"Ihr helft mir, indem ihr mir zuhört" – Seite 1

Margot Friedländer wird bald 102 Jahre alt. Das Herz will nicht mehr so, und im Sommer sind ein paar Rippen gebrochen, sie ist beim Wäscheaufhängen gestürzt, ihre Knochen heilen noch immer. Jetzt setzt sich Friedländer in ihrer kleinen Wohnung in einer Berliner Seniorenresidenz aufs Sofa, um sie herum Erinnerungen an ihr Leben: Bücher aus ihren Jahren in New York, Bilder von Freunden, von ihrem verstorbenen Mann, Stapel von Unterlagen auf allen Tischen und Stühlen. Mittendrin liegt ihre getigerte Katze.

Wenn man bedenke, wie alt sie sei, gehe es ihr ganz gut, sagt sie. Nur gerade könne sie wegen ihres Sturzes nicht so viel machen. "Sehen Sie. Sogar mein Kostüm musste ich umarbeiten, so viel Gewicht habe ich verloren."

Friedländer war schon immer klein, keine 1,60. Nun ist sie auch noch schmal. Aber sie hat nicht vor, zu verschwinden. Als eine der letzten Holocaustüberlebenden ist das, was sie zu erzählen hat, gerade aktueller denn je. Dreimal treffen wir sie für dieses Gespräch. Das letzte Treffen findet Mitte Oktober statt, zwei Wochen nach den Morden der Hamas.

DIE ZEIT: Frau Friedländer, als Sie gehört haben, dass mehr als 1.400 Juden von der Hamas in Israel ermordet worden sind, was waren Ihre ersten Gedanken?

Margot Friedländer: Ich konnte es nicht glauben, dass so etwas nach dem Holocaust noch einmal geschieht. Diese Bitterkeit, die darin zum Ausdruck kommt. Dieser Hass. Ich fürchte, hier sehen wir, wie schnell Menschen beeinflusst werden können. For right or wrong. Und das ist, was ich immer predige. Seid vorsichtig. Wenn ihr Menschen seid, dann macht ihr so etwas nicht. Menschen würden das nicht tun.

ZEIT: Wie haben Sie von den Terroranschlägen erfahren?

Friedländer: Das geschieht doch heute binnen Minuten. Ich hatte Besuch, und mein Besuch bekam eine Nachricht von ihrem Vater, kurz nachdem es passiert war. Auch die Grausamkeit hat sich sehr schnell herumgesprochen.

ZEIT: Der Schriftsteller und jüdische Intellektuelle Maxim Biller schrieb in der ZEIT, das sei ein Pogrom gewesen. Der israelische Ministerpräsident sagt, die Hamas-Terroristen seien die neuen Nazis.

Friedländer: Wir brauchen andere Begriffe. Es ist nicht dasselbe.

ZEIT: Vielleicht ist es der Versuch, den absoluten Vernichtungswillen zu beschreiben, der in den Morden zum Ausdruck kam.

Friedländer: Sicher. Und trotzdem leben wir in anderen Zeiten.

ZEIT: Welche Empfindungen haben die Ereignisse bei Ihnen wachgerufen?

Friedländer: Der Holocaust und meine Erlebnisse sind mir immer präsent. Ich werde die Sache nicht los, als ob es gestern wäre. Und natürlich sehe ich nach diesen Morden die Bilder von damals wieder vor mir.

Ein Leben lang aufgehoben © Paulina Hildesheim für DIE ZEIT

ZEIT: Wie denken Sie angesichts dessen über die manchmal gewalttätigen Demonstranten in Berlin, die sich mit den Palästinensern oder auch mit der Hamas solidarisieren?

Friedländer: Ich versuche es zu ignorieren.

ZEIT: Gelingt das?

Friedländer: Natürlich nicht. Es ist einfach traurig. Und bestürzend. Die Hamas ist schlecht zu den Palästinensern in Gaza. Sie respektieren ihre eigenen Leute nicht. Denn sie nehmen die als Schutz für sich. Das ist doch nicht menschlich. Und es ist feige.

"Respekt vor anderen ist unverzichtbar"

ZEIT: Nach diesen Wochen müssen wir festhalten: Viele arabischstämmige Deutsche verdammen den Terror. Aber zugleich haben wir auf den Straßen arabischstämmige Antisemiten gesehen. Wir stellen fest, dass wir viele Flüchtlinge aufgenommen haben, die antisemitische Einstellungen haben.

