Die internationale Dimension des Widerstands

Der Kreis um den Hitler-Attentäter Stauffenberg hatte Verbindungen ins europäische Ausland und nach Übersee. Auch wenn das Attentat vor 70 Jahren scheiterte, haben diese Beziehungen Früchte getragen.

Ulrich Schlie
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Hitler und Mussolini am Nachmittag nach dem Attentat im von der Bombe Stauffenbergs zerstörten Raum in der «Wolfsschanze». (Bild: Keystone)

Hitler und Mussolini am Nachmittag nach dem Attentat im von der Bombe Stauffenbergs zerstörten Raum in der «Wolfsschanze». (Bild: Keystone)

Was wäre gewesen, wenn der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 geglückt wäre? So hilfreich die kontrafaktische Geschichtsbetrachtung manchmal auch ist, beim etwas anderen Blick auf das Hitler-Attentat vor 70 Jahren wäre das Ergebnis wohl niederschmetternd gewesen. Denn auch für die zum Handeln entschlossene Gruppe um Claus von Stauffenberg (1907–1944) hätten die Alliierten wohl kaum andere Bedingungen gewährt als etwa einem von Himmler oder Göring geführten nationalsozialistischen Post-Hitler-Regime im Falle eines natürlichen Ablebens des deutschen Diktators im Frühsommer 1944.

Westalliierte ohne Interesse

Mit der in Casablanca im Januar 1943 von Churchill und Roosevelt beschlossenen Formel von der «bedingungslosen Kapitulation» waren die Chancen für einen Sonderfrieden nahezu vollständig geschwunden. Dabei war es nicht so, dass es in London und Washington keine Vorstellungen von den Zielen und Plänen der deutschen Opposition gegen Hitler gegeben hätte. Die Fühler, die die konservative Opposition bereits im ersten Kriegswinter 1939/40 über das neutrale Ausland, insbesondere die Schweiz und den Vatikan, in Richtung der Regierung Chamberlain/Halifax ausgestreckt hatte, die Auslandreisen Dietrich Bonhoeffers nach Schweden 1942, die eingehenden Sondierungen Helmuth James von Moltkes über die Türkei 1943, die zahlreichen Auslandaktivitäten Adam von Trott zu Solz' in den Jahren 1939 bis 1943 hatten ein sehr präzises Bild ergeben. Doch den deutschen Hitler-Gegnern wurde in London und Washington die kalte Schulter gezeigt.

Wenn der Faden zwischen der deutschen Opposition und den Vertretern der Westmächte trotzdem nicht ganz abriss, so ist es immer wieder dem couragierten Einsatz Einzelner wie etwa Hans Bernd von Haeftens oder des bereits erwähnten Adam von Trotts oder Helmuth James von Moltkes zu verdanken, die unter konspirativen Bedingungen und auf abenteuerlichen Wegen ihr jeweiliges persönliches Netzwerk nutzten und für diesen Einsatz nach dem 20. Juli 1944 ihr Leben gelassen haben. Allen ist dabei gemeinsam, dass sie den Kampf gegen den Nationalsozialismus in internationalen Kategorien begriffen und dass es ihnen gelang, auf der anderen Seite offene Gesprächspartner zu finden, die ihnen Gehör schenkten, sie bisweilen auch ermutigten und damit gegen den offiziellen Kurs ihres Landes handelten. Wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie diesen schwierigen Weg gehen konnten, war Vertrauen: Vertrauen untereinander, denn die Vorbereitungen für Staatsstreich und Attentat erforderten diskrete und engste Abstimmung und Vertrauen auch auf der anderen Seite über die Ernsthaftigkeit und die lauteren Absichten der Verschwörer. Ganz entscheidend ist dabei gewesen, dass die handelnden Personen vor allem auf deutscher Seite einander seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden waren und sich aus ihren dienstlichen Positionen nach Kräften gegenseitig unterstützen konnten.

