Wirtschaft

Corona in den USA

Amerika rechnet mit der Covid-Politik ab

Amerikas Covid-Politik steht auf dem Prüfstand: Vor Gericht, in der Politik und in der Wissenschaft.
Von Winand von Petersdorff
Lieber draußen trotz Kälte: Straßenszene aus New York im Februar 2021 EPA

Vor drei Jahren veröffentlichten die drei Wissenschaftler Jay Bhattacharya, Sunetra Gupta und Martin Kulldorff einen Text mit dem Titel „The Great Barrington Declaration“. Der am 5. Oktober 2020 publizierte Text machte vor allem in Fachkreisen Furore, weil er die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in den USA und vielen anderen Ländern fundamental kritisierte und sich vor allem gegen Lockdowns wendete. Einer breiteren Öffentlichkeit war die Erklärung weniger bekannt. Ein möglicher Grund: Die Zensurkampagne der amerikanischen Regierung verhinderte erfolgreich, dass der Text in den sozialen Medien Flügel bekam.

Der Vorwurf der Zensur entspringt keiner Verschwörungsphantasie. Im Juli dieses Jahres verhängte ein Richter in Louisiana eine einstweilige Verfügung gegen Regierungsstellen, mit der er ihnen verbot, bis auf wenige Ausnahmen mit sozialen Medien Kontakt zu haben. Zwei der Autoren der „Great Barrington Declaration“ und weitere Kläger hatten geklagt, weil sie ihre freie Meinungsäußerung durch die Verfügung beschnitten sahen. In der Begründung der Verfügung wurde festgehalten, dass Spitzenbeamte im Weißen Haus und in anderen Regierungsstellen Twitter, Facebook und andere soziale Medien genötigt hatten, Beiträge speziell zur Covid-Politik aus dem Netz zu nehmen oder ihre Verbreitung zu drosseln – gelegentlich unter Androhungen von Sanktionen.

Ein Berufungsgericht bestätigte die Feststellung der Zensur. Die Richter kamen zu dem Schluss, dass das Weiße Haus missliebige Meinungen unterdrückt und die sozialen Medien von Twitter über Facebook bis zu Youtube zu Erfüllungsgehilfen gemacht hatte. Das Weiße Haus rief inzwischen den Supreme Court an.

Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Politik
Amerika beginnt, die Covid-Politik aufzuarbeiten. Zweifel werden laut, dass sie erfolgreich und angemessen war und jene wissenschaftliche Legitimierung erfahren hatte, die die Regierung so heftig propagiert hatte mit dem Slogan „Follow the science“ (Folgt der Wissenschaft). Den fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch unterschiedlicher Meinungen hatten Regierungsstellen nachweisbar erschwert.

Der Moment, als sorgenschwere Ungewissheit über die Pandemie echter Panik bei vielen wich, trat ein, als das britische Imperial College am 16. März 2020 eine Modellrechnung veröffentlichte, der zufolge ohne einschränkende Regierungsmaßnahmen oder persönliche Verhaltensänderungen Covid 510.000 Menschen in Großbritannien und 2,2 Millionen Menschen in den USA töten würde. Die Studie sagte, dass drakonische Restriktionen der beste Weg seien, mit dem Virus umzugehen. Die Panik beschränkte sich nicht auf Großbritannien, wo die Regierung in einer Kehrtwende Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen verhängte. Die Modellrechnung war vor der Veröffentlichung dem Weißen Haus gegeben worden und hatte offensichtlich maßgeblichen Einfluss auf das Regierungshandeln.

Anthony Fauci, der zentrale Pandemieberater der US-Regierung, sagte Mitte Juni 2020, dass die Stilllegung des öffentlichen und zum Teil privaten Lebens, die in den meisten Bundesstaaten angeordnet wurde, Millionen Menschenleben gerettet habe. In demselben Interview, das in einem Podcast des Gesundheitsministeriums veröffentlicht wurde, beschwerte Fauci sich über seine Landsleute: Sie glaubten nicht der Wissenschaft und nicht den staatlichen Autoritäten.