Friedländer: Haben wir das verdient? Nein. Ist es richtig, dass wir nicht stärker darauf reagieren? Ich weiß es nicht. Vielleicht sind wir zu freundlich.

ZEIT: Was ist aus Ihrer Sicht das Mindeste?

Friedländer: Ich sage immer: Ihr braucht andere Menschen nicht zu lieben. Aber Respekt vor anderen ist unverzichtbar.

Margot Friedländers Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Ihr Bruder. Verwandte. Viele Freunde. Friedländer selbst tauchte 1943 im Alter von 21 Jahren unter, ließ sich die Nase operieren, färbte sich die Haare und hängte sich ein Kreuz um den Hals, um sich äußerlich so weit wie möglich zu "arisieren". Trotzdem wurde sie am Ende entdeckt und im Frühjahr 1944 ins Konzentrationslager Theresienstadt gesteckt. Nach dem Kriegsende kam sie frei und wanderte in die USA aus. In New York arbeitete sie als Änderungsschneiderin und in einem Reisebüro. Gelegentlich mischen sich noch englische Wörter in ihre Antworten.

Als eine von ganz wenigen kehrte Friedländer dann, da war sie schon 88 Jahre alt, nach Berlin zurück, zunächst für ein paar Tage, um schließlich zu entscheiden: Ich bleibe. Ich gehe zurück nach Deutschland. Das war im Jahr 2010. Seither gilt sie vielen als lebender Beweis dafür, dass die deutsche Erinnerungspolitik der vergangenen Jahrzehnte etwas erreicht hat. Wenn Überlebende wie sie zurück ins Land der Täter ziehen. 

Ihre Mutter starb im KZ, von ihr ist die Kette © Paulina Hildesheim für DIE ZEIT

ZEIT: Haben Sie den Eindruck, dass sich das jüdische Leben in Deutschland nun für eine Weile zurückzieht? Dass Juden vorsichtiger sein werden?

Friedländer: Ich fürchte, nicht nur für eine Weile. Es gibt weiterhin Menschen, die in uns keine normalen Menschen, sondern ein Zerrbild sehen. Mir ist das unverständlich. Sehen Sie, wenn wir auf die Welt kommen, ob wir nun von einer jüdischen Mutter in Israel geboren werden oder von einer Japanerin in Tokio, beide haben ihr Kind neun Monate lang genährt. Den heranwachsenden Kindern war es egal, ob die Mutter koscher gegessen hat oder nicht. Am Ende kommt ein Mensch auf die Welt. Ein Miracle mit zwei Armen und Beinen, ganz egal, welcher Kultur oder Religion die Mutter angehört hat. Wir sind alle gleich.

ZEIT: Viele Juden in der Welt hatten das Gefühl: "Wenn es dort, wo wir leben, einmal gefährlich werden sollte, dann haben wir einen sicheren Ort, an den wir gehen können, anders als in den Jahrhunderten zuvor: Wir können nach Israel auswandern." Haben Sie diese Vorstellung geteilt? Und ist sie nun zerstört?

Friedländer: Ich sehe das etwas anders. Ich bin Deutsche und Jüdin. Ich finde es gut, wenn wir integriert sind, wo wir geboren wurden. Insofern ist für mich persönlich die Möglichkeit nicht so entscheidend, dass es Israel als sicheren Ort gibt. Ich lebe in Berlin. Hier habe ich meine Freunde. Aber das ist meine persönliche, sehr einfache Sicht der Dinge.

ZEIT: Sie haben nie Angst?

Friedländer: Doch. Ich habe gelegentlich Angst. Ich möchte mich auch aus der politischen Debatte raushalten, nicht so exponieren. Ich habe etwas angefangen bei meiner Rückkehr nach Deutschland mit meinen Lesungen und Diskussionen mit jungen Leuten. Und das möchte ich fortsetzen.

Friedländer sprach in Schulen über ihre Flucht vor den Nazis und ihre Gefangenschaft im Konzentrationslager, und aus ersten Terminen wurden Hunderte, alle mit Kugelschreiber oder Bleistift in Kalendern festgehalten. Die Kalender füllen bei ihr eine ganze Schublade.

"Ich spreche darüber, was menschlich ist"

ZEIT: Wann haben Sie das bisher letzte Mal eine Schule besucht?

Friedländer: Noch im Frühjahr. Es waren 200 Schüler da. Two hundred.

ZEIT: Wieso setzen Sie sich nicht zur Ruhe?

Margot Friedländer an ihrem Computer © Paulina Hildesheim für DIE ZEIT

Friedländer: Ich tue das für euch.

