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Rekonstruktion der Bürgerversammlung in Kassel Ein Satz - und der Hass danach

Der Verdächtige im Fall Lübcke hat die Tat aus Ärger über eine Aussage des CDU-Politikers gestanden. Aber was geschah an jenem 14. Oktober 2015, als Lübcke sich zu einer Asylunterkunft äußerte? Sein Pressesprecher erinnert sich.
Der nordhessische Regierungspräsident Walter Lübcke (Archivfoto): "War das jetzt irgendwie daneben?", fragte er seinen Pressesprecher

Der nordhessische Regierungspräsident Walter Lübcke (Archivfoto): "War das jetzt irgendwie daneben?", fragte er seinen Pressesprecher

Foto: Uwe Zucchi/ dpa

"Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen."

Lohfelden, Nordhessen, es ist der 14. Oktober 2015. Kaum hat der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke diesen Satz gesagt, wird er ausgebuht und beschimpft. Der CDU-Politiker informiert über ein Flüchtlingsheim, das in Kürze eröffnet werden soll. Personen aus dem rechten Milieu filmen die Veranstaltung, verbreiten die Aussage Lübckes im Netz.

Wochen und Monate sieht sich Lübcke Hass und Beschimpfungen ausgesetzt. Vier Jahre später wird der 65-Jährige auf seiner Terrasse ermordet.

Der Rechtsextremist Stephan Ernst hat nun gestanden, den Kasseler Regierungspräsidenten getötet zu haben. Er sagte nach SPIEGEL-Informationen, seine Tat sei eine Reaktion auf Lübckes Äußerungen über Flüchtlinge gewesen. Er war an jenem Abend ebenfalls in dem Bürgerhaus, nennt die Veranstaltung sogar als Motiv.

Doch wie genau verlief dieser Abend? Was geschah vor diesem Satz Lübckes und danach? Provozierten Rechtsextreme Lübcke gezielt zu seiner Aussage? Eine Rekonstruktion.

14. Oktober 2015

Lübcke stellte an diesem Abend die Eckpunkte für eine Erstaufnahme-Unterkunft vor. Mehr als 800 Bürger nahmen an dem Info-Abend teil und hatten die Gelegenheit, Fragen zu stellen.

Die Veranstaltung im Bürgerhaus sei eine von vielen dieser Art im Jahr 2015 gewesen, sagt Michael Conrad dem SPIEGEL. Er arbeitete von Beginn an als Pressesprecher für Lübcke im Regierungspräsidium. An vielen Orten in Nordhessen seien im Jahr 2015 Flüchtlingsunterkünfte entstanden. Wenn eine Immobilie oder ein Ort zur Unterbringung gefunden war, organisierten Kommune und Regierungspräsidium gemeinsam Info-Veranstaltungen. So auch in Lohfelden. Doch an diesem Abend sei es "nicht nur sachlich" zugegangen, schreibt später auch die "Hessische Niedersächsische Allgemeine" ("HNA"). 

Auch Conrad war an jenem Abend dabei, als Lübcke von einigen Personen im Bürgerhaus beschimpft und ausgebuht wurde. Eigentlich fing alles an wie immer, erinnert sich Conrad. "Es wurde aber schnell klar, dass die Stimmung sich anders entwickelte. Die Fragen waren sehr polemisch und provozierend", sagt Conrad. Aus dem Publikum sei dann "scheiß Staat" und "scheiß Regierung" gerufen worden.

Er hatte den Eindruck, dass sich Personen im Publikum an verschiedenen Stellen verteilt hätten, um gezielt Stimmung zu machen. "Diese Provokation war kein Zufall", sagt Conrad. Lübcke habe dann mit dem bekannten Satz reagiert.

Die Szene ist festgehalten in einem nicht mal einminütigen Video. Die Aufnahme zeigt, wie Lübcke unterbrochen wird und auf einen Zwischenruf reagiert. Dann bedankt er sich bei Ehrenamtlichen und lobt die örtliche Schule, die zur Wertevermittlung beitrage. "Ich würde sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten", sagte Lübcke weiter. Schließlich fällt der später viel zitierte Satz: "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist."

