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  4. Richard von Weizsäcker (†94) setzte als Präsident Maßstäbe

Deutschland Altbundespräsident

Mit einer Rede schrieb von Weizsäcker Geschichte

Aristokrat und „Präsident aller Bürger“

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist tot. Er starb am Samstag im Alter von 94 Jahren in Berlin. Er war einer der prägenden Politiker der deutschen Nachkriegszeit.

Quelle: N24

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Mit Form und Inhalt seiner Präsidentschaft setzte Richard von Weizsäcker den Maßstab für das Amt. Er lehrte die Republik, die Kapitulation des NS-Regimes am 8. Mai 1945 als Befreiung zu begreifen.

Das Amt des Bundespräsidenten, so verstanden die Grundgesetzväter die Lehre aus der Katastrophe der ersten deutschen Republik, prägt bisher jeden Amtsinhaber mehr, als dass es von ihm geprägt wird. Von allen Staatsoberhäuptern aber hat keiner so wie Richard von Weizsäcker in seinem Jahrzehnt von 1984 bis 1994 dem Amt Stil und Form verliehen – und das projiziert, was die Deutschen von einem Bundespräsidenten erwarten: in der äußeren Erscheinung ein Gentleman, weltgewandt im Auftreten, ein guter Zuhörer mit Sinn für Ironie, geschichtsbewusst, ohne den obersten Geschichtslehrer der Nation zu spielen. Ein Politiker auf Abstand zur Politik, den Parteitaktiken, die er doch beherrschen muss, scheinbar enthoben. Redner mit dem Sinn für das bedeutende Wort zur rechten Zeit, Meister des selbstbewussten Understatements – und in zehn Jahren nicht ein einziges Ärgernis.

Noch während der Zeit in der Bonner Villa Hammerschmidt hat der Bundespräsident, der sich in seiner Kritik von Gefühlen der Dankbarkeit gegenüber den Parteien niemals beirren ließ, sich eine öffentliche Parteienschelte in Buch- und Interviewform erlaubt, die an Distanz und Deutlichkeit kaum zu überbieten war. Doch galt sie als wohlverdient seitens der Kritisierten, die den Staat zur Beute machten, und blieb weitgehend folgenlos. Seiner anhaltenden Popularität hat es keinen Abbruch getan, dass er aus der Zurückhaltung des Elder Statesman gelegentlich heraustrat, ohne doch seinen Nachfolgern jemals zu nahe zu treten.

Wenn jeder aktive Bundespräsident wenig mehr hat als die Autorität des Amtes und seiner eigenen Persona, so hat Weizsäcker nach seiner Amtszeit es doch verstanden, diese moralische Präsenz zu behaupten und mitunter auch einzusetzen. Die Kommission zur Bundeswehrreform, die vor mehr als einem Jahrzehnt nach ihm benannt wurde, hat nicht nur nach innen das Bewusstsein der veränderten Weltlage geschärft, sondern auch nach außen der Neuorientierung der Bundesrepublik nach dem Kalten Krieg Ziele gesetzt und Wege gewiesen – vielleicht nicht genug für die Wirrnisse der Welt, aber das war nicht Weizsäckers Fehler. Dass er die Kommission für die – dringend gebotene – Reform der Vereinten Nationen leitete, bestätigte seinen internationalen Rang und Ruf.

Richard Freiherr von Weizsäcker wurde in der Zeit nach Weltkrieg und Revolution in eine Familie des altwürttembergischen Patriziats hineingeboren: Der erbliche Adel nebst Freiherr war buchstäblich in den letzten Tagen der Monarchie in die Familie gekommen, wurde aber ungeachtet des späten Datums seitdem sehr geschätzt. Der Großvater war der letzte Ministerpräsident, als Württemberg noch einen König hatte.

