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Wissenschaft Netzwerkspezialist

Ein Superorganismus von schleimiger Intelligenz

Der Schleimpilzkörper ist weich und leicht verletzlich. Das macht dem Organismus aber nichts, er ist dagegen gut präpariert Der Schleimpilzkörper ist weich und leicht verletzlich. Das macht dem Organismus aber nichts, er ist dagegen gut präpariert
Der gelbe Schleimpilz geht extrem effizient vor, wenn er sich ausbreitet
Quelle: Getty Images GEtty
Schleimpilze lösen Probleme, die ursprünglich zum Nachweis künstlicher Intelligenz entwickelt wurden. Doch als Einzeller dürften sie die dazu nötigen Eigenschaften eigentlich gar nicht besitzen.

Ein gelber Schleim-Blob markiert Tokyo. Um ihn herum: Haferflocken, die genau die Position von Nachbarstädten der Millionenmetropole wiedergeben. So sah der Versuchsaufbau aus, mit dem japanische und britische Forscher ihre Frage beantworten wollten: Können Schleimpilze komplexe Systeme errichten? Und wie effizient sind sie dabei?

Zwei Tage dauerte es, dann hatte sich vom Zentrum aus ein feines Aderwerk gebildet, das nun den Blob mit Nährstoffen aus den Haferflocken versorgte. Das Netzwerk war alles andere als willkürlich: Verblüfft stellten die Forscher fest, dass der primitive Organismus mit seinen neugebildeten Ärmchen ziemlich genau das Schienennetz rund um Tokyo wiedergegeben hatte. Zwar konnte der Schleimpilz weder Gebirge noch Einwohnerzahlen berücksichtigen, doch schien seine Lösung in Teilen sogar effizienter zu sein als die existierenden Versorgungstrassen. Doch während der Organismus genüsslich seine Haferflocken verdaute, grübelten die Forscher: Wie war es möglich, dass ein Einzeller eine komplexe Aufgabe innerhalb von zwei Tagen lösen konnte, für die Menschen mehrere Jahrzehnte gebraucht hatten?

Schleimpilze gehören zu den faszinierendsten und zugleich rätselhaftesten Lebewesen, die die Evolution hervorgebracht hat. Sie umfassen mehr als 1000 Arten, die in allen Farben und Formen vorkommen. Dennoch bleiben sie meist unbemerkt. Von mikroskopisch klein bis Quadratmeter groß halten sie sich überall dort auf, wo es feucht ist und genug Nahrung vorhanden. Oftmals ist das der Waldboden, wo Spaziergänger die schleimigen Häuflein manchmal fälschlich für Erbrochenes von Waldbewohnern halten. Schleimpilze sind weder Tiere noch Pflanzen und auch kein Pilze, obwohl sie nach ihnen benannt wurden. Stattdessen besitzen sie Eigenschaften aus allen drei Gruppen – und eine ihnen eigene Form von Intelligenz, die sich unter anderem dann zeigt, wenn es um das Errichten von effizienten und stabilen Netzwerken geht.

„Er riecht nach eingeschlafenen Füßen“

Vertreter der „Echten Schleimpilze“ bestehen nur aus einer einzigen Zelle. Zu ihnen gehört auch der gelbe Blob, der 2010 das Schienennetz im Umland Tokyos nachgebildet hat. Physarum polycephalum ist sein Name. Zum Überleben benötigt er nur einen feuchten, dunklen Ort und Haferflocken. Ein bis zwei Zentimeter legt er pro Stunde zurück, was sich in Zeitrafferaufnahmen eindrücklich zeigt. Bereits 2000 hatte ein Test mit ihm für Aufsehen gesorgt. Damals hatten ihn Forscher um den Japaner Toshiyuki Nakagaki gleichmäßig über ein Labyrinth verteilt, das an zwei Enden mit Haferflocken bestückt war.

