Wo Geschichte zu Theater wird und Theater zu Geschichte führt

Ein Wehrmachtssoldat verbrachte sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Beim Abschied versprach er, Russland und seine Geliebte wiederzusehen. Sie taten es viele Jahre später, bei der Theateraufführung ihrer eigenen Geschichte.

Deutsche Kriegsgefangene bei Nischnij Nowgorod  beim sogenannten „Spaziergang“ in der Kolonne. /Foto: Archiv.

„Kommt wieder, Söhnchen. Kommt wieder, aber ohne Waffen“, sagt die alte Frau zum Wehrmachtssoldaten Alex, nachdem er und seine Kameraden in Russland sechs Jahre in Gefangenschaft verbracht haben. Kurz darauf fährt der Zug ab. Alex nimmt Abschied von der Greisin, dem Gefangenenlager, Russland und Schanna – seiner Geliebten. Sie versprechen einander wiederzusehen, und tatsächlich, sie sehen sich wieder: viele Jahre später, bei der Theateraufführung ihrer eigenen Geschichte.

Alex gab es wirklich, allerdings hieß er nicht Alex. Die Figur des Protagonisten basiert auf den Erlebnissen Wolfgang Morells, Claus Fritzsches und anderer deutscher Soldaten in russischen Gefangenenlagern während des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte wurde von Marina Kotschkina zum Theaterstück umgeschrieben und von der elften Klasse des Gymnasiums Nr. 1 aus Nischnij Nowgorod in russischen und deutschen Städten aufgeführt. Am 26. April das erste, einzige und letzte Mal in Moskau, am Goethe-Institut.

Menschliche Perspektive auf Wehrmachtssoldaten

Claus Fritzsche als Soldat /Foto: Archiv.

Das Stück beginnt im Jahr 1942, Alex und Kameraden werden eingezogen und an die Ostfront geschickt. Schon ein Jahr später werden sie in den Wäldern gefangengenommen, und wiederum ein Jahr später finden sie sich im Kriegsgefangenenlager bei Pyra wieder – mitten im russischen Winter. Sechs Jahre verbringen die Deutschen in den Lagern, unter harter Arbeit und Elend, mehr als einmal kurz vorm Tod. Es endet mit der Freilassung, vier Jahre nach Kriegsende.

Das Stück ist eine Verknüpfung aus Tagebucheinträgen, authentischen Fotografien und auflockernden musikalischen Einlagen. Aus den mageren Requisiten wird alles herausgeholt. Dröge Konferenzstühle werden zu einer Militärstellung aufgebaut und verwandeln sich wenig später in feuchtnassen Stechtorf, den die Strafgefangenen von Hand zu Hand reichen. Im Hintergrund sind Schwarzweiß-Aufnahmen zu sehen, Lagerinsassen, Knochenarbeit und zugefrorene Landschaften. Das Image des Schülertheaters fällt schnell ab und macht Platz für das Herz der Aufführung – die raumfüllende Geschichte.

Die ist mit ihrem Fokus auf den deutschen Soldaten eine Besonderheit, denn die Gräuel des Zweiten Weltkrieges schwelen noch immer im russischen Gedächtnis. Letztes Jahr erst löste der Schüler Nikolaj in Russland Stürme der Empörung aus, als er im Bundestag gerührt vom Schicksal des Gefreiten Georg Johann Rau erzählte, der 1942 an die Ostfront geschickt wurde und nie zurückkam. Auch das Theaterstück nimmt eine menschliche Perspektive auf die Wehrmachtssoldaten ein, im Versuch einer Annäherung zwischen der russischen und deutschen Geschichte.

In den Arbeitslagern erhalten Alex und Kameraden Zugang zu Bildung und Kultur. Sie gesellen sich für ein Konzert und eine kurze Vorlesung zu den Zuschauerin in die erste Reihe, danach sitzen sie verstreut herum, erzählen einander fast ungläubig vom Wohlwollen der Russen, einem geteilten letzten Stück Brot und medizinischer Hilfe.

Wiedersehen mit Zeitzeugen

Auf der Tournee stellte eine Zuschauern nach der Aufführung in St. Xystus gezielt die Frage, ob es denn nicht auch Leid, Tod und Hunger gegeben hätte? Doch, hätte es, „aber es gab eben auch die anderen Seiten“, so Rose Ebding, die Betreuerin der Klasse, „das heimlich zugesteckte Brot, die verständnisvolle Geste, sogar Respekt, Zuneigung und Liebe, durch die viele den Lebensmut wiederfanden“.

Das Stück schlägt Brücken. Nicht nur kulturelle zwischen Deutschland und Russland, sondern auch persönliche – von den 40er Jahren bis heute. Denn bei vielen Aufführungen war Wolfgang Morell, einer der wahren Kriegsgefangenen, selbst anwesend. Er blieb nicht der einzige. Bei einer Aufführung in Wladimir war auch Schanna Woronzowa anwesend, eine weitere Figur des Stücks und eine langjährige Freundin Morells, die er mit seinem ehemaligen Kameraden und ihrem damaligen Geliebten Claus Fritzsche wieder zusammenführte.

Die Schüler sind mit ihrem Stück Teil dieser lebendigen Geschichte geworden, die die Verbindungen zu den lang vergangenen Geschehnissen aufrechterhielt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist ein Teil davon verblasst, denn Claus Fritzsche verstarb ein Jahr nach seinem Wiedertreffen mit Schanna, im Alter von 95 Jahren. Auch die elfte Klasse hat sich bereits verstreut, ihre Schullaufbahn ist zu Ende und damit auch die Theatertournee, die die Schüler in der Oberstufe begleitet hat. Auf Fortsetzung der nachkommenden Generationen darf man hoffen, dann mit einem anderen Stück deutsch-russischer Geschichte.

Tim Schmude

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