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Conrad erinnert sich gut an die Situation nach der hitzigen Debatte. Lübcke habe ihn gefragt: "War das jetzt irgendwie daneben?" Er, Conrad, habe ihm geantwortet: "Ich bin total stolz auf Sie."

Die Mehrheit der Menschen in Lohfelden habe der Flüchtlingsunterbringung positiv gegenübergestanden, sagt Conrad. Etwa 700 Menschen wurden in der nordhessischen Gemeinde untergebracht.

Das Video mit Lübckes Aussage taucht noch am selben Abend auf YouTube und Facebook auf.

Lübcke diskutiert 2015 mit Teilnehmern einer Demonstration, die sich für die Belange der Flüchtlinge einsetzt

Lübcke diskutiert 2015 mit Teilnehmern einer Demonstration, die sich für die Belange der Flüchtlinge einsetzt

Foto: Uwe Zucchi/ DPA

15. Oktober 2015

Einen Tag später berichten Lokalmedien über den Info-Abend, gleichzeitig verbreitet sich Lübckes aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat im Netz. Facebook-Seiten aus dem rechten Spektrum teilen das Video. Darunter Seiten mit Titeln wie "Deutsch sein ist kein Verbrechen". In den Kommentarspalten wird Lübcke beschimpft, einige fordern den Rücktritt des Regierungspräsidenten.

16. Oktober 2015

In einem Interview mit der "HNA"  nimmt Lübcke Stellung und verteidigt seine Aussage. Er wolle niemandem den Mund verbieten und es sei ihm wichtig, die Ängste der Bürger zu kennen und zu verstehen, sagte Lübcke damals. Dennoch bleibe er bei seiner Aussage. Diese "war an jene gerichtet, die durch Zwischenrufe ihre Verachtung unseres Staates artikuliert oder diesen Schmähungen applaudiert haben", sagt er weiter.

Am selben Tag berichtet die Nachrichtenplattform "lokalo24" , dass Lübcke Morddrohungen erhalten habe. Mehr als 350 E-Mails seien bis zu diesem Zeitpunkt als Reaktion auf das Video eingegangen, darunter auch Morddrohungen. "Wir haben das an die Polizei und den Staatsschutz übergeben, wir hatten einfach zu viel mit der Flüchtlingsunterbringung zu tun", sagte Conrad.

19. Oktober 2015

Noch immer gehen bei Lübcke Drohungen ein. "Über das gesamte Wochenende sind weitere E-Mails gekommen", sagte Conrad damals lokalen Medien. Mittlerweile hat auch die Polizei bestätigt, E-Mails auf strafrechtliche Relevanz zu prüfen.

An diesem Tag ist in Dresden auch die Einjahresfeier von Pegida. In seiner Hassrede nimmt der Autor Akif Pirincci auch Bezug auf das Lübcke-Zitat. Es gäbe natürlich auch andere Alternativen, mit Deutschen umzugehen, die mit der aktuellen Integrationspolitik nicht einverstanden seien. "Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb." Etwa 20.000 Pegida-Anhänger sind an diesem Tag in Dresden auf der Straße.

Pirincci wird für diese Rede später wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Lübckes Zitat wurde seither immer wieder auf rechten Blogs und in Foren verbreitet.

Zuletzt teilte Erika Steinbach im Februar dieses Jahres einen Eintrag diesbezüglich über ihre Social-Media-Kanäle. Auf Twitter hat Steinbach ihren Post mittlerweile gelöscht. Auf ihrer Facebook-Seite ist er noch zu sehen, er wurde mehr als 860-mal geteilt, darunter sind noch immer zahlreiche gewaltverherrlichende und hetzerische Kommentare gegen den mittlerweile getöteten Lübcke zu lesen.

Video: Stephan Ernst legt Geständnis ab

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