RED RASBERRY SLIME MOLD. TUBIFERA FERRUGINOSA. EARLY SPORANGIA. DELAWARE COUNTY. COLORADO. 1X MAG.
Es gibt mehr 1000 Arten von Schleimpilzen, dabei entstehen die unterschiedlichsten Formen und Farben
Quelle: Getty Images GEtty

Innerhalb von wenigen Stunden hatte der Schleimpilz die komplette Fläche ausgefüllt, sich dann aus Sackgassen und Umwegen zurückgezogen und die neue Versorgungsader verdickt. Diese bildete zugleich den kürzesten Weg durch das Labyrinth. Für seine Arbeit wurden Nakagaki und seine Kollegen 2008 mit dem Ig-Nobelpreis ausgezeichnet – ein Gegenstück zum Nobelpreis, das Werke prämiert, die „erst zum Lachen, dann zum Nachdenken anregen.“

Heute wird die Arbeit mit Schleimpilzen dagegen weniger belächelt. In den letzten Jahren hat die Forschung Fahrt aufgenommen, 2015 präsentierte ein internationales Team zum ersten Mal das komplette Genom von Physarum polycephalum. Im Labor dient er als Stellvertreter für alle Schleimpilze und hilft dort, die Intelligenz der rätselhaften Einzeller zu ergründen – und eines Tages nutzbar zu machen. Darauf hofft auch Chris Reid, der an der Macquarie University im australischen Sydney mit dem gelben Schleimpilz forscht. „Er riecht ein bisschen nach eingeschlafenen Füßen“, erklärt der Biologe, „nicht wirklich angenehm, aber auch nicht stark. Der Körper ist sehr weich, wenn man ihn berührt, verletzt man ihn schnell.“

Schnelles Pulsieren bedeutet: Nahrung

Doch das schadet dem Organismus nicht. Selbst wenn man ihn in Stücke teilen würde, wäre jedes davon selbstständig überlebensfähig. Denn in seinem Inneren sind die Bestandteile jeder Zelle tausendfach vorhanden, auch Zellkerne – die jedoch keine Steuerungsfunktion haben. „Jeder Teil des Schleimpilzes reagiert auf sein eigenes lokales Umfeld und auf das Verhalten der benachbarten Teile“, sagt Reid, „die Kombination aus beiden Informationsquellen führt zu einer Form von Intelligenz.“

Es sind nicht die Zellkerne, die miteinander kommunizieren. „Wir glauben, dass pulsierende Schwingungen der Zelle den Austausch von Informationen herstellen“, sagt Reid, „schaut man sich einen einzelnen Arm unter dem Mikroskop an, sieht man, wie die Flüssigkeit darin vor- und zurückfließt, so schnell wie nirgendwo sonst im Tierreich.“

Hierbei handelt es sich um die Gelbe Lohblüte, auch Hexenbutter genannt
Lecker Schleimpilz: Die Gelbe Lohblüte oder Hexenbutter gilt in Mexiko gebraten oder gegrillt als Delikatesse
Quelle: UIG via Getty Images GEtty

Wenn der Schleimpilz nun auf Nahrung stößt, pulsiert er an dieser Stelle schneller. Trifft er dagegen auf Salz oder auf helles Licht, werden die Pulse an dieser Stelle langsamer. Dabei verfestigt sich die betroffene Schleimpilz-Region und der Körper streckt sich in diese Richtung nicht weiter aus. Durch die Membran, die den Schleimpilz umgibt, werden die Pulse an umliegende Bereiche weitergegeben, wodurch diese wiederum Informationen erhalten und ihr Verhalten anpassen. Der Schleimpilz ist ein dezentrales, selbstorganisiertes System. Genau wie das menschliche Gehirn, das sämtliche sensorischen Reize sammelt und verarbeitet, bevor es eine Handlung einleitet.