Gemeinsames Schießen auf ein Hitler-Porträt

Der Vater, Ernst von Weizsäcker, war Marineoffizier, der ungeachtet seiner Übernahme durch das Auswärtige Amt der Weimarer Republik allenfalls Vernunftrepublikaner Stresemannschen Typs war. Er sollte es weit bringen: Staatssekretär unter Hitlers Außenminister von Ribbentrop und Titular-SS-Brigadeführer, bei Kriegsende Botschafter beim Vatikan, dann Angeklagter im „Wilhelmstraßenprozess“ der Alliierten gegen Angehörige des Auswärtigen Amts, endlich Häftling und Verfasser von nicht sehr tiefgründigen Memoiren. Im Nürnberger Prozess war Richard von Weizsäcker, Jurist in mittlerem Semester, Hilfsverteidiger des Vaters.

Der Sohn hatte einen guten Start ins Leben gehabt. 1938 allerdings wurde er zur Wehrmacht eingezogen und kam bis Ende 1945 aus der Uniform nicht mehr heraus. Zuletzt war er Hauptmann, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse. Im Infanterieregiment 9 (auch „Graf Neun“ genannt wegen der Prominenz des altpreußischen Adels) allerdings überlebte selbst noch nach dem missglückten Hitler-Attentat des 20. Juli 1944 ein widerständiger Geist, man konnte unter den Offizieren einander vertrauen, und man glaubte an dieselben, anderswo längst gefledderten Werte: Recht und Ordnung, Vaterland und Christentum.

An der Leningrader Front schossen die jungen Offiziere einmal gemeinsam auf ein Hitlerbild, einfach aus Spaß daran, und keiner meldete nach oben. Nachmals berühmte Namen waren darunter wie Axel von dem Bussche-Streithorst, der von Oberst Graf Stauffenberg dazu ausersehen war, via Selbstmordattentat den Tyrannen zu töten, oder Ewald von Kleist, der einige Monate später denselben Auftrag übernahm: Jedes Mal hielt ein Schutzteufel die Kralle über Hitler.

Mit 25 Jahren konnte Richard von Weizsäcker endlich studieren, Jura und Geschichte. Der Berufsweg als Industriejurist führte ihn von Mannesmann über das Bankhaus Walthausen – dort war er persönlich haftender Gesellschafter – zu Boehringer-Ingelheim. Der CDU gehörte er seit 1954 an, doch machte er seinen Weg in den Bundesvorstand nicht über eine Parteikarriere, sondern als jemand, der Wert darauf legte, gerufen zu werden. Im wilden Jahr 1968 schlug ihn Helmut Kohl, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und ein kommender Mann, der CDU als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vor: umsonst allerdings. Weder gewann Weizsäcker die Mehrheit der Partei, noch gewann die CDU in der Bundesversammlung.

Mit seiner industriellen Karriere und der Schlüsselrolle als Präsident des Evangelischen Kirchentags, dazu Lebenserfahrung und Weltkenntnis, war Weizsäcker, auch nach eigener Meinung, ein Mann für höhere Aufgaben. Es ist nicht ohne Ironie, dass der ältere Bruder Carl Friedrich von Weizsäcker, Physiker und Philosoph und in der Familie stets als das Genie bewundert, zur selben Zeit durch die Sozialdemokraten vorgesehen war als ihr Kandidat für die Villa Hammerschmidt. Das endete erst, als sich herumsprach, dass der ältere der Weizsäcker-Brüder in der NS-Zeit dem Regime ein williger Wissenschaftler gewesen war – bis hin zur Patentanmeldung via Heereswaffenamt für eine „Plutonium-Bombe“, die allerdings niemals über das Projektstadium hinauskam.

