Das Problem mit den Partisanen – Seite 1

Männer in Trainingsanzügen laufen mit Kalaschnikows in den Händen durch Städte. Eine junge Frau wirft einen Molotowcocktail – eine mit Brandbeschleuniger gefüllte Flasche – gegen einen Panzer, dessen Außenwand daraufhin brennt. Jugendliche errichten Straßenbarrikaden aus Autoreifen und verstreuen Krähenfüße, Metallwinkel mit spitzen Enden, die Reifen zerstechen: Zahllose Bilder und Videos, die im Netz kursieren, zeigen, wie Zivilisten in der Ukraine gegen russische Soldaten kämpfen. Viele Aufnahmen lassen sich aber nicht verifizieren. 

Aber auch Politiker und Politikerinnen zeigen sich auf ihren offiziellen Social-Media-Accounts in normaler Kleidung, mit Sturmgewehren in den Händen und kündigen an, für ihr Land kämpfen zu wollen. Darunter sind Julia Timoschenko, die ehemalige Ministerpräsidentin, oder auch Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew. "Wir sind friedliche Menschen, aber wir müssen Waffen in unsere Hände nehmen", sagt der frühere Boxer gegenüber Bild-TV. "Wir müssen unser Land verteidigen." Sein Bruder Wladimir hat sich als Reservist gemeldet und ist damit regulärer Kämpfer, viele andere Ukrainer und Ukrainerinnen hingegen versuchen, die Invasoren aufzuhalten, ohne offiziell Teil der Streitkräfte zu sein.

Weltweit werden die Menschen in der Ukraine für ihren Mut und für ihre Widerstandsfähigkeit gefeiert. Aber Zivilisten in den Krieg zu schicken, birgt nicht nur das Risiko, dass schlecht ausgebildete und einfach ausgerüstete Freiwillige sterben, verwundet oder traumatisiert werden, es verletzt auch das Kriegsvölkerrecht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bereits die Generalmobilmachung verkündet. Alle Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 18 und 60 Jahren, sollen kämpfen und dürfen ihr Land nicht verlassen. Im Chaos des Krieges gelingt es aber den Streitkräften nicht, alle möglichen Soldaten einzuziehen, auszubilden und auszustatten. Viele Ukrainer scheinen daher auf eigene Faust ins Gefecht zu ziehen. Sie haben von ihrem Staat teilweise Sturmgewehre erhalten, 25.000 automatische Waffen wurden allein in Kiew ausgegeben, und Anleitungen bekommen, wie russische Fahrzeugkolonnen bekämpft werden können. Damit unterstützt die ukrainische Regierung diese Freiwilligen bei der Landesverteidigung, untergräbt gleichzeitig aber auch das Humanitäre Völkerrecht – und sorgt wahrscheinlich für eine Eskalierung der Kämpfe.

Das Humanitäre Völkerrecht soll die Zivilbevölkerung schützen

Denn wenn in Konflikten immer wieder reguläre Soldaten von Zivilistinnen und Zivilisten angegriffen werden, gehen sie brutaler gegen die Zivilbevölkerung vor. Das haben beispielsweise die Kriege in Vietnam, Irak und Afghanistan gezeigt. Irgendwann wird in der Vorstellung der Soldaten jeder, der sich verdächtig verhält, zu einer Gefahr. So wurde im Irak ein Kameramann von amerikanischen Soldaten getötet, weil sie dessen Aufnahmegerät für einen Raketenwerfer hielten, und mit Kampfdrohnen Männer beschossen, die nachts am Straßenrand gruben, weil sie fälschlicherweise für Terroristen gehalten wurden, die Sprengfallen versteckten. Solche Fälle will das Humanitäre Völkerrecht verhindern.

Es wurde als verbindliche Regeln zwischen den Staaten geschaffen, um Unbeteiligte zu schützen. Grundsätzlich sollen demnach alle Soldaten klar erkennbar sein, damit sie von der Zivilbevölkerung, die vor Grausamkeiten geschützt werden soll, zu unterscheiden sind. Wer gezielt Zivilpersonen beschießt, begeht daher ein Kriegsverbrechen. Solche Vergehen werden nach internationalem Recht geahndet.

"Nur militärische Ziele dürfen bekämpft werden in bewaffneten Konflikten", schreibt das Bundesverteidigungsministerium in einem Aufsatz über das Humane Völkerrecht – HVR abgekürzt. "Zivilpersonen genießen den Schutz des HVR, sofern und solange sie nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Nehmen sie gleichwohl unmittelbar an den Feindseligkeiten teil, verlieren sie ihren Schutz als Zivilperson und werden für den Gegner zulässige militärische Ziele. Für die unberechtigte Teilnahme an den Kampfhandlungen können sie bestraft werden."