Helmuth James von Moltke etwa ist ein Beispiel für den gezielten Einsatz persönlicher Netzwerke und beträchtlicher Courage. 1943 hat er über amerikanische Diplomaten in der neutralen Türkei unter konspirativen Umständen Memoranden an die Regierung Roosevelt übermittelt, die eine Darstellung der Lage in Deutschland enthielten und zugleich aussenpolitisch die Friedensbedingungen und den Platz Deutschlands in einem Nach-Hitler-Europa sondieren wollten. Moltkes Familie mütterlicherseits stammte aus Südafrika und hatte schottische Wurzeln. Er selbst war in Berlin als Anwalt für Völkerrecht und internationales Privatrecht tätig und konnte bereits 1934 bei einem Englandaufenthalt Kontakt zum Mitgründer des aussenpolitischen Instituts Chatham House Lionel Curtis knüpfen. Moltke war zudem in London als Rechtsanwalt zugelassen, im Krieg konnte er als Völkerrechtsberater im Rang eines Sonderführers beim Oberkommando der Wehrmacht über das neutrale Ausland mit seinen britischen Freunden Verbindung halten.

Freundeskreis im Widerstand

Auch Hans-Bernd von Haeften, 1933 in den auswärtigen Dienst eingetreten, eine feinsinnige, zutiefst christliche Persönlichkeit, bedingungslos konsequent in seiner Ablehnung des Nationalsozialismus, nutzte seine dienstliche Stellung im Auswärtigen Amt, seit 1943 als stellvertretender Leiter der kulturpolitischen Abteilung, um die Auslandaktivitäten der Freunde zu unterstützen – allen voran die von Adam von Trott, dem trotz seiner Jugend wohl führenden aussenpolitischen Kopf im Widerstand – und damit Briten und Amerikaner auf den grossen Umsturz vorzubereiten. Trott, während des Krieges Legationssekretär in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes, verfügte über einen international ausgerichteten Freundeskreis. In verschiedenen Denkschriften skizzierte er die Bedingungen, unter denen ein Deutschland ohne Hitler zum Friedensschluss bereit sein würde. Trott, Haeften und Moltke gehörten zu einem Freundeskreis, der nach dem Treffen 1942/43 auf Moltkes schlesischem Gut Kreisau als «Kreisauer Kreis» als eine Art geistiges Zentrum des Widerstands gegen Hitler in die Geschichte eingegangen ist.

Auf diese unkoordinierten und auf persönlichen Beziehungen beruhenden Kontakte musste sich Stauffenberg im Jahr 1944 abstützen, als es galt, die Haltung der Westmächte zu einer deutschen Regierung ohne Hitler nach einem erfolgreichen Staatsstreich zu sondieren. Stauffenberg war das Feld der Diplomatie fremd. Er selbst verfügte über keine Kontakte ins Ausland. Gleichwohl hatte er bereits seit 1942 verspürt, dass unter den gleichgesinnten jüngeren Generalstabsoffizieren eine grosse aussenpolitische Unsicherheit, ja Ratlosigkeit herrschte. Hinzu kam: So klangvoll der Name Stauffenberg in Widerstandskreisen auch war, aus alliierter Sicht war entscheidend, dass er eben nicht eine führende Autorität aus der ersten Reihe des deutschen Generalstabes war: kein Manstein, Kluge oder Rundstedt.

Die militärisch-politische Ausgangslage war aus deutscher Sicht im Sommer 1944 bereits aussichtslos. Wie sollten unter diesen Umständen Verhandlungen auf der Basis von Gleich zu Gleich geführt werden? Stauffenberg wollte Klarheit. Als er Mitte Juni 1944 Adam von Trott vor dessen Abreise zu Gesprächen nach Stockholm traf, lautete die entscheidende Frage: «Ich muss wissen, wie sich England und die USA benehmen, wenn Deutschland zur Aufnahme kurzfristiger Verhandlungen genötigt sein sollte.»

Streit um den richtigen Kurs

Doch Trott wurde die so dringend benötigte Unterstützung verwehrt, er musste in Stockholm, wieder einmal, mit einem Geheimdienstmitarbeiter vorliebnehmen und konnte lediglich ein aussenpolitisches Memorandum übergeben. Darin wurden die weit fortgeschrittenen Vorbereitungen für eine Erhebung in Deutschland angekündigt, freilich ohne Namen zu nennen. Aus britischer Sicht bestand keine Priorität, mithilfe der innerdeutschen Opposition den Krieg früher zu beenden.

Stauffenbergs Strategie war es, möglichst über Kontakte zu den alliierten Oberbefehlshabern zumindest eine persönliche Vertrauensbasis herzustellen, gewissermassen von Heerführer zu Heerführer, auf der dann nach einem erfolgreichen Umsturz rasch hätte aufgebaut werden sollen. Mit dieser unterschiedlichen Herangehensweise an aussenpolitische Fragen hatte es auch zu tun, dass sich Anfang 1944 zwischen Trott und Stauffenberg die Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs verstärkten. Auch die Frage der aussenpolitischen Orientierung – Friedensschluss nach Osten oder nach Westen – hat dabei eine Rolle gespielt. Stauffenberg war vor allem an der Einbindung der Militärs gelegen, eine Vielzahl von ihm angestossener Aktivitäten zeigt, wie ernst er die Frage der aussenpolitischen Absicherung des Attentats nahm und wie sehr er sich seines aussenpolitischen Dilemmas bewusst war.

