Drei Direktmandate, stärkste Kraft nach Zweitstimmen und mancherorts Stimmenanteile von knapp 50 Prozent: Die AfD ist, was eigentlich nicht hätte überraschen dürfen, stärkste Kraft in Sachsen geworden. Mit Mehrheiten, die eher an Marine Le Pens Front National in Frankreich erinnern oder an die Ergebnisse der Freiheitlichen in Österreich. Damit ist ein Narrativ nun amtlich widerlegt, das mit dem Bonmot Kurt Biedenkopfs seinen Anfang nahm, wonach Sachsen immun sei gegen Rechtsextremismus. Arnold Vaatz, Michael Kretschmer und andere größere und kleinere Granden der CDU hatten es hernach in jede Kamera dekretiert: Der Sachse sei eben ein bisschen widerständiger, aber keinesfalls auf dem rechten Auge blind.

Schon immer ein Trugschluss war der Eindruck, die wahren Zentren der AfD lägen außerhalb Sachsens, in ehemals fest in NPD-Hand befindlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns oder eben im sachsen-anhaltinischen Bitterfeld. Schließlich hatte die AfD ihre ersten, viel übersehenen großen Erfolge bereits in den Jahren 2013/14 im Süden und Osten Sachsens errungen. Also in jenen Landstrichen, wo in einer einmaligen Mischung zweierlei aufeinander trifft: ein weltfremder und welthassender, übersteigerter Evangelikalismus, der sich dem Lebensschutz, dem Islamhass und dem Kampf gegen Sexualität verschrieben hat; und eben ein gewaltbereiter, manifester Rechtsextremismus, der etwa in Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen und der Sächsischen Schweiz immer wieder aufflackert.

Sachsen war einst Hort der liberalen Emanzipation und stolzer Kämpfer für die Verfassung: Legendär ist die Aussage Gottfried Sempers, nicht die nach ihm benannte Oper, sondern die Barrikaden bei den sächsischen Reichsverfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts seien seine schönsten Bauwerke gewesen. Es ist verkommen zu einem Land, in dem Demokratie- und Verfassungsfeindlichkeit offensichtlich größte Zustimmung erhält. Sachsen, einst sozialdemokratisches Mutterland, linkes Zentrum in der Weimarer Republik – zumindest in den frühen Jahren – ist nun endgültig zum Stammland rechter Regression geworden.

Wo einst stolze Kommunisten und stolze Sozialdemokraten das Land prägten, wuchert nicht erst seit heute die rechte Gegenrevolution. Doch dort, wo heute die Warnung vor "Mischvölkern" satisfaktionsfähig ist, herrschte einst religiöse Toleranz. Dort entfaltete sich Kunst, Kultur und Technik. Dort gelang es, Millionen von Fremden zu integrieren, die aus dem schon lang vom Bergbau und Manufakturwesen geprägten Königreich die erste Herzkammer der industriellen Revolution im Deutschen Reich machten. 

Euphorischer Blick in die Vergangenheit trügt

Auch bei der jüngsten Revolution der Zeitgeschichte war Sachsen zunächst stolzer Vorreiter. Mit die ersten, noch ökologisch bewegten Demonstrationen fanden dort noch im Jahr 1988 statt, bevor sich 1989 Plauen (die erste große Demonstration), Leipzig (die berühmten Montagsdemos) und Dresden (als Ort heftiger Auseinandersetzungen bei der Durchfahrt der Prager Botschaftsflüchtlinge und Ort der "Dresdner Zwanzig") in die europäische Demokratisierungsgeschichte einschrieben.

Doch der euphorische Blick auf die sächsischen Anteile der Revolution trügt womöglich schon. Es mag sein, dass in Sachsen 1989 mehr und früher demonstriert wurde als in Ostberlin. Es mag sein, dass schon im Juni 1953, beim Volksaufstand in der DDR,  die Forderungen in Niesky, Bautzen und anderswo in Sachsen radikaler waren als in anderen ostdeutschen Landstrichen. Aber ob hier Freiheits- und Toleranzideale die Feder führten oder doch ein übersteigerter, ins Gegenteil verkehrter Antikommunismus, gemischt mit einer nicht wenigen Sachsen seltsam eigenen Abwehr gegen Fremdes, Anderes, Modernes, ist ja bis heute wenig diskutiert.

So traurig der Blick in die stolze, aber eben auch schon früh brüchige sächsische Toleranz- und Demokratieerzählung, so traurig denn auch der Blick in die Gegenwart. Nicht eine national-konservative, patriotische und den Lockungen der Liberalität widerstehende sächsische CDU hat die Bundestagswahlen in Sachsen gewonnen, sondern die, ausweislich ihrer Spitzenkräfte, rechtsextrem durchwirkte AfD. Der Richter Jens Maier, der die NPD gegen Rechtsextremismusforscher in Schutz nahm, von "Mischvölkern" und "Schuldkult" schwadroniert, aber eben auch und gerade die Bundesparteivorsitzende Frauke Petry, die im Gründungsprozess der AfD der vom Verfassungsschutz beobachteten, extrem islamfeindlichen Partei Die Freiheit die heimischen und zugleich parteilichen Pforten öffnete und Björn Höckes Parteirausschmiss in früheren AfD-Zeiten bewusst hintertrieb – sie sind die neuen politischen Leitfiguren in Sachsen.

Diese traurige Wahrheit wird in künftigen Auseinandersetzungen nicht mehr zu umschiffen sein, sie darf es auch nicht. Allzu lange ist in Politik, Medien und Wissenschaft vor einer Stigmatisierung gewarnt und damit eine offene Auseinandersetzung über das sächsische Leiden verhindert worden. Allzu oft hat die schließlich immer wieder triumphierende Union mit verbalen Rechtsverschiebungen hier und der Abwehr jeder Kritik dort verhindern können, dass über die spezifische sächsische Diagnose geredet wurde musste – weil sie noch immer eine, wenn nicht die Herzkammer der CDU war. Diese Zeiten sind vorbei.

Und damit hat der erdrutschartige Wahlsieg der AfD in Sachsen, der ohne die liberale Großstadt Leipzig noch viel deutlicher gewesen wäre, auch sein Gutes. Angesichts nicht weniger kommunaler AfD-Zweitstimmenergebnisse knapp unter 50 Prozent kann nicht einmal mehr die sächsische Staatspartei CDU leugnen, dass es dort ein Problem von rechts gibt. Es sei denn, "Schuldkult" und "Mischvolk"-Ängste gelten inzwischen als demokratisch legitimierte Begriffe. Man sollte es, bei aller Vorsicht, dem Land Sachsen, meinem Sachsen, nicht durchgehen lassen.