Wie wirkungsvoll waren die Lockdowns?
Die Wissenschaft war von Beginn an weniger eindeutig, als Fauci suggerierte. Ende Januar hatte das Virus, dessen Verbreitung in China seinen Anfang genommen hatte, Italien erreicht. Schon Anfang März gab es Infektionsfälle in allen Landesteilen. Ähnlich entwickelte sich die Epidemie in Iran. Für den Harvard-Professor Martin Kulldorff zumindest war damit schnell klar, dass diese Epidemie mit den klassischen Methoden der Seuchenbekämpfung nicht zu stoppen war: Diese bestehen darin, Kranke zu isolieren und ihre Kontakte nachzuvollziehen. Doch dafür waren schon zu viele angesteckt. Das Virus würde jeden Winkel der Welt erreichen, so seine Einschätzung damals. Sie war in dieser Hinsicht laut Kulldorff vergleichbar mit Grippewellen. Man konnte allerdings besonders anfällige Bevölkerungsgruppen schützen, so seine These.

Um diesen externen Inhalt sehen zu können,
ist Ihre Zustimmung erforderlich. Bitte beachten Sie unsere Datenschutzerklärung.

Zustimmen

Kulldorff war, anders als Fauci später behaupten sollte, keine exotische Randfigur in der Medizin, sondern ein Fachmann für öffentliche Gesundheit. Er glaubt, dass Lockdowns die Ausbreitung der Krankheit nicht eingeschränkt haben, keine Menschenleben gerettet haben, kaum anfällige Bevölkerungsgruppen über Gebühr beeinträchtigt haben und generell gewaltige Kosten produziert haben. Diese Haltung wurde nicht nur von den führenden Beratern und Verantwortlichen der US-Regierung für falsch gehalten, renommierte Wissenschaftler aus aller Welt einschließlich Deutschland widersprachen ihr vehement.

Die Regierungsmaßnahmen waren so einschneidend, dass nach Ansicht von Forschern zentral war, schnell herauszufinden, wie tödlich und ansteckend Covid war. Stanford-Professor Jay Bhattacharya, Kulldorffs Mitautor der Great Barrington Declaration, unternahm diesen Versuch. Mit anderen Forschern startete er einen Feldversuch in Santa Clara, einem kalifornischen County mit zwei Millionen Einwohnern. Sie wollten mit Antikörpertests herausfinden, wie viele Leute das Virus schon gehabt hatten. Wenn sehr viel mehr Menschen sich schon angesteckt und die Krankheit überwunden hatten, bedeutete das, dass die Krankheit weniger tödlich war als befürchtet.

DeSantis' „Lasst-uns-Oma-umbringen“-Plan
Das Ergebnis der Stichprobe war, dass schon 2,5 bis 4 Prozent der Bevölkerung Covid gehabt hatten. Statt der 1000 von den Behörden ausgemachten Fälle in dem County hatten demnach zwischen 50.000 und 80.000 Menschen schon Covid gehabt, die meisten, ohne es zu wissen. Bhattacharya kam zum Ergebnis, dass die Sterblichkeitsrate der Infektion 0,2 Prozent betrug, was später durch andere Studien bestätigt wurde. Das Imperial College hatte mit 0,9 Prozent kalkuliert.

Der Konflikt, ob die Stilllegung des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und die starke Einschränkung des Privatlebens gerechtfertigt waren, spielt sich inzwischen auf der politischen Ebene ab: Als prominentester Lockdown-Gegner hat sich Ron DeSantis etabliert. Der republikanische Gouverneur von Florida mit Ambitionen für das Präsidentenamt hatte nach anfänglichen Schließungsanordnungen Schulen, Geschäfte und Kneipen schneller wieder geöffnet als anderswo. Er hatte unter anderem Kulldorff und Bhattacharya als Berater für die Öffnung herangezogen. Das Kontrastprogramm bildet Kalifornien mit dem demokratischen Gouverneur Gavin Newsom, der eine vergleichsweise rigorose Schließungspolitik gefahren hatte.

Um diesen externen Inhalt sehen zu können,
ist Ihre Zustimmung erforderlich. Bitte beachten Sie unsere Datenschutzerklärung.