«Zentrale Lösung»

Trott hat später in den Verhören den Vorwurf erhoben, Stauffenberg habe aussenpolitisch im Nichts gehandelt, doch dies drückt nur das Grunddilemma der deutschen Opposition aus und ist am wenigsten Stauffenberg selbst anzulasten. Sein Ziel war, die Westalliierten zum gemeinsamen Handeln mit der deutschen Opposition für eine schnelle Liquidation des Krieges zu gewinnen. «Westlösung» oder «Ostlösung», «Berliner Lösung» – gemeint war die Durchsetzung des Befehls zur sofortigen Zurücknahme der Front –, dies waren die Themen, die die Freunde leidenschaftlich – und wohl auch kontrovers – am 16. Juli 1944 in Stauffenbergs Wohnung diskutiert haben. Sie gingen damals davon aus, dass die Westfront nicht mehr länger als sechs Wochen halten würde. Am Ende der Besprechung stand der Entschluss zur «zentralen Lösung»: die Beseitigung Hitlers und ein sich anschliessender Staatsstreich.

Fritz Stern, der grosse deutsch-amerikanische Historiker, 1926 geboren, hat mit feinem Gespür die Forderung erhoben, in der Erinnerung an den 20. Juli auch der Gemeinsamkeiten im europäischen Widerstand zu gedenken und «eine europäische Erinnerungsstätte», «eine Gedenkstätte des europäischen Widerstandes» zu errichten. Für seine – wie es in solchen Fällen heisst – «vielbeachtete» Rede gab es langanhaltenden Beifall von allen Seiten. Passiert ist indes nichts. Erinnerungspolitik zählt nicht zu den innovativsten Politikfeldern. Dabei wäre eine Lösung möglich. Ein Ort der Information müsste gefunden werden, ein digitales Archiv, das die Zeugnisse aus den verschiedenen Ländern zusammenführt, verschüttetes Wissen ans Tageslicht bringt.

Die Auslandbeziehungen erinnern daran, dass der deutsche Widerstand durch vielfältige persönliche Verbindungen von Anfang an in europäische und transatlantische Bezüge eingebettet gewesen ist. Auch nach Kriegsausbruch wurden diese Beziehungen unter Einsatz des Lebens aufrechterhalten und haben in der Rezeption nach 1945 in ihren jeweiligen Ländern dazu beigetragen, dass das Bild vom «anderen Deutschland» eine Rückkehr in die Staatengemeinschaft der freien Demokratien ermöglicht hat. Die Überlegungen der deutschen Hitler-Gegner, dass nur durch einen Zusammenschluss der europäischen Demokratien ein Überleben nach dem Krieg, die Fortentwicklung des Völkerrechts und föderative europäischen Strukturen möglich sein würden, waren massgeblich für das europäische Einigungswerk.

Die Botschaft, die der 20. Juli in europäischer Perspektive bereithält, ist ebenso aktuell wie bestechend. Mut und Charakter, die herausragenden Eigenschaften der Frauen und Männer des 20. Juli sind heute so notwendig wie in jenen dunklen Jahren. Hätte es nicht auf der anderen Seite ebenso mutige und charaktervolle Menschen gegeben, die sich über den jeweils offiziellen Kurs in der Aussenpolitik hinweggesetzt hätten, wären die Attentäter vom 20. Juli gänzlich auf verlorenem Posten gestanden. So sind sie zwar gescheitert, aber sie waren nicht allein, und ihr Einsatz war nicht vergebens. Und was gibt es mit Blick auf die vielen täglichen Tragödien von Syrien bis zum Sudan Ermutigenderes als die Erinnerung an eine Handvoll Aufrechter, die über Mut und Zivilcourage verfügten, für die Freiheit und das Recht in Zeiten der Willkür und Unterdrückung einzutreten? Auch in den dunkelsten Zeiten ist das Licht der Humanität nie gänzlich erloschen.

Ulrich Schlie ist Historiker und war Politischer Direktor im deutschen Verteidigungsministerium.