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Meinung Pisa-Studie

Die Jungs bleiben in der Schule auf der Strecke

Jungen hinken den Mädchen in der Lesekompetenz hinterher. Doch für sie gibt es kaum spezifische Förderprogramme. Jungen hinken den Mädchen in der Lesekompetenz hinterher. Doch für sie gibt es kaum spezifische Förderprogramme.
Jungen hinken den Mädchen in der Lesekompetenz hinterher. Doch für sie gibt es kaum spezifische Förderprogramme.
Quelle: picture alliance / Bildagentur-o
Mädchen hinken Jungs im Rechnen hinterher, Jungs den Mädchen im Lesen. Doch während die einen gefördert werden, werden die anderen vergessen. Schluss mit dem geschlechtsspezifischen Förderwahn.

Alles in Butter, Deutschland liegt überm Durchschnitt! Die Jubelarien auf das vorweihnachtliche Überraschungs-Ei namens Pisa waren einstimmig. Klar, ein paar Wünsche bleiben immer offen: So hat jeder fünfte Schüler schon mal eine Klasse wiederholt; die Anzahl der Schüler, die von nicht ausreichend qualifizierten Mathematiklehrern unterrichtet werden, ist um elf Prozent gestiegen; deutsche Schüler hören ihren Lehrern immer weniger zu.

Der Anteil unwilliger Schüler erhöhte sich von 22 auf 36 Prozent und liegt damit über dem OECD-Durchschnitt; auch beklagen immer mehr Schüler, dass es bei ihnen im Klassenzimmer „drunter und drüber geht“ und oft zu laut sei und dass „es lange dauert, bis die Schüler mit dem Arbeiten anfangen“.

All das sind Zustände, denen auf den Grund zu gehen lohnte, zumal alle Schüler – Jungen wie Mädchen - davon betroffen sind, wenn in der Klasse Tumult herrscht und der Matheunterricht unter aller Kanone ist.

Rotkäppchen und der böse Wolf namens Algebra

Als „besorgniserregend“ bezeichneten die Pisa-Macher aber etwas ganz Anderes: Mädchen hinken im Fach Mathematik mit durchschnittlich 14 Punkten hinter den Jungen her. „Ihre Angst vor Mathematik ist größer als die der Jungen“, heißt es in der Pisa-Ländernotiz. Hockt da die Algebra als böser Wolf verkleidet im Klassenzimmer und will das arme Rotkäppchen fressen?

Unter den Tisch gefallen ist in den Medien, die die Mädchenbenachteiligung willig aufgriffen, dabei völlig, dass Jungen mit dreimal mehr Punkten im Lesen hinterherhinken, nämlich mit sage und schreibe 44 Punkten! Das ist in Frankreich, Estland und Israel zwar genauso. Aber ist das ein Trost? Gegenüber Pisa 2003 hat sich der Leserückstand der Jungen hierzulande sogar noch um zehn Punkte verschlechtert.

Dabei gibt es Länder, die es besser machen: Am geringsten fällt die Geschlechterkluft in Japan aus (24 Punkte). Aber auch England (25 Punkte), die Niederlande (26), Spanien (29), die USA (31), Dänemark (31), Belgien (32), Kanada (35), Schweiz (36) und Österreich (37) sind Deutschland voraus, was die Jungenbenachteiligung beim Lesen betrifft.

Noch schlechter als Deutschland stehen nur diejenigen Länder da, für die Gleichstellung immer schon ausschließlich Frauenemanzipation bedeutete: Norwegen (46), Schweden (51) und Finnland (62).

Müssen Jungen keine sauberen Briefe schreiben?

Die Pisa-Macher betonen die Notwendigkeit für Mädchen, gut in Mathe zu sein, um „einen naturwissenschaftlichen, technischen und ingenieurwissenschaftlichen Beruf zu ergreifen“. Deshalb sei es „von entscheidender Bedeutung, das Geschlechtergefälle in Hinsicht auf das Engagement, die Motivation und die Selbsteinschätzung in Mathematik zu verringern“.

