Perspektiven im Ukraine-Krieg: Unfassbare Nonchalance

Es muss mit Russland geredet werden. Wer die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete propagiert, bewegt sich auf eine nukleare Eskalation zu.

Holzkreuze stehen auf Gräbern im Wald

Anonyme Gräber von Soldaten und Zivilisten im Wald bei Izium in der Ukraine Foto: Evgeniy Maloletka/ap

Die Forderung der neun osteuropäischen Nato-Staaten, den Eilantrag des ukrainischen Präsidenten zur Aufnahme in die Nato zu unterstützen, ist mehr als eine Herausforderung für die Allianz. Nach den von Osteuropäern ausgehenden früheren Forderungen nach einer Flugverbotszone der Nato über der Ukraine und der zeitweisen litauischen Teilblockade von Transitrouten nach Kaliningrad ist diese Initiative der bisher weitreichendste Versuch, die Nato unmittelbar in den Krieg hineinzuziehen – und das mitten in ein reales nukleares Eskalationsrisiko hinein.

Würde die Bundesregierung einer Aufnahme der Ukraine in die Nato zustimmen, könnte sie sich einem Einsatz von deutschen Truppen in der Ostukraine nicht entziehen. Die Protagonisten der unsäglichen Forderung nach einem schnellen Beitritt blenden jede seriöse Folgenabschätzung aus.

Den Machteliten im System Putin ist klar, dass die erfolgreich verlaufende Selbstverteidigung der Ukraine zu einem großen Teil von der Unterstützung durch den Westen abhängt. Die operativen Fehlschläge und die hohen russischen Verluste gehen für Putin und dessen Generalstab primär auf das Konto Washingtons und der Nato-Europäer. Die wiederholten Atomdrohungen Putins müssen rational analysiert werden. Sollen sie die Europäer im Westen einschüchtern, Angst schüren, spalten? Die Antwort ist ein klares Ja. Ist Putin grundsätzlich bereit, taktische Nuklearwaffen einzusetzen? Die Antwort darauf ist ebenfalls Ja. Er besitzt die Grundbrutalität dazu, und er weiß um die geografische Größe seines Landes.

Seine konventionellen Streitkräfte sind inzwischen erheblich geschwächt. Und die Zeit läuft ihm davon. Es sind realistische Szenarien vorstellbar, in denen Putin keine andere Wahl mehr sieht und zur nuklearen Eskalation greift. Er würde die Folgen, so unkalkulierbar sie für ihn sind, in seiner ganzen Verblendung vermutlich nicht scheuen. Weder die Aussicht, als globaler Paria stigmatisiert zu werden, noch die Erwartung massiver amerikanischer konventioneller Luftschläge auf russische Fronttruppen in der Ukraine dürfte ihn beeindrucken. Letzteres würde im Übrigen die Nato zwangsläufig in den Krieg hineinziehen.

Dürfen Washington und die Bundesregierung, es so weit kommen lassen? Wie weit dürfen wir uns einer nuklearen Katastrophe nähern? Wollen wir uns wirklich herantasten an die letzten russischen roten Linien? In diesen Fragen dominiert in weiten Teilen der deutschen Politik und Medien eine unfassbare Nonchalance. Einige glauben offenbar, dass russische Atomschläge mit relativ geringer Sprengkraft in Kauf genommen werden könnten und blenden völlig aus, dass wir alle mit dem Bruch des nuklearen Tabus in eine völlig andere strategische Welt eintreten würden. Die meisten Nuklearexperten glauben nicht an eine Begrenzung eines Krieges mit Atomwaffen, wenn der zerstörerische Geist einmal aus der Flasche ist.

Es bedarf der Analyse von Ausstiegsoptionen, die zunächst einmal das Gemetzel an den Fronten stoppen

Anstatt einer dramatischen Ausweitung und Eskalation des Kriegs zuzusehen, bedarf es dringend der Analyse von Ausstiegsoptionen, die zunächst einmal das Gemetzel an den Fronten stoppen. Die dafür entscheidende Ebene ist die zwischen Moskau und Washington: Joe Biden definiert durch vielfache militärische Unterstützung den Handlungsspielraum von Ukraines Präsident Selenski. Das oft gehörte Mantra, dass nur Selenski über Verhandlungen bestimmen kann, ist nur die halbe Wahrheit: Der Schlüssel für einen Ausstieg liegt in Moskau und Washington, die offenbar über einige Kanäle weiter kommunizieren.

Mit Blick auf die wachsenden Eskalationsrisiken für Europa insgesamt und die Ukraine ohnehin kommt es jetzt auf einen rationalen Abwägungsprozess an – zwischen den Zerstörungsrisiken einer nuklearen Eskalation und den Risiken, Bedingungen und Folgen einer Einstellung der Kampfhandlungen in Verbindung mit humanitären Lösungen.

Dazu muss die Ausstiegsoption erst einmal in der verengten Debatte zugelassen und ausgeleuchtet werden: Eventuell ergibt sich in der nahen Zukunft im Zusammenhang mit der Schwäche der russischen Streitkräfte ein Fenster der Gelegenheit, das sich im Eskalationsgeschehen auch wieder schließen kann. Würde sich der Westen damit angstgetrieben der Erpressung Putins beugen? Nein, es wäre ein Akt der Vernunft, um weit Schlimmeres zu verhindern und einen erheblich geschwächten Putin, der seine Kriegsziele klein zu machen gezwungen war, hinterlassen.

Überbordende menschliche Verluste

Wer weiterhin die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete propagiert, sollte nicht verdrängen, dass er sich damit auf die nukleare Eskalation durch Moskau hinbewegt. Es ist klar, dass sowohl die ukrainische Führung als auch die osteuropäischen Staaten Ausstiegsoptionen nur schwer schlucken können. Denn Kiew würde auf unbestimmte Zeit die staatliche Kontrolle über die noch von Russland besetzten Teile ihres Territoriums verlieren – bis in einer anderen politischen Konstellation in Moskau eine Wiedervereinigung möglich ist. Aber auch Kiew muss im Blick auf seine nationalen Überlebensinteressen politisch so navigieren, dass die menschlichen Verluste und Zerstörungen nicht überborden.

Zudem besteht für die Nato und die Europäische Union aus strategischen Gründen die Notwendigkeit, die Bedingungen der europäischen Sicherheit in den kommenden fünf bis zehn Jahren in den Blick zu nehmen. Dies ist in der aktuellen Debatte noch völlig ausgeblendet: Welches Verhältnis wollen Nato und EU langfristig mit Russland anstreben? Eine koordinierte Außenpolitik im Rahmen von EU und Nato muss dringend Perspektiven entwickeln, wie wir die gefährliche strategische Instabilität in den kommenden Jahren managen wollen. Auch dafür werden heute die Weichen gestellt.

Der neue „eiserne Vorhang“ ist bereits gefallen. Deshalb ist eine halbwegs belastbare Koexistenz mit Russland in der Zukunft notwendig, um schweren Schaden von Europa abzuwenden.

Helmut W. Ganser ist ehemaliger Brigadegeneral der Bundeswehr und war stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen Ständigen Vertreters bei der Nato in Brüssel.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Brigadegeneral a. D., war im Verteidigungsministerium sowie in den deutschen Vertretungen bei der Nato und den UN mit sicherheits­politischen und rüstungs­kontroll­politischen Fragen befasst.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.