Im Gastkommentar schreibt der Bellingcat-Journalist Christo Grozev über Alexej Nawalny, Wladimir Putin und die Utopie eines demokratischen Russlands.

Journalist Christo Grozev (li.) bei den Dreharbeiten zum Film "Nawalny", mit Maria Pewtschich von der Anti-Corruption Foundation, Alexej Nawalny und dem Regisseur Daniel Roher (re.).
Foto: Niki Waltl

Mitte der 90er-Jahre war Russland eine chaotische, aber freie Gesellschaft, die nach sieben Jahrzehnten totalitärer Herrschaft versuchte, ihren Weg zu finden. Damals schien es, als hätten sich die meisten Russen für die Freiheit entschieden – in der Form eines Wilden Ostens, in dem Gesetze nur dann durchgesetzt wurden, wenn sie den persönlichen Interessen eines Einzelnen dienten. Wachstumsschmerzen, über die man hinauswachsen würde.

2005 begannen sich die Dinge zu ändern. Medien in ausländischem Besitz wurden höflich aufgefordert, das Land zu verlassen. Nachrichten sollten zu "100 Prozent optimistisch" sein. Etwa zur gleichen Zeit tauchte ein junger russischer Blogger auf und füllte eine Nische. Sein Name war Alexej Nawalny. Er schrieb über die Korruption in der Regierung, die Inkompetenz der Polizei und die Ineffizienz der Wirtschaft. Bereits 2009 war er der einflussreichste Publizist Russlands. 2013 kandidierte er für das Amt des Moskauer Bürgermeisters und wurde mit 30 Prozent der Stimmen Zweiter.

Offensive gegen Nawalny

Damals sah der Kreml in Nawalny eine echte Bedrohung und startete eine Offensive gegen ihn. Dazu gehörte eine Reihe erfundener Strafanzeigen. Außerdem wurde ihm der Zugang zu den Mainstream-Medien verwehrt. Er durchbrach die Zensur für seine Antikorruptionsbotschaften mithilfe von Youtube, Instagram und Tiktok.

2017 kündigte Nawalny an, für das Präsidentenamt zu kandidieren, mit dem Versprechen, die Macht des Präsidenten zu begrenzen. Der Kreml machte seine Kandidatur durch eine endlose Reihe von Strafanzeigen unmöglich. Heute wissen wir, dass nur wenige Tage nach der Ankündigung eine streng geheime Truppe des Sicherheitsdienstes FSB, darunter Spezialisten für Giftstoffe, ihn zu beschatten begann. Die Spione folgten ihm vier Jahre lang auf mehr als 66 Wahlkampfreisen – bis es ihnen schließlich gelang, ihn mit Nowitschok zu vergiften. Nawalny sollte sterben, doch er überlebte – allen Widrigkeiten zum Trotz. Nach Nawalnys Genesung in Deutschland setzte Putin alles daran, seine Rückkehr nach Russland zu verhindern, und drohte ihm mit sofortiger Verhaftung. Dennoch kehrte er 2021 nach Moskau zurück und wurde unverzüglich ins Gefängnis gesteckt. Lebenslänglich – jedenfalls nach Putins Plänen.

"Kein Land hat sich nach einem einzigen Versuch in eine funktionierende Demokratie verwandelt."

Im Laufe der Jahre habe ich mit vielen Russen diskutiert, ob Russland ein Land ist, in dem eine Demokratie, wie sie Nawalny vorgeschlagen hat, gedeihen kann. Die gängige Meinung war, dass das russische Gesellschaftsmodell einen starken, autoritären Führer bevorzugt und nur eine homöopathische Demokratie braucht: "Sehen Sie, wir haben es mit Boris Jelzin versucht, und es ist gescheitert." Dieses Argument ignoriert die Tatsache, dass kein Land nach einem einzigen Versuch sich in eine funktionierende Demokratie verwandelt hat.

Es ignoriert auch, dass die Bevölkerung, wie in den meisten Ländern, gespalten ist – und wer kann schon sagen, welche Hälfte die von ihr bevorzugte Regierungsform verdient? Es gibt einen weiteren Grund dafür, dass ein demokratisches Russland möglich ist: Auch Putin glaubt das offensichtlich. Sonst würde er nicht so besessen versuchen, prodemokratische Aktivisten wie Nawalny zum Schweigen zu bringen, zu inhaftieren oder zu töten. Er würde auch keinen Weltenbrand riskieren, nur um eine freie Ukraine auszulöschen – diese unangenehme Erinnerung daran, dass Demokratie auch dort gedeihen kann, wo Russisch gesprochen wird.

Putins Kriegsspiel

Wie wird aus Russland eine echte Demokratie? Das kann ich nicht vorhersagen. Es kann durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch geschehen, wie bei der Sowjetunion, durch eine Palastrevolution verärgerter Oligarchen oder nach einer militärischen Niederlage – wie bei Nazi-Deutschland. Putins Kriegsspiel wird diesen Prozess wohl beschleunigen, da die totale Einschränkung der Meinungsfreiheit die letzten Sicherheitsventile beseitigt, die das Regime für viele erträglich machten. Und wenn es so weit ist, kann ich nicht vorhersagen, ob Nawalny Präsident wird oder werden sollte. Aber ich bin mir sicher, dass man ihm eine Chance geben sollte, zu kandidieren – ohne zu riskieren, für den Versuch getötet zu werden. (Christo Grozev, 7.5.2022)