlen wurde. „Das passiert bei uns leider gelegentlich“, heißt es. „Der Mann lief weg, konnte aber zum Glück auf dem Weg nach draußen von einem unserer Standbetreiber festgehalten werden, der dann direkt die Polizei verständigte.“ Das Video würde nicht den ganzen Vorgang zeigen. So wäre der Dieb „handgreiflich“ geworden.

Insgesamt sei „niemand zu Schaden gekommen“, schreiben sie. Über die Äußerungen gegenüber der Frau mit der Kamera und die Anspielung auf ihren Migrationshintergrund und die angebliche Herkunft aus einem Land, in dem Menschenrechte verletzt werden, verliert die „Markthalle Neun“ allerdings kein Wort.

Unter dem Statement reihen sich überaus empörte Kommentare. Dass der junge Mann Geld gestohlen hat, wird infrage gestellt. Augenzeugen sind davon überzeugt, dass es sich um einen „Mundraub“ gehandelt und die Reaktion völlig überzogen gewesen wäre. Einige behaupten, dass der junge Täter „ein Kind“ und geistig behindert sei und sein Kopf angeblich auf den Boden geschlagen wurde.

„Ihr seid gegenüber einem behinderten Menschen gewalttätig geworden“, schreibt ein User. „Er wurde so lange gewürgt, bis er gebrochen hat. Verpisst euch aus unserem Kiez. Auf Menschen wie euch können wir gerne verzichten.“ Ein anderer fordert auf, die „Markthalle Neun“ zu boykottieren.

Bei der Polizei hat er gestanden

Was aber ist die Wahrheit? Die zuständige Berliner Polizei bestätigt, dass es Anfang der Woche zu einem Zwischenfall in der Markthalle gekommen ist. Eine Aussage stellt die Pressestelle allerdings infrage. So habe es sich nicht um einen „Mundraub“ gehandelt. Der Täter, kein Kind, sondern ein 25-jähriger Mann, habe in die offene Kasse gegriffen und Bargeld gestohlen.

Bei seinem Versuch zu fliehen, wurde er festgehalten. Nachdem die Polizei alarmiert wurde, hätten die Standbetreiber ihr „Jedermannsrecht“ angewendet und ihn so lange am Weglaufen gehindert, bis die Beamten kamen. Sie hätten den jungen Mann „nicht gewürgt“. Der wiederum hätte auch keine diesbezügliche Strafanzeige gestellt, was ihm freisteht. Stattdessen habe er den Geldraub zugegeben.

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