Gastkommentar

Ein Krieg der Vergangenheit gegen die Zukunft – Putin will das Rad der Geschichte unbedingt zurückdrehen, es könnte ihm aber aus den Händen gleiten

Jahrelang hat Wladimir Putin auf den Einmarsch in die Ukraine hingearbeitet. Hinter dem Krieg gegen den freiheitsliebenden Nachbarn zeigt sich ein äusseres Projekt wie auch ein inneres Ziel: Imperialer Anspruch und soziale Kontrolle gehen Hand in Hand.

Nicolas Hayoz, Jens Herlth, Siegfried Weichlein
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Präsident Putin spricht anlässlich der Siegesparade vom 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau.

Präsident Putin spricht anlässlich der Siegesparade vom 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau.

Sputnik / Reuters

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist faktisch schon seit langem im Gang, nicht nur vor Ort im Donbass seit 2014, sondern auch als Propaganda- und Geschichtskrieg des Putin-Regimes und seiner medialen Sprachrohre. Dabei wird mit allen Mitteln die staatliche Legitimität der Ukraine bestritten. Die Ukraine blickt ihrerseits auf eine lange Geschichte der politischen und kulturellen Unterdrückung durch Russland zurück. Der Geschichtskrieg gegen die Ukraine gehört zur Vorgeschichte der jüngsten Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Er taucht alle Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine ins Licht der legitimen Selbstverteidigung gegen einen «nazistischen» Aggressor. Adressat der Geschichtslektionen ist in erster Linie die russische Bevölkerung, deren Loyalität Putin auf gar keinen Fall verlieren möchte.

Putins Aversion gegen die liberale Demokratie und seine Rede von der Demütigung oder gar der drohenden Vernichtung Russlands durch den Westen müssen vor dem Hintergrund des «postimperialen Traumas» (Sergei Medwedew) gesehen werden. 2014 hat Putin mit der Annexion der Krim und der faktischen Besetzung von Teilen des Donbass gezeigt, dass er nicht bereit ist, die Westorientierung der Ukraine und deren Souveränität als Staat zu akzeptieren. Seine Obsession mit der Ukraine lässt sich nur vor dem Hintergrund des Verlustes der imperialen Welt der Sowjetunion begreifen. Für die Elite des Regimes, deren entscheidende Figuren sich wie Putin selbst aus dem vormals sowjetischen Sicherheitsapparat rekrutieren, ist die Rückkehr zur früheren – territorialen und militärischen – Grösse offensichtlich ein politisches Ziel an sich. Wie in den Zeiten des KGB zeigt sich Putin offen für Verschwörungstheorien.

«Entnazifizierung» als «Entukrainisierung»

Aussagen von kremltreuen Propagandisten der letzten Wochen lassen keinen Zweifel: Die von Putin geforderte «Entnazifizierung» läuft auf eine «Entukrainisierung» hinaus, die Abschaffung der Ukraine als Nation. Hier zeigen sich zwei Aspekte der russischen Geschichtspropaganda: Einerseits darf es keine ukrainische Nation geben. Laut Putin sind alle Menschen in der Ukraine, ob russischsprachig oder nicht, Teil der einen «russischen Welt», also einer durch Sprache, Mentalität, Kultur, Geschichte verbundenen Einheit aller «russischen» Menschen. Andererseits muss der als Nazi bezeichnete ukrainische Feind vernichtet werden, weil er das Überleben des russischen Volkes bedroht.

Anders als das sowjetische Regime kann sich das heutige Russland nicht mehr ein gesellschaftliches Zukunftsprojekt auf die Fahne schreiben.

Der russische Aussenminister Sergei Lawrow sprach gleich nach Beginn des Krieges von einem «ethnisch» orientierten Biowaffenprogramm, das in der Ukraine betrieben werde (mit amerikanischer Unterstützung, versteht sich); der weltbekannte Regisseur Nikita Michalkow sekundierte, es gehe um die «Vernichtung des slawischen ‹ethnos›». Zur ethnonationalistischen Begründung des Kriegs schreibt Putin die Vergangenheit und die Gegenwart kurzerhand um.

Putin selbst führte die Verhinderung eines mutmasslichen Genozids an der russischen Bevölkerung im Donbass als den Hauptgrund für die militärische Intervention in der Ukraine an, die er damit in eine Reihe mit den humanitären Interventionen des Westens stellt. Dahinter steht eine historische Grundannahme.

Leugnung und Verdrehung

Die wichtigste ideologische Säule des Putin-Regimes ist der Zweite Weltkrieg, der in Russland nur als «Grosser Vaterländischer Krieg» figuriert. Der Krieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion wurde bekanntlich als rassistisch motivierter Vernichtungskrieg geführt. Er ist der Ur-Genozid, auf den sich auch der heutige Genozid-Vorwurf Putins zurückbezieht. Die historische Referenz ist dabei immer wieder der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Jahr 1941.

Die Formel von der «Entnazifizierung» der Ukraine ist nur aus den Realitäten der sowjetischen Propaganda der Nachkriegszeit zu erklären. Mit dem Begriff des Genozids knüpft die russische Propaganda an die heldenhafte Erzählung eines Kriegs von Gut gegen Böse an, in dem es um nicht weniger geht als um die Existenz des eigenen Volkes. Wer immer diesen Sieg gegenüber dem absolut Bösen des Nationalsozialismus relativiert oder infrage stellt, wird selbst zum «Nazi» und muss bestraft werden.