ZEIT: Es ist so viel gesagt, geschrieben und gesendet worden über den Holocaust. Wie begegnen Sie den Schülerinnen und Schülern heute?

Friedländer: Ich erzähle nie viel vom Lager, das können sie überall nachlesen. Ich spreche darüber, was menschlich ist. Und was ich hoffe. Deshalb erzähle ich von meinem normalen Leben als Jugendliche, bis alles geplatzt ist. Wir hatten damals keine Chance. Und genau das ist es, was ich den Kindern heute sage: Was war, war. Das können wir nicht ändern. Aber es darf nie wieder passieren. Ich möchte, dass ihr vernünftig seid. Ich möchte, dass ihr Menschen seid, die andere Menschen respektieren. Deshalb versuche ich nicht, weiterzugeben, was wir erlebt haben, sondern die Gefühle der Menschen von damals den Schülern näherzubringen. Ich sage, mein Bruder war 17, brillant, ein außergewöhnlicher Schüler. Er hatte nicht die Chancen, die ihr habt. Schmeißt es nicht weg.

ZEIT: Sind Sie denn gar nicht bitter?

Friedländer: Ich käme nicht weiter, wenn ich bitter wäre. Ich hasse auch nicht. Es liegt daran, glaube ich, dass mir Deutsche geholfen haben, mich versteckt haben, etwas getan haben, was sie ihren Kopf hätte kosten können. Das war etwas. Zugleich ist wahr: Ich habe alles verloren. Die geliebte Mutter. Den Bruder. (Sie ringt kurz um Fassung.) Aber was hilft es mir, wenn ich verzweifle. Ich kann die Leute nicht mehr greifen, die das getan haben, genauso wenig diejenigen, die weggeguckt haben und die ich mindestens genauso schlimm finde. Nur, wie könnte ich ein ganzes Volk verurteilen?

ZEIT: Sehr viele Holocaustüberlebende wollten – oder konnten – nicht darüber sprechen, was ihnen widerfahren ist. Sie tun es. Wie kam es dazu?

Friedländer: Nach dem Tod meines Mannes Ende der 1990er-Jahre, ich lebte damals noch in New York, habe ich an mehreren Memory-Writing-Kursen teilgenommen. Nach ein paar Stunden dachte ich: Es war schön, was die anderen Damen als Autobiografien geschrieben hatten, aber banal. Es war banal, gemessen an dem, was wir erlebt hatten. Also habe ich meine erste Geschichte geschrieben. Aber das ging nur in der Nacht. Ich kann die Tiefe der Gefühle nur nachts finden. Am Tage sind sie verschwommen. Da ist so viel Lärm. Und so ist schließlich mein Buch Versuche, dein Leben zu machen entstanden, das 2008 erschienen ist.

ZEIT: Sie nehmen die Leser darin mit in Ihre Kindheit, Sie erzählen vom Untertauchen und von der Haft im Konzentrationslager – und blicken beeindruckend ruhig, ohne anzuklagen, auf das Leid, das Ihnen widerfahren ist, und auf die Täter. Was hat das Schreiben Ihnen gegeben?

Friedländer: Dadurch, dass ich es kann, habe ich es nicht auf dem Herzen. Und ihr helft mir, indem ihr mir zuhört.

ZEIT: Über das Buch kamen also die ersten Einladungen in Schulen zustande?

Friedländer: So ist es gewesen.

ZEIT: Haben sich eigentlich über die Jahre die Fragen in den Schulen verändert? Hat sich das Wissen um den Holocaust verändert?

Friedländer: Diejenigen, mit denen ich zu tun habe, verabscheuen das, was war.

ZEIT: Begegnet Ihnen in den Schulklassen inzwischen gelegentlich auch ein neuer Antisemitismus?

Friedländer: Dieses Phänomen existiert. Aber mir gegenüber wird so etwas nicht direkt geäußert.

ZEIT: Wann, glauben Sie, könnten Sie sagen: Ich war erfolgreich?

Friedländer: Ich sehe auf die Dankesschreiben, die ich bekommen habe. Ich habe viele Schülerinnen und Schüler kennengelernt, die sich mit meinem Standpunkt ernsthaft auseinandergesetzt haben. So versuche ich die nachkommende Generation noch ein wenig zu schmieden, wie ich es möchte. Wenn ich in einer Schulklasse bin und zum Ende komme, mein Buch zuschlage, dann sage ich immer: Ihr werdet euch wundern, dass ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen, um euch die Hand zu reichen. Damit ihr die Zeitzeugen sein könnt, die wir nicht mehr lange sein können.

