Mitten in der Nacht steht Gertrud Patan am Neckar bei Obrigheim. Mit eigenen Augen möchte sie sehen, was sie für riskant hält – den Abtransport hochradioaktiver Brennelemente aus dem Atomkraftwerk. Erstmals in Deutschland wird strahlender Müll auf dem Fluss in ein Zwischenlager befördert. Für Anti-Atom-Aktivisten wie die 69-Jährige aus dem 25 Kilometer entfernten Schefflenz (Neckar-Odenwald-Kreis) ist dieser Transfer des gefährlichsten Abfalls unverantwortlich. Am besten, meint sie, sollten die Überreste der Kernenergie-Ära an Ort und Stelle bleiben, extrem gut gesichert gegen jegliche Form äußerlicher Einwirkungen. Eigentlich könnte Gertrud Patan ganz entspannt die Beine hochlegen, könnte zufrieden beobachten, wie in Deutschland sich das durchsetzt, was sie seit Mitte der 1970er Jahre fordert: „Atomkraft? Nein danke!“ Aber das macht sie nicht.
Die aus Altheim bei Ulm stammende Atomgegnerin hatte ihr Schlüsselerlebnis während des Studiums in Berlin. Bei Veranstaltungen hörte sie immer wieder: „Atomenergie bringt Gefahren mit sich.“ Mit einem beruflichen Wechsel schloss sich die IT-Expertin 1977 der Bürgerinitiative Umweltschutz Rhein-Neckar an. Im weißen Overall hat auch sie damals symbolische Atommüllfässer ins Industriegebiet gerollt, um zu verhindern, dass dort ein Nuk­learmeiler entsteht. „Den Widerstand musste man bildlich machen, weil die Leute überhaupt nicht wussten, dass es sich um eine gefährliche Sache handelt“, sagt Gertrud Patan.
Ihr Engagement nahm mit dem Umzug nach Schefflenz, heute 4000 Einwohner, richtig Fahrt auf. Als einzige Grüne wurde sie 1984 in den Gemeinderat gewählt. „Teilweise skeptisch, aber aufgeschlossen und nicht bösartig“, sei sie in dem Gremium aufgenommen worden. Ihre Anträge – Energieeinsparung, Abfalltrennung beispielsweise – seien mit steter Regelmäßigkeit abgelehnt worden: „Meistens habe ich allein dafür gestimmt.“ Aber immerhin seien die Themen diskutiert worden. Und bei mancher Nachsitzung im Wirtshaus habe sie zu hören bekommen, dass sie eigentlich Recht habe.
Eine gute Außenwirkung ­dürfte die Sanierung ihres Bauern­hauses aus dem 14. Jahrhundert gehabt haben. Das Anwesen, an einer historischen Römerstraße gelegen, bestückten Patan und ihr Mann Ende der 1980er Jahre mit einem Sonnenkollektor für das warme Wasser, „obwohl sich das damals nicht gerechnet hat“. Als „politische Aktion“, will Gertrud Patan die Gründung der Son­nenkollektor-Selbstbaugruppe vor gut 20 Jahren verstanden wissen. „Zum Widerstand gegen die Atom­energie hat für mich immer gehört, Alternativen zu entwickeln.“ Sie warb an Infoständen in Mosbach für regenerativen Strom, beteiligte sich an Windparks: „Ob sich das rentiert, weiß ich noch nicht“, sagt sie. Die Photovol­taikanlage auf dem Scheunendach möchte sie auf keinen Fall ­missen.
„Ich habe einen sehr glatten Lebenslauf“, meint Gertrud Patan. Nach dem Abitur am Ulmer Gymnasium St. Hildegard studierte sie zuerst in Konstanz, schloss als staatlich geprüfte Programmiererin ab. Sie zog nach Berlin, arbeitete bei AEG-Telefunken und erweiterte in der Stadt ihre Kenntnisse mit einem Informatikstudium. Seit 1982 lebt sie mit ihrem Mann in Schefflenz, „zwischen dem Madonnenländchen und einer der reizvollsten Partien des burgenreichen Neckartales“, wie Bürgermeister Rainer Houck auf der Homepage schwärmt. Ein Idyll im Naturpark Neckartal-Odenwald, mit scheinbar wenig Nährboden für lautstarken Protest.
Sachlichkeit statt Schlagzeilen
Gertrud Patan verzichtet auf spektakuläre Aktionen, die auf Schlagzeilen ausgerichtet sind. Sie kletterte nie auf Schlote, legte sich vor keinen Lastwagen. Als Mitglied der Bürgerinitiative „Atomerbe Obrigheim“ und im Vorstand des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz setzt sie auf Sachlichkeit. Sie spricht persönlich mit den Passanten. Der Zustimmung kann sie nicht sicher sein, auch wenn sie seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl und wegen Fukushima „größeres Interesse“ registriert. Auf Vorträge bereitet sie sich akribisch vor, holt Rat bei kritischen Fachleuten. Was Aufsichtsbehörde oder AKW-Betreiber verkünden, möchte sie nicht ungeprüft übernehmen. Unterstützung von Spezialisten brauchte sie auch für eine Klage vor dem Verwaltungsgerichtshof gegen den Bau eines Zwischenlagers in Obrigheim. Um die 500 Demonstrationen hat sie mitorganisiert. „Die ENBW kennt mich, Herr Untersteller kennt mich auch – er könnte zugänglicher sein für die Bedenken der Bevölkerung.“
Bei ihrem Einsatz sind die ­Bauersleute von Wyhl am Kaiserstuhl ihre Vorbilder. Sie haben 1974 ­verhindert, dass in die ­Rheinauen zwei Atomreaktoren gestellt werden, obwohl der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) gedroht hatte, dass ohne die Reaktoren das Licht ausgehe. Dort unten, in Südbaden, sei der Erfolg sichtbar: „Das ist das Schöne am Protest.“ Was sie selber, da oben in Nordbaden, erreicht hat, vermag sie nur zu vermuten: „Weniger Atomkraftwerke, damit mehr Sicherheit und weniger Störfälle.“
Der Kampf gegen Kernenergie ist Gertrud Patan so wichtig, dass sie ihre Hobbys – Lesen und Wandern – zurückstellt. Kürzlich hat sie sich mal eine Woche am Bodensee gegönnt. Rechtzeitig zum ersten Castor-Transport auf dem Neckar war sie aber wieder zurück. Der Protest sei „ein wichtiger Teil meines Lebens“, sagt sie. Denn: „Ich möchte keine verwüstete Welt hinterlassen.“

Fünf Atomreaktoren in Baden-Württemberg

In Obrigheim ging am 29. Oktober 1968 das erste kommerzielle Atomkraftwerk ans Netz. 1990 musste der Meiler mit 345 Megawatt stillgelegt werden, weil es für den Dauerbetrieb der von Gegnern als „Schrottreaktor“ bezeichneten Anlage überhaupt keine Genehmigung gab. Erst nach einjähriger Pause durfte wieder Strom produziert werden. Am 11. Mai 2005, um 7.58 Uhr, wurde das AKW abgeschaltet. Seit 2007 wird die Anlage demontiert.
Im Südwesten entstanden zudem je zwei AKW-Blöcke in Neckarwestheim (1976 und 1989) und Philippsburg (1980 und 1984). Strom liefern nur Neckarwestheim 2 und Philippsburg 2. Nach dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2011 verkündeten Atomausstieg geht spätestens am 31. Dezember 2022 Neckarwestheim 2 vom Netz. hgf