Von McDonald’s bleibt höchstens das Menu – Russlands Wirtschaft wahrt noch den Schein, aber entkoppelt sich vom Rest der Welt

In Russland kommen neue Marken auf. Das ist aber weniger eine Bereicherung des Marktes als die Folge des Rückzugs internationaler Firmen. Die Sanktionen des Westens werfen ihre grossen Schatten – ihre Folgen spüren die Russinnen und Russen jeden Tag.

Markus Ackeret, Moskau
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Noch sind die McDonald's-Logos in Moskau zu sehen.

Noch sind die McDonald's-Logos in Moskau zu sehen.

Evgenia Novozhenina / Reuters

In Russland hat eine neue Phase der kriegsbedingten wirtschaftlichen Umwälzungen in der Unternehmenswelt begonnen. Direkt nach dem Beginn des Krieges hatten internationale Unternehmen Schlag auf Schlag bekanntgegeben, Russland verlassen zu wollen, und ihre Operationen in dem Land oftmals zeitweilig sistiert. Nun vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über neue Eigentümer von Firmen berichtet wird, die zuvor Teil weltumspannender Marken und Konzerne waren.

Verkauf an einheimische Partner

Vor zehn Tagen war die Reihe an der russischen Niederlassung der Zurich. Die Versicherung, die im März sogar vorläufig auf das Z in ihrem Logo verzichtete, um Assoziationen mit der Propagandakampagne zur Unterstützung der «militärischen Spezialoperation» in der Ukraine zu vermeiden, verkaufte ihr Russland-Geschäft an lokale Mitarbeiter. Weitaus aufsehenerregender war der Verkauf des russischen McDonald’s-Geschäfts an einen der bisherigen regionalen Franchise-Nehmer, den im Kohlebergbau reich gewordenen Alexander Gowor aus dem sibirischen Kohlerevier Kusbass.

Auch Modehäuser der polnischen Gruppe LPP, der Heimwerkermarkt Obi, die französische Société Générale oder die Beratungsfirma McKinsey gaben die Kontrolle über ihre russischen Einheiten an die einheimischen Partner ab. So entkoppelt sich die russische Wirtschaft vom Weltmarkt – die internationalen Konzerne ziehen sich zurück, die lokalen Mitarbeiter führen das russische Geschäft weiter. Renault musste gar einer Art Verstaatlichung zustimmen, weil die russische Führung die Arbeitsplätze retten und Renault aussteigen wollte.

Die Übernahme der Renault-Werke und -Beteiligungen, der Verkauf der russischen Strukturen von McDonald’s und von Detailhändlern lässt auch den russischen Staat frohlocken: In den Einkaufszentren geht das Licht in den dunkel gewordenen Läden wieder an, und die bisherigen McDonald’s-Filialen werden unter einem noch unbekannten Namen womöglich gar mehr oder weniger dasselbe Menu anbieten. Diejenigen, welche die Schliessung all dieser Geschäfte immer schon für nur vorübergehend gehalten hatten, werden sich bestätigt fühlen und den Verkauf an Einheimische erst noch als Triumph der russischen Wirtschaft über die Sanktionen des Westens werten. Der Schein der Normalität gewinnt gegen die bittere Wahrheit des russischen Rückzugs.

Schwere Nebenwirkungen der Sanktionen

Ein Beleg für das angebliche Nichtfunktionieren der Sanktionen ist es jedenfalls nicht. Wann vom Band des ehemaligen Renault-Werks in Moskau, wie angekündigt, Autos der Marke Moskwitsch dank einem chinesischen Partner rollen werden, ist unklar. Die vorläufige Herabsetzung von Standards bei Autos, die auf Kosten der Sicherheit gehen, ist auch nicht wirklich eine Erfolgsmeldung. Fast alle Autowerke in Russland stehen mehr oder weniger still, weil sie für ausländische Marken produzierten, die nicht wissen, wie es mit dem Russland-Geschäft weitergehen soll. Die Firma Awtotor in Kaliningrad, die unter anderem BMW-Modelle produzierte, bot ihren Mitarbeitern gar Landstücke für die Selbstversorgung an. Und die – erst relativ spät nach Russland gekommene – Kaffeehauskette Starbucks schliesst offenbar definitiv.