Das ist zweifellos richtig, aber warum werden diese Notwendigkeiten und Wünsche nicht auch auf das Geschlechtergefälle beim Lesen übertragen? Ist es für Jungen nicht auch wichtig, saubere Briefe schreiben und Texte richtig lesen zu können? Sollen all die schicken kommunikativen Berufe allein dem weiblichen Geschlecht vorbehalten bleiben?

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Schon in der Pisa-Studie 2000 war festgestellt worden, dass die größten geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede im Lesen zuungunsten der Jungen existierten. Jungen-Leseförderung hatte der Pisa-Auftraggeber, die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), schon damals als große bildungspolitische Herausforderung benannt.

Jungsförderung wird sträflich vernachlässigt

Passiert ist seitdem aber wenig bis gar nichts. Dabei hatte die schwarz-gelbe Regierungsfraktion im April 2011 selbst im Bundestag den Antrag „Neue Perspektiven für Jungen und Männer“ eingereicht. Die Gleichstellungspolitik müsse sich „zusätzlich den Jungen und Männern zuwenden“, hieß es dort. In der Schule müsse den „besonderen Bedürfnissen von Jungen Rechnung getragen werden“, denn „im Lesen erzielen Jungen deutlich geringere Kompetenzen als Mädchen“.

Die Regierungsfraktion forderte sich in dem Papier quasi selbst auf, „im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sich bei den Bundesländern dafür einzusetzen, dass diese geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Lesekompetenz der Jungen zu stärken und ihr Leseengagement weiter zu erhöhen“.

Und nun? Das Papier scheint in der Ablage gut aufgehoben, ganz nach dem Motto: Gut, dass wir mal drüber geredet haben. Von spezieller Jungenförderung will die Leiterin des Referats für Jungen- und Männerpolitik im Frauenministerium, Angela Icken, jedenfalls nichts wissen.

Mehr noch: Sie leugnet gegenüber der geschlechterpolitischen Initiative Manndat, dass es die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Lesen überhaupt gibt.

Regierung spielt ihren Einfluss herunter

Dabei beruft sie sich auf den Leseforscher Maik Philipp, der meint: „Nicht Jungen, sondern schwach lesende Kinder und Jugendliche brauchen eine spezifische Leseförderung.“ Im Übrigen weist das Ministerium darauf hin, dass die Bundesregierung gar keinen direkten Einfluss nehmen könne auf die Angebote in Schulen und Jugendzentren, weil die Zuständigkeiten bei den Ländern oder Kommunen liegen.

Man kann sicher die Haltung vertreten, dass man keine geschlechterspezifische Förderung braucht und geben kann. Nur: Warum vertritt man diese Haltung nicht im Bereich Mathematik bei den Mädchen? Müssen nicht alle rechenschwachen Schüler gefördert werden? Warum kann der Bund im Bereich MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) rund 100 Mädchenprojekte fördern, aber wenn es um Jungenförderung im Lesen geht, nur ganze vier?

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Und warum setzt man auf einen einzigen Leseforscher und berücksichtigt nicht andere Stimmen, etwa die von Christine Grabe von der Universität Köln, die im 2012 erschienenen Handbuch für Jungenpädagogik schreibt: „Alle Studien der letzten Jahrzehnte zu Leseverhalten und Mediennutzung verweisen darauf, dass die Unterschiede in puncto Lesen zwischen Mädchen und Jungen, Frauen und Männern erheblich sind.“

Das Mädchen im Blaumann bleibt die Ausnahme

Berücksichtigt man die schwachen Erfolgsquoten der massiv betriebenen Mädchen-MINT-Förderprojekte der vergangenen Jahre, dann kann man sich in der Tat fragen, ob eine Jungenleseförderung überhaupt Sinn macht. Das Mädel im Blaumann ist und bleibt die Ausnahme.

Es wäre dann aber auch zu fragen, ob man sich nicht generell von den geschlechtsspezifischen Fördermethoden verabschieden und das Geld besser in Dinge stecken sollte, die beiden Geschlechtern zu Gute kommen. Ruhe im Klassenraum und gut ausgebildete Lehrkräfte dürften gegenüber allem Gleichstellungsschnickschnack eine höhere Erfolgsquote aufweisen.

Nur entspräche das nicht dem Zeitgeist. Der ruft nach der Frauenquote – und lässt die Jungen weiter zappe(l)n.

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