Auf der Suche nach einem deutschen Proust

Marcel Proust scheint die Übersetzer unentwegt zu locken. Zum Hundert-Jahr-Jubiläum der «Recherche» legt nun auch der Reclam-Verlag seinen ersten Band neu vor. Ein Vergleich mit der Suhrkamp-Ausgabe drängt sich auf.

Albert Gier
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Der berühmte erste Satz ist identisch: «Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen», liest man bei Bernd-Jürgen Fischer wie bei Luzius Keller. Im Folgenden unterscheiden sich die beiden Übersetzungen des ersten Bands von «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» trotz manchmal wörtlichen Übereinstimmungen wesentlich voneinander. Insgesamt scheint die Fassung Kellers korrekter, lesbarer und sprachlich eleganter.

Der erste Anlauf zu einem deutschen Proust wurde noch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unternommen: Drei Bände des Romans erschienen 1926 bis 1930, an der Übersetzung war u. a. Walter Benjamin beteiligt; im nationalsozialistischen Deutschland war eine Weiterführung unmöglich. 1953 bis 1957 veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag die vollständige Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Für die Frankfurter Ausgabe des Gesamtwerks revidierte und verbesserte der Proust-Spezialist Luzius Keller ihren Text (1994 bis 1996) auf der Grundlage der neuen, textkritischen Edition des Originals; seit 2004 ist diese Version auch als Taschenbuch greifbar (7 Bände), daneben vertreibt Suhrkamp immer noch die Rechel-Mertens-Übersetzung. Zu Beginn des Jahrtausends nahm der Romancier Michael Kleeberg einen neuen Anlauf, kam aber nicht weit (2 Bände 2002/04). Jetzt erscheint im Reclam-Verlag die schön gedruckte und gebundene, sorgfältig edierte Neuübersetzung des ersten Bands von Bernd-Jürgen Fischer (der 2002 bei DTV den Auswahlband «Trois places, trois femmes, trois métiers. 3 × 3 Szenen aus der Recherche» herausgegeben hat), die weiteren Bände sollen offenbar zügig folgen.

Humorvoll?

Dass die neue Fassung «Prousts humorvolle Lebenseinstellung deutlicher zum Ausdruck bringt», wie Fischer in einem vom Verlag verbreiteten Interview erklärte, trifft allenfalls auf einzelne Passagen zu. Dagegen ist auf den ersten Blick das Bemühen erkennbar, Prousts vertrackter Syntax möglichst genau zu folgen, weshalb vieles ziemlich sperrig wirkt. Gleich zu Beginn übersetzt er ganz wörtlich:

«Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der zu einer Reise gezwungen gewesen ist, in einem unbekannten Hotel hat einkehren müssen und von einem Anfall aufgeweckt wird, sich freut, wenn er einen Streifen Tageslicht unter der Tür entdeckt.»

Zum lauten Vorlesen (in den letzten Jahren wurden etliche zyklische Lesungen der «Suche nach der verlorenen Zeit» veranstaltet) ist diese Fassung denkbar ungeeignet. Kellers Text ist wesentlich glatter:

«Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der verreisen und in einem unbekannten Hotel übernachten musste, wenn er von einem Anfall geweckt wird, sich freut, unter der Tür einen Lichstreifen zu bemerken.»

Freilich kommt es hin und wieder auch vor, dass Fischer vereinfacht, wo Keller eine komplizierte Konstruktion beibehält. Nicht so in folgender Beschreibung erotischer Phantasien, wenn Fischer von der «Lust, die zu geniessen ich im Begriff war» spricht, was so sinnlich ist wie ein Gutachten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (Keller: «der Lust, die in mir hochstieg»).

Gelegentlich trifft Fischer den Sinn genauer: Der «petit chemin», den der Reisende im zweiten Abschnitt zurücklegt, ist sicher «die kurze Strecke», nicht «der schmale Weg» wie bei Keller. In den meisten Fällen wird man jedoch die ältere Version vorziehen: Statt von «vergänglichen» wie bei Fischer sollte von «nur für einen Augenblick sichtbaren Kirchenfenstern» die Rede sein (französisch: «momentané»). «Un tableau de primitif» ist eher ein «spätgotisches Bild» (so Keller) als ein «Renaissancegemälde». Dass der Grossvater des Erzählers keine «liqueurs» trinken darf, bedeutet, dass ihm «die Schnäpse» (Keller), nicht, dass ihm «Alkohol verboten» war, wie bei Fischer steht.

Eindeutig falsch ist nur weniges, aber ausgerechnet in der berühmtesten Episode, wenn der Geschmack der in Tee getauchten Madeleine-Krümel die Erinnerung an Combray lebendig werden lässt, unterläuft Fischer ein Versehen: Nicht «eines Sonntagsmorgens» bekam der Erzähler von Tante Léonie ein Stückchen Madeleine in Lindenblütentee, sondern jeden Sonntagmorgen. Die «petite phrase» in Vinteuils Sonate, die Swann so liebt, wird bei Keller zum «kleinen Thema», Fischer entscheidet sich für «Phrase», was dem musikalischen Sachverhalt weniger gerecht wird, dafür aber Prousts Personifikation der Tonfolge als einer weiblichen Gestalt erfahrbar macht.

Sprachlich sensible Leser mögen sich daran stören, dass Fischer gelegentlich umgangssprachliche Wendungen unterlaufen: Swann ist «so ziemlich der einzige» Besucher in Combray (Keller: «nahezu»). Die «palaces», die Proust in Anführungszeichen setzt, gibt Keller richtig als «Palasthotels» wieder, bei Fischer werden sie anachronistisch (und ungenau) zu «Nobelrestaurants». Auf die rhetorische Frage des Erzählers, ob die Erinnerung an Combray unwiederbringlich verloren sei, gibt er sich bei Fischer die Antwort «schon möglich» (Keller: «vielleicht»).

Bildungshorizont

Gut siebzig Seiten Anmerkungen wollen vor allem auf «realhistorische Hintergründe» hinweisen, Prousts «Bildungshorizont» ins Bewusstsein heben und Bedeutungen der fiktiven Namen aufzeigen. Unter seinen Quellen nennt Fischer auch Kellers Kommentar; manche Anmerkungen sind denn auch in beiden Ausgaben beinahe identisch, allerdings ist Keller, der mit knapp sechzig Seiten Anmerkungen auskommt, alles in allem reichhaltiger: Fischer glaubt dem Leser mitteilen zu müssen, wer Molière ist, geht aber z. B. nicht auf musikalische Modelle für Vinteuils «kleine Phrase» ein und berücksichtigt die Textgeschichte, wie sie aus Entwürfen, Manuskripten, Druckfahnen ablesbar ist, fast gar nicht. Sehr nützlich ist eine detaillierte Inhaltsübersicht (wie auch bei Keller, wo sie etwas knapper ausgefallen ist). Ein Nachwort gibt es nicht.

Fischers Übersetzung liest sich nicht so flüssig wie der Text von Keller und Rechel-Mertens, der für Genussleser eindeutig besser geeignet ist. Wer es ganz genau wissen will, mag einzelner Präzisierungen und Alternativvorschläge wegen beide Übersetzungen konsultieren.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1. Auf dem Weg zu Swann. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, Stuttgart 2013 (Reclam-Bibliothek). 693 S., Fr. 40.90.