Auch der Rückzug von Siemens aus Russland ist ein harter Schlag. Die modernen Hochgeschwindigkeitszüge Sapsan und Regionalzüge, die auch für mittlere Fernzug-Distanzen zum Einsatz kommen, wurden in Zusammenarbeit mit dem deutschen Konzern entwickelt, gebaut und gewartet. Die Wartung übernimmt jetzt die staatliche russische Eisenbahngesellschaft RZD selbst, wie es mit der Fertigung weitergeht, ist noch unklar. Eindeutig ist aber, dass die Pläne zu Ausbau und Modernisierung des Schienennetzes und der Lokomotiven und Waggons in den Sternen stehen. Eine künftige Zusammenarbeit mit chinesischen Unternehmen ist sicherlich denkbar, aber noch weit davon entfernt, spruchreif zu sein.

Wegen der Sanktionen muss die zuvor global erfolgreiche Fluggesellschaft Aeroflot bald schon damit anfangen, Teile ihrer Flotte zu zerlegen, um an Ersatzteile für Boeing- und Airbus-Flugzeuge zu kommen. Auf dem Automarkt gibt es kaum noch Neuwagen. Lieferketten sind unterbrochen, zwingend notwendige Komponenten können nicht mehr importiert werden. Die Lokalisierung der Fertigung und die Importsubstituierung in der Landwirtschaft erweisen sich als Chimäre: Ohne die Verflechtung mit der Weltwirtschaft funktionieren auch diese nicht.

So berichtete eine Zeitung vor einigen Wochen über drohende Engpässe bei der Wurstherstellung, weil die Häute für Würste importiert werden. Die Suche nach Alternativen für Zulieferer ist schwierig und teuer. Der Staat legalisiert auch Mittel, die zuvor untersagt waren. So ist der Parallelimport ohne Zustimmung des Rechteinhabers für zahlreiche mit Sanktionen belegte oder von den Verkäufern nicht mehr nach Russland gelieferte Produkte nun erlaubt.

Wirtschaftsdaten unter Verschluss

Um den Schein besser wahren zu können, haben die russische Statistikbehörde, die Ministerien, die Zentralbank und die Zollbehörde die Veröffentlichung von Daten eingeschränkt. So werden keine Aussenhandelsstatistiken mehr publiziert. Offiziell soll es damit dem Westen erschwert werden, die Effektivität der Sanktionen zu ermessen und mögliche Schlupflöcher zu erkennen. In der Praxis bedeutet es, dass Planungen und Prognosen erschwert werden.

Das führt zu weiteren Verzerrungen, Verzögerungen und gewiss auch Preissteigerungen. Vor allem aber verdeckt es den Zustand der Wirtschaft. Im März etwa, als die Datensätze noch zugänglich waren, wurden 50 Prozent weniger Waschmaschinen produziert. Im April könnten es aber mehr gewesen sein, weil die Lagerbestände an importierten Komponenten abnehmen.

Aussenhandelsstatistiken lassen sich jedoch über die Handelspartner rekonstruieren. Auch im Wechselkurs spiegelt sich die schiefe Handelsbilanz. Der Rubel macht Kapriolen. Er ist faktisch nicht mehr frei konvertierbar, womit eine der wichtigsten geldpolitischen Errungenschaften der Ära Wladimir Putins zerstört wird. Die russische Währung stürzte kurz nach Ankündigung der westlichen Sanktionen drastisch ab, nun befindet sie sich dank einer Vielzahl ausgeklügelter Eingriffe der Zentralbank – unter anderem strengen Kapitalkontrollen – seit einigen Wochen auf dem Höhenflug. Der Rubel erreichte zwischendurch einen seit mehr als sieben Jahren unerreichten Wert gegenüber dem Dollar und dem Euro. Das bereitete sogar der Regierung Sorgen, weil dadurch die Einnahmen aus Exporten geringer ausfallen. Die Zentralbank hat mittlerweile korrigierend eingegriffen und den Leitzins gesenkt, was sich sofort auf den Rubelkurs auswirkte.