Sein Weg hätte auch ins Kanzleramt führen können

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Weizsäckers Weg zum Präsidentenamt führte über Berlin, wo der westliche Teil der Stadt der langen SPD-Vorherrschaft langsam überdrüssig wurde. Weizsäcker kandidierte für das Amt des Regierenden Bürgermeisters und errang überragende 48 Prozent der Stimmen, bildete zunächst einen Minderheitssenat und koalierte dann, als Anfang Oktober 1982 die Kohl-Genscher-Koalition in Bonn an die Regierung kam, ebenfalls mit der FDP. Er berief glanzvolle Senatoren wie Wilhelm Kewenig und gab dem entnervten Westen der Stadt wieder Anziehungskraft und kulturellen Glanz.

Er wurde als kommender Außenminister, sogar als möglicher späterer Kanzler gehandelt. Als er allerdings Ehrgeiz in Richtung des Amtes des Bundespräsidenten zeigte, war in Berlin die Enttäuschung groß. Doch weder die Vorwürfe aus Berlin, wo die Weizsäcker-Fans sich verraten fühlten, noch das Zögern Kohls konnten ihn in Berlin halten: Weizsäcker war nicht zu verhindern – weder durch Parteifreunde noch durch die Opposition.

Nach den fünf Jahren der ersten Amtszeit gab es keine Frage, dass eine zweite folgen musste: Weizsäcker war bis heute der einzige Kandidat, dem in der Bundesversammlung kein Gegenkandidat entgegengestellt wurde. Die Verstimmung zwischen Weizsäcker und Kohl allerdings war nachhaltig. Im Garten der Villa Hammerschmidt deutete Weizsäcker einmal auf die benachbarte Villa Schaumburg und sagte nur ein Wort: „Byzanz“. Die Dankbarkeit, das bewiesen beide Nachbarn auf ihre eigene Weise, ist ein Gefühl von kurzer Dauer.

Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der NS-Gewaltherrschaft
Richard von Weizsäcker, Bundespräsident, über den 8. Mai 1945

Manche Bundespräsidenten hinterlassen mehr als andere. Richard von Weizsäcker hat mit seiner Rede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 sehr viel mehr getan als ein vieldeutiges Datum zu kommentieren. Er hat den Deutschen, jüngeren und älteren, mit Erinnerung und ohne, den Weg gewiesen, mit der jüngeren Geschichte aufrecht zu leben. Es sei dieser 8. Mai, was immer die deutsche Niederlage an Schrecken barg, doch der „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der NS-Gewaltherrschaft“ gewesen.

Das war, ohne Wenn und Aber, eine Brücke zwischen den Generationen und ein Wort an die Nachbarn Deutschlands. Hier sprach der Sohn des Staatssekretärs, der Hauptmann im Infanterieregiment 9, der Präsident der zweiten Republik – und in jedem Wort schwang persönliches Schicksal mit. Kein Wunder, dass Weizsäcker seitdem den im Grundgesetz nicht vorgesehenen Rang des Praeceptor Germaniae behauptete.

Die Rede zum 8. Mai hat Geschichte gemacht. Dagegen war Weizsäckers Warnung vor überhöhten Erwartungen und überstürzten Entscheidungen nach dem Fall der Mauer zwar staatsklug gedacht. Sie wurde aber der Eigendynamik der Ereignisse nicht gerecht, weder dem unaufhaltbaren Massenexodus aus der wankenden DDR noch den strategischen Ungewissheiten, welche Niedergang und Fall der Sowjetunion bargen. Form und Inhalt stimmten in Weizsäckers Präsidentschaft maßstabsetzend zusammen. Zweifellos wurde Weizsäcker von der operativen Machtlosigkeit des Amtes – wie zuvor schon in Berlin – enttäuscht, ohne dass er sich dies allzu sehr anmerken ließ: Er hätte es schließlich wissen können.

Was jetzt nach dem Tod Richard von Weizsäckers bleiben wird, sind seine Memoiren über „Vier Zeiten“ und vier Geschichtsbrüche. Und die Erinnerung an einen Staatsmann, der durch die Macht des Wortes Geschichte nicht nur ausgedeutet, sondern gleichzeitig auch gemacht hat.

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