Zustimmen

Rund dreieinhalb Jahre nach dem Einsetzen der Krise lässt sich vergleichen. Auf den ersten Blick liegt Kalifornien vorn in diesem durchaus obskuren Wettbewerb. Der Bundesstaat im Westen verzeichnet deutlich weniger Covid-Tote je Einwohner als Florida. Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die Bevölkerung in Florida deutlich älter ist als im jungen Kalifornien, drehen sich die Verhältnisse. Altersbereinigt sind 13 Prozent weniger Leute an Covid gestorben als im amerikanischen Durchschnitt, Kalifornien lag nur um 12 Prozent besser trotz der Lockdowns. DeSantis’ Entscheidung, die Schulen zu öffnen, stand im Kontrast zu dem, was die meisten Bundesstaaten und Länder praktizierten. Seine Covid-Strategie wurde von politischen Gegnern als ein „Lasst-uns-Oma-umbringen“-Plan bezeichnet.

„Lockdowns sind ein politisches Desaster“
Profunde Erfahrungen mit der Rhetorik, die Abweichler vom Mainstream ernten, machte Schweden. Das Land wurde in der „New York Times“ als „Paria-Staat“ bezeichnet und vom britischen Gesundheitsminister beleidigt, weil es sich entschlossen hatte, keine Lockdowns zu verordnen. Die Schulen blieben offen, ebenso Kneipen, Büros, Museen und Sportstätten. Die Regierung beschränkte sich weitgehend auf Empfehlungen, statt Maßnahmen anzuordnen. Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell sagte im April 2020, Schweden habe in EU-Ländern nach Analysen gesucht, die Lockdowns untermauern. Sie fanden keine. Für Lockdowns gab es nach seiner Darstellung keine wissenschaftliche Basis.

Jetzt zeigt sich, dass Schweden weniger Covid-Tote je Einwohner hat als die meisten südeuropäischen Länder, die USA oder England, aber mehr als Deutschland und skandinavische Nachbarn. Animiert durch das schwedische Beispiel, unternahm Steve Hanke, Ökonom der Johns-Hopkins-Universität, mit einem schwedischen Kollegen eine Meta-Analyse von Studien, die Wirkungen von Regierungsauflagen und -beschränkungen untersucht hatten.

Das Ergebnis: Die staatlichen Beschränkungen inklusive Lockdowns hatten nur einen geringen Einfluss auf das Risiko, an Covid zu sterben. Die Regierungsmaßnahmen hätten zwischen 6000 und 23.000 Leben in Europa und 4000 bis 6000 Leben in den USA gerettet. Das klingt nach viel, verblasst aber hinter Grippetoten, die jedes Jahr toleriert werden, ohne das öffentliche Leben stillzulegen. „Lockdowns sind ein politisches Desaster“, sagte Hanke, der Gründer und Ko-Direktor des Instituts for Applied Economics und Global Health an der Johns-Hopkins-Universität ist.

Drastische Negativfolgen der Schulschließungen
Unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Gesundheit ist die Frage hochrelevant, ob die Regierungsanordnungen zur Stilllegung des öffentlichen Lebens halfen, Covid-Tode zu verhindern. Zugleich ist sie aber eindimensional. Die Maßnahmen produzierten immense Kosten und kosteten ebenfalls Leben.