"Für mich ist das auch heute noch unvorstellbar"

Und ohne sie? Was bleibt, wenn die Täter fast alle tot sind, die Mitläufer – und auch die Opfer? Wer erreicht die Schüler dann noch, insbesondere die Kinder von Einwanderern, die keinen familiären Bezug zum Holocaust haben, aber als Deutsche genauso empfindlich auf Antisemitismus reagieren sollen wie die Nachfahren der Täter?

Friedländer weist auf eine prall gefüllte Tüte, die im Durchgang zum nächsten Zimmer steht. Sie ist voller Danksagungen. Auf der Sofalehne und einem Sessel sind mehrere Dutzend Stofftiere aufgereiht, Geschenke von Schülerinnen und Schülern. Einige von ihnen sollen im kommenden Jahr im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt werden, als Teil einer Ausstellung über die Erinnerung an den Holocaust.

ZEIT: Sind Sie in den vergangenen Jahren eigentlich auch führenden AfD-Politikern begegnet?

Friedländer: Ich bin zu mehreren Empfängen des Bundespräsidenten eingeladen gewesen, wo auch der Co-Parteichef Tino Chrupalla von der AfD war. Aber er ist noch nicht auf mich zugekommen.

ZEIT: Lassen Sie an sich ran, wie groß die AfD geworden ist?

Friedländer: Das weiß ich und verfolge es. Was suchen diese AfD-Wähler? Es geht ihnen zu gut!

ZEIT: Eine wichtige Strömung in der AfD ist aber nicht nur unzufrieden, sondern offen rechtsradikal.

Friedländer: Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas wieder möglich sein wird. Sehen Sie: Für mich ist auch heute noch unvorstellbar, wie es möglich war, dass zwölf Menschen dagesessen und etwas beschlossen haben – und wie viele andere diesen Plan dann ausgeführt haben.

ZEIT: Sie meinen die Wannseekonferenz im Jahr 1942 und deren Beschluss zur Vernichtung der Juden in Europa?

Friedländer: Genau. Wenn man sich mal überlegt, in welchem Maße das gemacht wurde. Nicht Hunderte wurden ermordet. Nicht Tausende. Sondern Millionen. Und es sind ja nicht nur sechs Millionen Juden ermordet worden.

Julia Anna Grob als die junge Margot Friedländer in "Ich bin! Margot Friedländer" © Hardy Brackmann

Friedländer hat einiges versucht, um ihre Geschichte für die nachkommenden Generationen zu bewahren. Sie fing mit ihrem Buch an, das inzwischen die 14. Auflage erreicht hat. Später wurde sie von der Filmhochschule Babelsberg interviewt, die aus den Aufnahmen ein Hologramm von ihr erschaffen wollte, das auch in 100 Jahren noch auf Fragen antworten kann. Und jetzt hat Marc Lepetit mit seiner Produktionsfirma Ufa Documentary ihr Leben verfilmt. Am 5. November wird Margot Friedländer 102 Jahre alt. Am 7. November läuft der Film im ZDF.

ZEIT: Ich bin! Margot Friedländer mischt filmische und dokumentarische Szenen. Es ist der Versuch, so viel Wahrheit wie möglich mit so viel Kino wie möglich zu verbinden: Iris Berben spielt mit, Charly Hübner, Herbert Knaup sowie Axel Prahl, und Julia Anna Grob verkörpert Ihr junges Ich. Kommt dieser Film angesichts der Ereignisse in Israel und im Gazastreifen gerade richtig?

Friedländer: I don’t know. Ich bin doch nichts Besonderes.

ZEIT: Wie hat der Regisseur Raymond Ley sich mit Ihnen auf diesen Film vorbereitet?

Friedländer: Ich habe ihm mindestens neun Interviews gegeben.

"Es ist nicht mit den Fakten getan"

ZEIT: Der Regisseur hat Sie gelöchert und genervt?

Friedländer: (Sie nickt, lacht – und seufzt.) Aber wie der Film über meine Zeit im Untergrund erzählt, das ist gut. Es wird einige Menschen ein bisschen aufrütteln, hoffe ich.

ZEIT: Wie so viele Autoren hofften Sie, der Film würde sich enger an das Buch halten?