Das Kriegsvölkerrecht wurde erstmals 1864 mit der Genfer Konvention von zwölf westeuropäischen Staaten in Teilen fixiert. Vier Jahre später war dann auch Russland unter Zar Alexander II. an einem weiteren Schritt beteiligt, die Kriegsführung zu regulieren. Mit der Petersburger Konvention sicherten die Unterzeichner seinerzeit zu, keine explodierende Munition bestimmten Kalibers zu verwenden. Ratifiziert wurde das Abkommen von fast allen europäischen Mächten, den Vereinigten Staaten und Persien. Die Haager Landkriegsordnung legte dann den Umgang mit Kombattanten und Zivilisten fest. So erhielten Kriegsgefangene besonderen Schutz. Seither dürfen Soldaten des Feindes, die sich ergeben haben, nicht mehr einfach erschossen werden. Sie erhalten besondere Rechte, ihre Würde muss gewahrt bleiben, sie dürfen nicht gegen ihr Heimatland eingesetzt und nur unter bestimmten Bedingungen zur Arbeit für den Gegner gezwungen werden.

Mit dem entwürdigenden Zurschaustellen von gefangenen Militärangehörigen auf Twitter und anderen Plattformen verstoßen Kämpfer im Krieg um die Ukraine aktuell aber auf beiden Seiten gegen die Haager Landkriegsordnung. Allerdings brechen auch der Beschuss oder die Bombardierung von Wohnhäusern das Humanitäre Völkerrecht, zumindest, wenn es keine militärischen Ziele in dem Gebäude gibt. Solche können etwa Scharfschützen hinter Fenstern oder Flugabwehrstellungen auf den Dächern sein. Solche Vergehen werfen die ukrainische Regierung und unabhängige Beobachtende den russischen Streitkräften vor. Zivilisten allerdings dürfen nie das primäre Ziel von militärischen Attacken sein. "Bei einem Angriff auf ein militärisches Ziel können aber auch Zivilpersonen oder andere geschützte Personen verletzt oder getötet oder zivile oder anderweitig geschützte Objekte beschädigt oder zerstört werden", heißt es vom Bundesverteidigungsministerium.

Grenzen zwischen Zivilpersonen und Kombattanten verwischen

Klar ist: Wer Krieg führt und andere Länder angreift, nimmt den Tod von Unschuldigen billigend in Kauf. Deswegen wurde das Führen eines Angriffskriegs generell untersagt. 

Doch Russland hat mit dem Angriff auf die Ukraine genau dieses Recht gebrochen – auch wenn Wladimir Putin von einer "Spezialoperation" gegen die Ukraine gesprochen, die eigenen Einheiten zu "Friedenstruppen" erklärt und angeblich nur auf einen Hilferuf der von Separatisten besetzten Gebiete im Donbass reagiert hat. Vermutlich wollte der Machthaber Gründe schaffen, um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Zumindest den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag hat er damit nicht überzeugt. Der Jurist Karim Khan hat entschieden, Ermittlungen wegen des "Verbrechens der Aggression" gegen Präsident Wladimir Putin und andere russische Befehlshaber einzuleiten. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Verantwortlichen jemals vor Gericht landen – denn Russland überstellt keine Bürger an die internationale Strafverfolgung und die Führung im Kreml hat eine Amnestie erlassen, die auch für sie selbst gilt. Dennoch wurde die Ankündigung, die Vorgänge zu untersuchen, weltweit begrüßt.

Aber was ist nun mit jenen Zivilisten, die in der Ukraine um ihr Land kämpfen? Generell sollen ja Zivilisten besonderen Schutz im Krieg erhalten können. Aus diesem Grund müssen sie wie erwähnt klar von den Kämpfern unterschieden werden können. Auch deswegen tragen reguläre Soldaten in der Regel Uniformen mit Hoheitsabzeichen ihres Staates und führen ihre Waffen so, dass sie als Kämpfer zu erkennen sind. Ansonsten gelten sie als Partisanen, Saboteure, feindliche Spione, Guerillakämpfer, Terroristen oder in der Sprache der Juristen als "irreguläre Kräfte". Und diese Kämpfenden erhalten keinen besonderen Schutz des Völkerrechtes. Jedoch gelten die allgemeinen Menschenrechte, die etwa Folter untersagen, natürlich auch für sie. "Zivilpersonen genießen den Schutz des HVR, sofern und solange sie nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen", hält das Bundesverteidigungsministerium fest. "Nehmen sie gleichwohl unmittelbar an den Feindseligkeiten teil, verlieren sie ihren Schutz als Zivilperson und werden für den Gegner zulässige militärische Ziele. Für die unberechtigte Teilnahme an den Kampfhandlungen können sie bestraft werden."