Die Ökonomen Casey Mulligan und Rob Arnott legten voriges Jahr eine Studie vor, in der sie die Übersterblichkeit für die Jahre 2020 und 2021 in den USA untersuchten. Übersterblichkeit beschreibt die Mortalität oberhalb des normalen Trends. Mulligan interessierte sich für die Übersterblichkeit jenseits der Covid-Fälle und extrahierte aus den offiziellen Statistiken, dass 2020 und 2021 jeweils nahezu 100.000 Menschen in Amerika in die Kategorie „Übersterblichkeit, aber nicht von Covid“ fielen. Todesfälle durch Drogenüberdosen, durch Autounfälle, durch Gewalt oder infolge von Alkoholmissbrauch lagen der Studie zufolge alle deutlich über den Trendlinien. Es starben mehr Menschen an Krankheiten, die mit Diabetes und Fettleibigkeit assoziiert werden. Es wurden auch deutlich mehr Todesfälle wegen Bluthochdruck und Herzkrankheiten verzeichnet. Es brachten sich auch mehr junge Menschen um als gewöhnlich, meldete das National Institute for Mental Health im Mai dieses Jahres. Eine Kausalität ist damit nicht begründet, aber es fällt einem wenig anderes ein. Die Rechnung wird noch länger: Absatzrekorde bei Alkohol und Zigaretten lassen vermuten, dass eine Krankheitswelle auf das Gesundheitssystem zukommt. Zahlreiche Krankenhäuser registrierten, dass Leute seltener zur Krebsvorsorge gekommen waren.

Langfristig schwer wiegen die Schulausfälle. Die Ökonomin Emily Oster kommt nach eigenen Studien zu folgendem Schluss: In den Pandemiejahren ist die Leistungsfähigkeit der Schüler gemessen an Testergebnissen in Mathematik, Englisch und anderen Disziplinen „enorm gesunken“. Der Rückgang geht ihr zufolge zu einem bedeutenden Teil auf Schulschließungen zurück. Osters Untersuchungen zeigen auch, dass Schulunterricht nur geringe Covid-Risiken berge. Studien etwa aus Italien kommen allerdings zu anderen Ergebnissen. Schlimmer noch trifft es aber junge Leute in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die Weltbank schlug im Februar Alarm und warnte vor einer verlorenen Generation. Fast eine Milliarde Kinder hatten mindestens ein Schuljahr Präsenzunterricht verloren, der nur ungenügend durch Onlinefernunterricht ausgeglichen werden konnte, rund 700 Millionen verloren sogar anderthalb Jahre. Als die Schulen wieder geöffnet wurden, wurden weniger Kinder angemeldet als früher.

An die gewaltigen Kosten scheint niemand gedacht zu haben
Der Warnruf zeigt auch, dass nahezu alle Länder der Idee gefolgt sind, mit mehr oder weniger einschneidenden Maßnahmen das öffentliche Leben stillzulegen. Eine Erklärung lautet, dass die anfängliche Ungewissheit eine Politik der besonderen Vorsicht nahelegte. Bhattacharya glaubt, dass ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Februar 2020, in dem diese die Lockdown-Politik Chinas als Erfolg hervorhob, eine zentrale Rolle spielte. Dazu kam die in seinen Augen fehlgeleitete Imperial-College-Studie. „Und als einmal ein paar Länder das Leben stillgelegt hatten, war es fast unmöglich für Politiker, dem Druck zu widerstehen, das nachzumachen.“

François Balloux, einer der führenden Covid-Experten in England, hat eine andere Deutung. Er glaubt, dass die „Great Barrington Declaration“ im Timing und in der Wortwahl schädlich war, selbst wenn er inhaltlich teilweise zustimmen konnte. Die Wortwahl habe viele Leute abgeschreckt, in einer Phase, in der sie nach Trost und Zuversicht gesucht hätten. Eine heftige Gegenreaktion sei die Folge gewesen.

Nach Balloux’ Ansicht war in den sehr frühen Phasen der Pandemie eine Politik nachvollziehbar, die versuchte, mit Lockdowns die Pandemie zu bändigen. Allerdings sei die Bevölkerung nie so richtig über die gewaltigen Kosten einer solchen Politik aufgeklärt worden. Der amerikanische Ökonom Steve Hanke geht noch weiter: Er glaube nicht, dass sich zumindest in der amerikanischen Regierung die Verantwortlichen viele Gedanken über die Kosten ihrer Covid-Politik gemacht hätten. Es gebe kein Anzeichen, dass sie auch nur eine blasse Ahnung davon gehabt hätten.

8 ;

Dieser Artikel wurde Ihnen von einem Abonnenten geschenkt und kann daher kostenfrei von Ihnen gelesen werden.

Die komplette digitale Ausgabe der F.A.Z.

14 Tage kostenfrei testen