Der Wechselkurs ist trügerisch, auch wenn Regierungsvertreter behaupten, er bilde die Wirklichkeit ab. Weil die Importe so sehr zurückgegangen sind, kaum noch Investitionen ins Land fliessen und es kaum möglich ist, Rubel in bar in Dollar oder Euro zu tauschen, ist er wenig aussagekräftig. Es gibt wieder mehrere Kurse, je nach Markt. Für den Schein ist der Wechselkurs aber wichtig: In Russland gilt er vielen als Richtwert. Dabei wirkt der Blick auf die gegenwärtige Entwicklung beruhigend.

Allerdings hat die Bevölkerung nicht viel davon – ausser dass einige Importgüter sich weniger verteuert haben, als zunächst befürchtet worden war. Es ist nicht nur kaum möglich, Dollar und Euro in bar zu bekommen. Wegen der eingeschränkten Flugverbindungen ins Ausland und der Abkoppelung der russischen Kreditkarten von Visa und Mastercard ist es für die Mittelschicht auch schwierig geworden, Geld im Ausland auszugeben. Tickets für Flüge Richtung Westen – meist via Istanbul, Belgrad oder, falls der Landweg in Kauf genommen wird, Finnland oder das Baltikum – sind teuer, und die Reisen dauern um ein Vielfaches länger. Ohne ausländisches Bank- und Kreditkartenkonto ist es praktisch unmöglich, selbständig im Ausland Hotels zu buchen.

Ruhe vor dem Herbststurm?

Scheinbare Normalität herrscht auch in den Lebensmittelgeschäften. Die Regale sind wieder voll. Nur ganz zu Beginn der Krise gab es, wegen einer Mischung aus Nachschubproblemen und Panikkäufen, Engpässe etwa beim Zucker oder bei beliebten Getreidesorten. Gleichwohl bemerkt jeder, der regelmässig einen ähnlichen Warenkorb einkauft, Veränderungen.

Produkte aller Art verteuern sich um 10 bis 20 Prozent, eine weitverbreitete Spülmittel-Marke kostet gar mehr als 50 Prozent mehr. Aus dem Sortiment verschwinden, etwa bei Teigwaren, importierte, etwas teurere Marken. An der Verpackung und auch an den Kassenbons wird gespart – bei beidem haben sich die Rohstoffe stark verteuert.

Die Meinung unabhängiger russischer Ökonomen ist einhellig: Die gegenwärtige Situation gleicht einer Ruhe vor dem Sturm. Für die Logistikprobleme, derzeit eines der schwierigsten Felder, wird zwar an Lösungen gearbeitet. Firmen verlagern ihre Produktion nach Kasachstan oder beziehen ihre Waren über dieses Nachbarland. Aber nicht alle benötigten Komponenten lassen sich gleich schnell finden.

Im Sommer und vor allem Herbst dürften Lagerbestände abgebaut sein und sich die Probleme verschärfen, die sich daraus ergeben, dass die zuvor stark global eingebundene russische Wirtschaft in einem unvergleichlichen Entkoppelungsprozess befindet.

Russland werde es noch besser gehen als vor dem 24. Februar, behaupten Propagandisten und Politiker im Fernsehen. Auch wenn die russische Wirtschaft sich als robuster erweist und die Bevölkerung auch weiterhin ihre Duldsamkeit zeigt, scheint dieser Optimismus völlig fehl am Platz. Genauso wie der Vergleich mit den neunziger Jahren: Damals öffnete sich das Land unter grossem Ächzen, Stöhnen und vielen schwerwiegenden Verwerfungen. Heute schliesst es sich zumindest nach Westen ab – und selbst die Chinesen sind zurückhaltend.

Bis jetzt funktioniert aber die staatliche Propaganda: Die Bevölkerung verbindet die Wirtschaftsprobleme und die spürbare Inflation nicht mit dem Krieg in der Ukraine, sondern sieht darin eine Bestrafung durch den Westen, der Russland kleinhalten will.

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