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Proteste gegen Putins Staatsmacht Russlands junge Rebellen

Alexej Nawalny ruft in 200 Städten zu neuen Protesten gegen Korruption auf. Die Moskauer Staatsmacht versucht vor allem die jungen Russen einzuschüchtern. Ein Besuch in der Provinzstadt Wladimir.

Es dauert keine drei Stunden, da klingelt es bei Michail Ogorodnikow. Eine Polizistin steht vor der Tür. Sie wolle sich mit ihm über die Kundgebung unterhalten, die er besucht habe, sagt sie. Warum Michail teilgenommen habe, will die Beamtin wissen. Wer bei ihm gewesen sei, warum er eine Rede gehalten habe. Eine Stunde dauert die Befragung des 16-Jährigen und seines Vaters. Beide müssen Protokolle unterschreiben.

Es ist der 26. März. An diesem Tag gelingt dem Oppositionellen Alexej Nawalny etwas, was kaum einer für möglich gehalten hat: Zehntausende gehen in 80 Städten, auch in den Provinzorten Russlands auf die Straße, um gegen die Korruption in ihrem Land zu demonstrieren (Über die Hintergründe und die Vorwürfe gegen Premier Dimitrij Medwedew lesen Sie hier mehr). Überraschend viele Teilnehmer sind jung, Studenten oder Schüler.

Michail lebt in Wladimir, einer Stadt mit etwa 345.000 Einwohnern, 180 Kilometer nordöstlich von Moskau entfernt. Er ist in dem Jahr geboren, in dem Wladimir Putin an die Macht kam: im Jahr 2000. Er hat an der Spitze Russlands nur Putin gesehen und es gefällt ihm nicht, was der Präsident und die Oligarchen um ihn herum aus seinem Land gemacht haben.

Michail Ogordnikow

Michail Ogordnikow

Foto: SPIEGEL ONLINE

"17 Jahre lang hat dieser Mensch mein geliebtes Land beraubt", sagt Michail bei seiner Rede auf der Kundgebung. Fotos zeigen ihn mit einem Megafon. 500 Menschen sind in der Provinzstadt Nawalnys Aufruf gefolgt, der Putin bei den Präsidentschaftswahlen im März 2018 herausfordern will.

Der Besuch der Polizistin nach der Versammlung ist nicht der einzige Versuch, Michail einzuschüchtern.

Proteste in 200 Städten angekündigt

Trotzdem wird Michail an diesem Montag wieder demonstrieren. Er scheint unerschrocken, auch wenn er weiß, dass sich manch ein Mitschüler oder Freund nicht trauen wird, auf die Straße zu gehen. Angst habe er nicht, sagt der Jugendliche bei einem Treffen im Büro des Nawalny-Stabs in der Nähe des Bahnhofs der Stadt. Er tue nichts Gesetzwidriges, er äußere nur seine Meinung.

Ausgerechnet am Montag, wenn das Land den "Tag Russlands" feiert, will Nawalny seine Proteste wiederholen - dieses Mal in etwa 200 Städten. An vielen Orten wurden dieses Mal Demonstrationsanträge genehmigt, ein Zeichen dafür, dass die Staatsmacht die Proteste nicht mehr ignorieren kann. Doch sie reagiert auf ihre Weise.

In Chabarowsk in Russland wurde der örtliche Leiter des Nawalny-Stabes festgenommen, in Nischnij Tagil im Ural genehmigten die Behörden die Demonstration 84 Kilometer weit entfernt vom geplanten Ort. Und in Moskau darf ein Treffen im Zentrum stattfinden, allerdings mit Auflagen. Am späten Sonntagabend verlegt Nawalny jedoch kurzfristig die Demonstration auf die Twerskaja-Straße - aus Ärger über die Stadt, sie habe Druck auf Firmen ausgeübt, keine hätte Bühnentechnik zur Verfügung stellen wollen.

Auf der Twerskaja-Straße waren im März über tausend Menschen bei nicht genehmigten Protesten festgenommen worden, auch Nawalny. Noch in der Nacht warnt die Staatsanwaltschaft, die Polizei werde am Montag "Maßnahmen" ergreifen.