Einen Sonderfall stellen Personen dar, die zu Milizen oder Freiwilligenkorps gehören. Sie können als reguläre Kombattanten gelten, wenn sie einer Hierarchie folgen, die für das Einhalten des Völkerrechts sorgt, also eine verlässliche Kommandostruktur haben, die ein einheitliches, permanentes und von Weitem erkennbares Unterscheidungszeichen führen, die Waffen offen tragen und bei ihren Kampfhandlungen die Gesetze und Gebräuche des Krieges achten. Ukrainische Zivilisten, die diese Merkmale erfüllen, wären also nicht "unberechtigt" am Kampf gegen die russische Armee beteiligt. Und tatsächlich sind auf Bildern im Internet auch Kämpfer zu sehen, die zwar keine Uniformen tragen, aber gelbe Bänder um den Oberarm gewickelt haben, die Kampfausrüstung und Sturmgewehre offen tragen und unter einem gemeinsamen Befehl stehen.

Sie erfüllen damit die Anforderungen, als Kombattant zu gelten, und dürfen für die Teilnahme an rechtmäßigen, im Auftrag ihres Staates geführten Kampfhandlungen nicht bestraft werden. Wenn sie sich ergeben, gilt auch für sie der Kriegsgefangenenstatus.

Viele ukrainische Zivilisten könnten getötet werden

Wer aus dem Hinterhalt oder aus fahrenden Autos, was in Videos aus dem Kriegsgebiet zu sehen ist, Molotowcocktails auf russische Panzer wirft, der verliert den Schutz des Zivilisten und hat auch keine Rechte als Kombattant. Wenn der Krieg, wie zu erwarten ist, noch länger läuft, dann werden vermutlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer bei echten oder fehlgedeuteten Angriffen auf russische Soldaten getötet.

Russland aber trägt anscheinend selbst dazu bei, die Grenzen zwischen Zivilpersonen und Kombattanten zu verwischen. Ukrainische Offizielle werfen Russland vor, massiv "Saboteure" einzusetzen. In veröffentlichten Videos, deren Echtheit nicht verifiziert werden können, sind Männer zu sehen, die ukrainische Uniformen anziehen, um sich als Kämpfer der Gegenseite zu tarnen, aber auch vermeintliche Zivilisten, die Scharfschützengewehre, Sprengstoff und Überwachungstechnik in Rucksäcken bei sich hatten. Russland dementiert, irreguläre Kräfte einzusetzen.

Wer das Humanitäre Völkerrecht nicht einhält, der gefährdet nicht nur die Zivilbevölkerung, sondern auch alle, die Opfer des Konfliktes unterstützen. Für Hilfsorganisationen, die den Zivilisten beistehen wollen, ist es daher gefährlich, wenn in Kriegsgebieten nicht zu erkennen ist, wer sich an Kämpfen beteiligt und wer nicht, und wo die Gefechte stattfinden, weil Zivilisten überraschend Angriffe aus dem Hinterhalt unternehmen.

"Als humanitäre medizinische Organisation sind wir immer wieder mit den dramatischen Auswirkungen von Kampfhandlungen konfrontiert und appellieren eindringlich an alle Konfliktparteien, das Humanitäre Völkerrecht zu respektieren, etwa Zivilisten zu verschonen und den Zugang zu humanitärer Hilfe zu ermöglichen", sagt Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, gegenüber ZEIT ONLINE. Er weist darauf hin, dass medizinische Einrichtungen einen "besonderen Schutz in internationalen Gesetzen und Abmachungen" genießen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Kriegsparteien zumindest an diese internationalen Regeln halten. Denn es zeigt sich seit Tagen, dass der Krieg immer härter, immer brutaler geführt wird. Zuletzt sollen die russischen Truppen massiv mit schweren Artilleriegeschützen gefeuert haben. Granaten unterscheiden nicht, zwischen Zivilbevölkerung und Soldaten, zwischen legitimen und ungerechtfertigten Angriffen. Diejenigen, die Geschosse abfeuern, müssen das aber tun. Das verlangt seit dem 19. Jahrhundert das Kriegsvölkerrecht, an dessen Entstehung auch Russland beteiligt war.