Jan Schneider steht von seiner Couch im Zelt der Mahnwache Lützerath auf und tritt ins Freie. Am Eingang über ihm hängt ein Banner mit dem Slogan "Alle Dörfer bleiben". Schneider ist ein großer, massiger Mann. Er passt nicht in recht ins Bild der anderen größtenteils jüngeren Klimaaktivisten, die rundum Baumhäuser bauen, um den kleinen Weiler und weitere Dörfer, die verschwinden sollen, gegen die Räumung durch den Energiekonzern RWE zu schützen. Vielleicht ist der Unterschied, dass er viele Dinge schon erlebt hat, von denen andere nur gelesen haben. 

Er überquert eine Straße, die Überreste der L227, abgerissen als Vorbereitung für das Vorrücken der Bagger, und läuft auf einen kürzlich aufgeschütteten Erdwall zu. Wenn er den überschreitet, darf die Polizei ihn festnehmen. Dahinter mitten im rheinischen Braunkohlerevier: der Tagebau Garzweiler, ein Loch so groß, dass die Lkw auf der gegenüberliegenden Autobahn kaum auszumachen sind. Ein Loch, das weiter wachsen soll, über Lützerath hinaus, um noch auf Jahre weiter Kohle zu verbrennen.

Ungefähr da, wo Schneider steht, verläuft der deutsche Teil einer der international wohl am heftigsten umkämpften Grenzen, der 1,5-Grad-Grenze. Will Deutschland seinen Beitrag dazu leisten, dass die globale Erderwärmung nicht darüber hinaus steigt, wie in Paris vereinbart, dann ist an dieser Stelle Schluss mit dem Graben. Dann darf diese Kohle nicht verfeuert werden. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet.

Dabei interessiert sich Schneider weniger für internationale Verträge als für die Physik, die dahinter steht. 1,5 Grad. Bei höherer globaler Erwärmung, so heißt es vom Weltklimarat, steigt das Risiko, klimatische Kipppunkte zu überschreiten. Danach verselbstständigt die Klimakrise sich. Eine Erwärmung um mehrere Grad wäre die Folge. Pflanzen, Tiere und Menschen wären dann auf dem Planet Erde nur noch sehr begrenzt lebensfähig. "Lützerath muss verteidigt werden", sagt Schneider mit Blick auf die Grube. "Wenn das schiefgeht, kannst du dein Gefrierfach mit Wodka vollmachen und das war's. Dann kannste aufhören, darüber nachzudenken, was in Zukunft noch passiert."

Jan Schneider steht vor einem Zelt der Mahnwache Lützerath. © Raphael Thelen

Eine heikle Situation für RWE

Ob es so weit kommt, entscheidet sich in diesen Tagen auch in Glasgow, wo sich Zehntausende Staatenlenker*innen, Diplomaten/Diplomatinnen und Unterhändler*innen für die 26. Weltklimakonferenz treffen. Es ist das womöglich wichtigste Treffen seit Paris vor sechs Jahren. In Glasgow wird sich zeigen, ob die Länder es ernst meinen. Deutschland präsentiert sich auf diesen Konferenzen gerne als Vorreiter, dabei ist dieser Ruf seit dem Kohleausstiegsgesetz angekratzt: Kein anderes Land der Welt fördert mehr Braunkohle und bis 2038 soll es weitergehen. Das ist acht Jahre länger als Frankreich, Spanien, Großbritannien und 13 andere europäische Länder.

Ab dem 1. November darf RWE theoretisch nach Lützerath rein, Bäume fällen und die verbleibenden Häuser abreißen, Platz schaffen für die Bagger. Also dann, wenn die Verhandlungen in Glasgow und die Gespräche der Ampel-Koalitionäre noch laufen. Eine vertrackte Situation – vor allem für RWE. Denn die Besetzer um Jan Schneider, die Lützerath schützen wollen, spekulieren darauf, dass die Bilder einer gewaltsamen, polizeilichen Räumung um die Welt gehen würden.

Schneider stammt aus Pritzwalk, in der Nähe der Ostsee. 1967 geboren, ist er alter DDR-Bürger, wie er sagt. Weil er studieren wollte, musste er drei Jahre in die Nationale Volksarmee zum "Ehrendienst". In den Tagen der friedlichen Revolution fand er sich auf einmal hinter einem Zaun wieder, in der Hand eine Kalaschnikow, in der Tasche drei geladene Magazine und ihm gegenüber auf der anderen Seite des Zauns: Menschen, die ihre Freiheit wollten. Es war das erste Mal, dass er den Glauben an eine Gesellschaftsordnung verlor.