"Die wollen uns verstecken"

Der Theaterplatz

Der Theaterplatz

Foto: SPIEGEL ONLINE

In Wladimir wollen sich Michail und die anderen auf dem Theaterplatz im Zentrum versammeln. Doch die Stadt hat die Kundgebung in einem Park, 15 Minuten mit dem Auto entfernt, genehmigt. "Die wollen uns verstecken", sagt Organisator Kirill Nikolenko vom Nawalny-Stab. "Wir gehen trotzdem auf den Theaterplatz." Unter dem Bescheid fehle die Unterschrift, der sei nicht rechtkräftig.

Bei den Behörden sieht man das anders. Dort verweist man zudem auf "lange geplante" Veranstaltungen auf dem Platz. "Wir begrüßen, dass die Jugendlichen für ihre bürgerliche Position einstehen, nur an diesem Tag geht es dort nicht", sagt ein Sprecher.

Nawalny und seine Anhänger werden diskreditiert

Michail hat erlebt, was es heißt, für die bürgerliche Position einzustehen. Sein Vater ist in der Kommunistischen Partei. Die mache zu wenig, um die Lage im Land zu ändern, findet er. Nawalny aber versuche es. "Und er gibt nie auf", sagt Michail. Auch nicht, als im März bei einem Angriff mit grüner Flüssigkeit Nawalnys rechtes Auge verletzt wird. Gegen den Täter, der gefilmt wurde, wurde nicht ermittelt.

Alexej Nawalny nach dem Farbangriff

Alexej Nawalny nach dem Farbangriff

Foto: Evgeny Feldman / dpa

Ein Besuch bei der anderen Seite: Der Vorsitzende der Wladimirer Regionalversammlung, Wladimir Kisseljow erklärt, Michail habe ja keine Ahnung, was im Land vor sich gegangen sei, als er geboren wurde - eine Anspielung auf die chaotischen Zustände in den Neunzigerjahren. Kisseljow macht dafür Mängel in der Erziehung verantwortlich - in der Schule und in der Familie. Nur: Michail ist ein Einser-Schüler, einer der besten in der Schule Nr. 36. Und er will keine Stabilität um den Preis, dass sein Land korrupt und unfrei ist, wirtschaftlich schlecht da steht.

Solche Kritik ist unerwünscht. Die Staatsmacht versucht deshalb den Spagat: Zum einen demonstriert sie Nähe zur Jugend, kürzlich durfte eine 19-Jährige Videobloggerin in der Staatsduma sprechen; zum anderen wird versucht, Nawalny und seine Anhänger schlecht zu reden. In Musikclips wird den Jungen geraten, sich von Protesten fernzuhalten: "Lass die Finger von Politik, Kleiner, geh lieber Mathe lernen", fordert etwa eine Sängerin (Lesen Sie hier mehr). "Lächerlich" nennt Michail solche Versuche. "Das zeigt, wie weit sich die Staatsmacht von uns entfernt hat."

Aber auch Schulen und Universitäten werden eingespannt, wie das Beispiel Wladimir zeigt:

  • An der Staatlichen Universität wird Studenten ein Film  gezeigt, der den Oppositionellen in eine Reihe mit Hitler stellt.
  • An der Schule Nr. 15 rügt die stellvertretende Direktorin all jene, die bei der Demonstration im März dabei waren, und droht damit, deren Eltern zur Verantwortung zu ziehen, ihnen die Kinder wegnehmen zu lassen. Die Proteste von Nawalny nennt sie "extremistische Tätigkeiten".

Schüler werden zu Einzelgesprächen geladen. Auch Michail muss zu so einem Gespräch: Er sitzt vier Lehrern gegenüber. 40 Minuten lang. Sie wollen mit ihm offenbar über Korruption reden. Konkret werden sie aber nicht, sagt Michail. So richtig mag er über die Unterhaltung nicht reden.

Gespräch mit dem Direktor veröffentlicht

Danil Beljakow

Danil Beljakow

Foto: SPIEGEL ONLINE

Danil Beljakow, 16 Jahre, geht in die Schule Nr. 39. Auch er unterstützt Nawalny.

Danil hat seine Unterhaltung mit dem Direktor aufgezeichnet und veröffentlicht. Es sind wirre Minuten. Im Gespräch geht es um die Uhr von Putins Sprecher und die Monarchie in Russland, die der Pädadoge wieder haben will - der Dialog lässt den Lehrer nicht gut aussehen.

Angst habe er schon, sagt Danil, die gehöre in Russland zum Leben dazu. "Sie wollen uns ihre Meinung aufzwingen. Sie verstehen nicht, dass Menschen Freiheiten und Rechte haben."

Mitarbeit: Tatiana Sutkovaya