Putin schreckt nicht vor der Leugnung des Offensichtlichen und der Verdrehung der Zusammenhänge zurück. Spätestens seit den Geschehnissen von Butscha ist klar: Soldaten der russischen Armee haben furchtbare Kriegsverbrechen begangen. Diejenigen, die laut offizieller russischer Darstellung einen Genozid verhindern sollten, sind nun dringend tatverdächtig, einen solchen begangen zu haben. Für die russische Propaganda ist freilich auch das kein Problem. Ihre Version: Die Toten von Butscha seien von ukrainischen Einheiten platziert worden. Ziel der Ukraine sei es gewesen, damit den künftigen Genozid am russischen Volk in Russland zu rechtfertigen, der vom «kollektiven Westen» seit Jahren von langer Hand geplant werde.

Mit ihrer Rhetorik des Ausschlusses und der Entmenschlichung bleiben Putin und seine Propagandisten im Denkrahmen der Nazis und drehen diesen zur Verteidigung der Sowjetunion um. Aus dieser Sicht war sogar der Ribbentrop-Molotow-Pakt vom August 1939 samt der anschliessenden Annexion Ostpolens und der baltischen Staaten legitim, weil er die Sowjetunion im Kampf gegen Nazideutschland stärkte und mit zum Sieg führte.

Doch treten trotz dem dauernden historischen Bezug auf Stalins Abwehrkampf gegen die Wehrmacht die Widersprüche in Putins Politik offen zutage. Anders als das sowjetische Regime kann sich das heutige Russland nicht mehr ein gesellschaftliches Projekt – soziale Gerechtigkeit – auf die Fahne schreiben. Im Gegenteil, innerhalb der russischen Bevölkerung, die vom Kreml, von seinem Staatskapitalismus und seinen Oligarchen ausgebeutet wird, herrscht eine grosse soziale Ungleichheit, die von Putins Regime nur sporadisch und vor allem in Krisenzeiten adressiert wird. So wird Sowjetnostalgie mit einem rassistisch grundierten Nationalismus vermengt, ohne jede Rücksicht auf argumentative Konsistenz. Es geht vor allem darum, Ressentiments zu verstärken, die bedenkenlos aus der Sowjetzeit in die Gegenwart übernommen werden.

Die Befürwortung des Krieges in der Gesellschaft

Ob die schrecklichen Verbrechen, die sich in Butscha und andernorts ereignet haben, wirklich als Genozid zu qualifizieren sind, werden Forensiker, Juristen und Historiker zu klären haben. Was aber jetzt schon beobachtet werden kann, ist, dass sich im Kontext dieses Krieges eine Entgrenzung der Gewalt und eine Entmenschlichung unerhörten Ausmasses vollziehen. Solche Tendenzen durchdringen die postsowjetische russische Gesellschaft seit langem auch im Inneren. Menschenleben zählten bei der Geiselbefreiung im Dubrowka-Theater (2002) oder während der Covid-Pandemie nicht viel.

Die russische Bevölkerung ist heute mehr denn je einer starken Propaganda ausgesetzt, die vor allem von staatlichen Fernsehprogrammen in Umlauf gebracht wird. Sie erklärt das Ausmass der Unterstützung für Putins Kurs und dessen Krieg. Es sind vor allem die wenig Gebildeten und die Älteren in der Provinz, die für die Propaganda des Regimes am empfänglichsten sind. Hier glaubt man wirklich, dass in der Ukraine vom Westen gelenkte Nazis an der Macht seien. Dagegen ist in der Hauptstadt Moskau eine Mehrheit gegen den Krieg. Indes deutet gegenwärtig nichts auf eine Antikriegsstimmung in der Breite der Bevölkerung hin. Die Repressionen und die propagandistische Gehirnwäsche durch das Regime bestimmen das Denken und die Wahrnehmung der meisten Menschen in Russland.

Der wuchernde Staat hält die russische Gesellschaft durch eine immer rigidere Kontrolle des öffentlichen Raums im Zaum, definiert die Grenzen des Sagbaren und setzt sie durch und mobilisiert durch seine ethnonationalistische Propaganda. Dass diese Mobilisierung effektiv ist, zeigen vielfältige, scheinbar spontane Manifestationen der Unterstützung für den Kriegszug in der Ukraine. Man kann hier das Phänomen einer «unzivilen» Zivilgesellschaft beobachten: Vermeintliche «Verräter» werden an den Pranger gestellt und mit Z-Symbolen gebrandmarkt. Bildungs- und Kultureinrichtungen nehmen Teil an bizarren Z-Choreografien, um die bedingungslose Unterstützung der Heimatfront für die Soldaten in der Ukraine zu dokumentieren.

Die reale Zivilgesellschaft dagegen wird seit langem unterdrückt, kriminalisiert und marginalisiert. All diese Aspekte sind Ausdruck einer totalitären Ambition des Regimes, die impliziert, dass nur der Kreml bestimmen darf, was wahr oder falsch ist, und die letztlich die russische Gesellschaft entpolitisiert. In diesem Sinne zeigt sich hinter diesem Krieg in der Ukraine sowohl ein äusseres Projekt als auch ein inneres Ziel: Imperialer Anspruch und soziale Kontrolle gehen Hand in Hand. Zwar sprechen auch in Russland einige Mutige von der Verantwortung, die die Bürgerinnen und Bürger des Landes für diese Verbrechen tragen. Doch ist dies eine verschwindende und zunehmend an Leib und Leben gefährdete Minderheit. Klar ist aber auch: Die Menschen in Russland werden irgendwann gegenüber den schrecklichen Geschehnissen in der Ukraine Stellung beziehen müssen.

Nicolas Hayoz, Jens Herlth und Siegfried Weichlein sind Professoren der Universität Freiburg in den Bereichen Politikwissenschaft, slawistische Literatur und Zeitgeschichte.

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