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Wie ein kleiner Denkapparat bewegt er sich so durch seine Umwelt, bemisst die Qualität seiner Umgebung und trifft Entscheidungen über die günstigste Richtung zur Futtersuche. „Genau so werden auch in Schwärmen Informationen übertragen“, sagt Reid. Jedes Individuum eines Schwarms handelt eigennützig und hängt zugleich von seinem Nachbarn ab. Gemeinsam ist ihr Verhalten jedoch hochkoordiniert. Reid hat deshalb noch ein anderes, ganz ähnliches Studienobjekt: Ameisen. Bei ihnen entscheidet die Kolonie kollektiv, wie sie ihr Überleben am besten sichert. Bei Schleimpilzen ist es dagegen ein einzelnes Individuum, dessen verschiedene Teile eigene Informationen erhalten und mit dem restlichen Organismus interagieren – alles passiert in einer einzigen Zelle. „Schleimpilze treffen Entscheidungen, nur eben ohne Hirn“, sagt Reid, „sie sind einfach komplett fremdartig und verhalten sich auf eine Weise, zu der sie eigentlich nicht fähig sein sollten.“

Kann sich ein Schleimpilz erinnern?

insgesamt raffiniertes Verhalten hervor. Zusätzlich besitzen Schleimpilze offenbar so etwas wie ein Gedächtnis: Bewegt sich Physarum polycephalum von einer Stelle weg, bleibt dort ein schleimiger Film zurück. Er enthält offenbar Stoffe, die der Schleimpilz erkennen kann. So „weiß“ er, welche Orte er bereits besucht hat. Reid hat diese Eigenschaft 2012 mit einem Experiment überprüft, das normalerweise genutzt wird, um die Navigationsfähigkeit von Robotern zu testen. Er ließ den Schleimpilz in die obere Öffnung einer U-förmigen Barriere wandern, hinter deren Querbalken Haferflocken lagen. Der Schleimpilz war zunächst in dem U durch die Begrenzungen auf beiden Seiten gefangen, konnte sich jedoch durch seine Hinterlassenschaften „erinnern“, welche Wege er bereits genommen hatte und letztlich sein Ziel erreichen.

Demnächst will Reid einen Versuch durchführen, der ebenfalls die Fähigkeit zur Bildung von Netzwerken testet. Ähnlich wie bei dem Experiment mit dem Tokyoter Schienennetz lässt Reid Physarum polycephalum ein Versorgungsnetzwerk bauen. „Dann trennen wir die wichtigsten Verbindungen und schauen, wie er sich verhält“, sagt der Forscher. Wird der Schleimpilz das vorhandene Netz verstärken oder wird er mehr Redundanzen zu den getrennten Verbindungen aufbauen? Netzwerke, die von Menschen gebaut wurden, sind zwar effizient, aber nur so lange, wie keine wichtigen Verbindungen getrennt werden. Bei der Bildung von natürlichen Netzwerken wie bei Schleimpilzen, Ameisenkolonien oder Blutgefäßen ist es immer eine Abwägung beider Faktoren: Effizienz und zugleich der Schutz vor Zerstörung durch Redundanzen.

Für das Verhalten von Finanzmärkten oder die Neubildung von Gewebe in der Medizin könnte das interessant werden. „Aber bis jetzt haben wir keine Möglichkeit, das Verhalten der Schleimpilze darauf zu übertragen“, sagt Reid. Erstmal wird es nur für die Forschung relevant bleiben, etwa in Computerwissenschaften, Robotik oder Netzwerktechnologien – aber auch in medizinischen und biologischen Projekten, wo es um die Beweglichkeit von Zellen geht, etwa bei der Frage, wie Krebszellen durch den Körper wandern.

Menschen, die eines Tages mit der Bahn auf Schienen fahren, die mit Hilfe von Schleimpilzen geplant wurden? Im Moment ist das nicht viel mehr als der Traum einiger Forscher. Dass die Organismen mehr sind als schleimige Häuflein am Waldboden, ist allerdings jetzt schon klar. „Wenn man sie unter dem Mikroskop anschaut, sieht man, dass in ihnen eine Menge passiert: Tausende Versorgungskanäle bilden sich ständig und reagieren miteinander, das ist unfassbar komplex und dynamisch“, sagt Reid, „und dann tritt man vom Mikroskop weg und sieht nur dieses gelbe Ding, das sich kein Stück bewegt und einfach nur statisch da liegt. Es ist, als würde der Blob in komplett anderen Maßstäben von Zeit und Raum leben.“

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