Ilona Schulz als Margot Friedländer der Gegenwart im Dokudrama © Hardy Brackmann

Friedländer: Der Film hat es geschafft, Bilder zu erzeugen, so wie es war. Und darauf kommt es an: dass er die Tiefe der Gefühle zeigen kann. Ich denke an den Moment, in dem meine Mutter und mein Bruder in Auschwitz getrennt wurden.

Sie nimmt ein zerlesenes Exemplar ihrer Autobiografie, das nur noch vom Einband zusammengehalten wird. Es ist voller bunter Klebezettel, auf den Seiten sind Sätze und Passagen für den Vortrag angestrichen. Dann liest sie mit brüchiger Stimme die ersten Seiten. Wie oft hat sie diese Stelle wohl gelesen, tausendmal? Friedländer braucht nur wenige Sätze, bis sie sich wieder auf den Text, auf den damaligen Moment eingelassen hat: "Wie unvorstellbar muss der Schmerz meines Bruders und meiner Mutter gewesen sein, als sie wenige Minuten nach Ankunft in Auschwitz auseinandergerissen wurden. Gab es noch eine letzte Umarmung, einen letzten Blick aus der Ferne? Wie viel Zeit blieb meiner Mutter? Haben sie gewusst, dass sie einander nicht wiedersehen? Dass das Opfer der Mutter, mit ihrem Sohn zu gehen, umsonst gewesen war?" Sie klappt das Buch wieder zu.

Wie sie sich als Jüdin in Berlin versteckt hielt: Davon erzählt dieses Buch. © Paulina Hildesheim für DIE ZEIT

Friedländer: Stellen Sie sich das einmal vor. Dazu die Ungewissheit für meine Mutter, was aus mir geworden ist. Ich bin doch auch ihr Kind gewesen. Diese Gedanken verlassen mich nie.

ZEIT: Ihre Mutter hinterließ Ihnen eine Handtasche, eine Kette und ließ Ihnen über eine Nachbarin einen Satz ausrichten: "Versuche, dein Leben zu machen." Es wurde später der Titel Ihres Buches.

Friedländer: Mein Schuldgefühl, überlebt zu haben, ist immer bei mir.

Margot Friedländer holt eine Urkunde von ihrem Schreibtisch. Es ist die Gründungsurkunde ihrer Stiftung. Sie wurde am 2. Juli 2023 in Berlin eingetragen. Chefin ist die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters, im Vorstand sitzen außerdem Joachim Gauck, der ehemalige Bundespräsident, und Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Springer-Verlags. Monika Grütters will Veranstaltungen organisieren, neue Formate schaffen, Videomaterial, Tonaufnahmen über Friedländer sammeln. Sie sagt: "Alles, was wir uns erarbeitet haben über 70 Jahre an politischer Kultur, Haltung, Erinnerung, das ist in einer Weise unter Druck, wie ich es mir vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können."

Die Erinnerung an den Holocaust und der Umgang damit sind seit dem Zweiten Weltkrieg ein entscheidender Charakter- und Wesenstest für die deutsche Gesellschaft. Es gilt ihn, aus Grütters’ Sicht, neu zu bestehen – unter schlechteren Voraussetzungen.

Friedländer: Ich bin glücklich, dass Menschen meine Arbeit weiterführen wollen, wenn ich nicht mehr da bin. Die Stiftung soll sich im Übrigen nicht nur an Schülerinnen und Schüler wenden, sondern auch an deren Eltern. Ich habe kürzlich wieder eine Lesung vor Erwachsenen gemacht. Wie wenig die gewusst haben! Schon, dass viele umgekommen sind. Aber keinerlei Details!

ZEIT: Was wollen Sie mit der Stiftung erreichen?

Friedländer: Wenn ich nicht mehr da bin, müsst ihr versuchen, ein Gefühl dafür zu erzeugen, was uns Überlebende bewegt hat, was die Opfer von damals gefühlt haben müssen. Es ist nicht mit den Fakten getan. Die nächste Generation muss ein Gefühl dafür bekommen. Das ist es doch nur. Nur das. Ich kann es nicht erzwingen. Ich hoffe, dass die nachfolgende Generation andere Menschen respektiert. Denn genau das ist damals nicht geschehen – und genau das ist gerade in Israel wieder nicht geschehen. Aber wir sind alle gleich. Wir kommen auf dieselbe Weise auf die Welt. So war es immer, und so wird es immer sein.

Das ZDF zeigt das Dokudrama "Ich bin! Margot Friedländer" des Regisseurs Raymond Ley am 7. November um 20.15 Uhr. In der Mediathek ist es schon ab dem Nachmittag des 2. November zu sehen.