Wie China sich aus der Null-Covid-Strategie herausschleichen könnte

China hat ein Problem mit dem Immunschutz seiner Bevölkerung. Der Grat zwischen Masseninfektionen und grossflächigen Lockdowns ist schmal.

Stephanie Lahrtz (Text), Florian Seliger (Infografik)
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Auch in den kommenden Monaten wird in China in Innenräumen Maskenpflicht herrschen müssen, wie hier anlässlich des Nationalkongresses der KP im Oktober in Peking.

Auch in den kommenden Monaten wird in China in Innenräumen Maskenpflicht herrschen müssen, wie hier anlässlich des Nationalkongresses der KP im Oktober in Peking.

Florence Lo / Reuters

Es klingt nach ersten Anzeichen einer leichten Lockerung der rigiden Null-Covid-Politik. In China wurden Geschäfte, Restaurants und Freizeitstätten geöffnet, Absperrungen von Wohnblocks aufgehoben. Man darf ohne negativen Covid-Test den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Doch wie weit kann sich das Land überhaupt öffnen, ohne einen Kollaps des Gesundheitssystems auszulösen?

Denn China hat nach wie vor ein grosses Problem mit dem Immunschutz der Bevölkerung gegen das Coronavirus.

Impfsituation ist nur auf den ersten Blick super

China ist auf dem Papier ein wahrer Impfchampion: 89 Prozent der Bevölkerung haben eine Grundimmunisierung, also zwei Impfdosen, erhalten. Nur wenige Länder haben eine noch höhere Quote, keines davon in Europa. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 76, in der Schweiz 69 Prozent.

Aber für China sind auch zehn Prozent Ungeimpfte eine Bedrohung, sollte es zu einer weitgehenden Öffnung des Lebens und damit einer ungehinderten Virusausbreitung kommen. Denn diese an sich kleine Prozentzahl bedeutet, dass mehr als 120 Millionen Chinesinnen und Chinesen nach wie vor ungeimpft sind.

Hohe Impfquote, aber zu wenige Booster-Impfungen

Anteil der Bevölkerung, der doppelt geimpft ist (in Prozent), und verabreichte Booster-Impfungen pro 100 Einwohner*
China
Deutschland
Schweiz

Die Situation wird noch durch zu wenig Auffrischungsimpfungen verschärft. Nur gut die Hälfte aller Chinesen hat die dritte Impfspritze erhalten. Bei den über 60-Jährigen haben sogar nur 30 bis 40 Prozent diese bekommen. Somit haben in China Hunderttausende Menschen, die ein hohes Risiko für eine schwere Covid-Erkrankung aufweisen, keinen guten Immunschutz.

Zudem ist unklar, wie gut die chinesischen Vakzine tatsächlich sind. Zwar soll eine Booster-Impfung mit diesen Impfstoffen eine Schutzwirkung von 95 Prozent vor einer schweren Erkrankung verleihen. Das hat eine Forschergruppe aus Schanghai im Fachmagazin «BMC Medicine» publiziert. Westliche Forscher schätzen allerdings die Wirksamkeit der chinesischen Vakzine geringer ein.

Im Gegensatz zu nahezu allen anderen Ländern hat im Reich der Mitte kaum ein Mensch einen Immunschutz durch Infektion aufgebaut – wegen der vielen harschen Lockdowns. Bisher wurden offiziell nur gut 1,7 Millionen Sars-CoV-2-Infektionen in China erfasst.

Einen Schutz vor einer Infektion dürfte in China ohnehin kaum noch ein Geimpfter oder Genesener aufweisen. Zum einen wurde in den letzten Wochen dort fast nicht geimpft. Der Schutz vor einer Infektion ist aber bereits ab 12 Wochen nach der letzten Spritze auf nur gerade etwas mehr als 10 Prozent geschrumpft. Zum anderen bietet eine länger zurückliegende Infektion nur noch einen geringen Schutz vor einer erneuten Infektion mit den derzeit zirkulierenden Virusvarianten. Das hat der Rest der Welt in den letzten Monaten leidvoll erfahren.

Nur noch wenige Impfungen in China

Anzahl der täglich verabreichten Impfdosen gegen das Coronavirus, pro Million Einwohner
China
Welt

Würde die Regierung in Peking also nun ihre Null-Covid-Strategie völlig aufgeben, so könnten sich fast alle Chinesinnen und Chinesen infizieren. Ein Leben mit maskenlosen Fussballstadien oder feucht-fröhlichen Familien- und Firmenfeiern, wie wir es wieder haben, würde Chinas medizinisches System an den Rand eines Kollapses bringen – oder gar darüber hinaus.

Pandemie im Zeitraffer

Gemäss einer in der Zeitung «The Economist» präsentierten Hochrechnung könnten sich dann auf dem Höhepunkt der entstehenden Welle bis zu 45 Millionen Menschen pro Tag infizieren. Selbst wenn alle eine gute Behandlung erhielten – was auf der Höhe einer solch gigantischen Infektionswelle illusorisch ist – würden 650 000 Menschen in den darauffolgenden Wochen an Covid sterben.

Dass diese Zahlen keineswegs übertriebene Hirngespinste sind, belegen Studien von chinesischen Wissenschaftern. Das Team um Hongjie Yu geht von rund einer Million Corona-Toten innert weniger Wochen und bis zu 1,7 Millionen im Verlauf mehrerer Monate aus – sollte es zu einer völligen Öffnung kommen.

All die Zahlen und Prognosen zeigen überdeutlich: China hat es versäumt, das Virenabwehr-Instrument Lockdown richtig zu nutzen. Ein Lockdown kann allenfalls Zeit kaufen. Zeit, die genutzt werden muss, um durch Impfungen und Infektionen einen Immunschutz aufzubauen. Und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder. Ein derart ansteckender Erreger wie das Coronavirus wird nicht durch Lockdowns, seien sie auch so rigide und häufig wie in China, ausgerottet.

Das Wissenschafterteam um Yu betont in seiner neuen Publikation, dass China nun unbedingt dem Beispiel Singapurs oder Neuseelands folgen müsse. Konkret bedeute dies, dass es weiterhin gewisse Schutzmassnahmen geben müsse. Es müssten sofort und so schnell als möglich Booster-Impfungen verabreicht werden. Zuallererst müssten diese Menschen über 60 erhalten. Für diese Altersgruppe sollte, wenn möglich, auch eine vierte Impfung erfolgen.

Solch eine Impfkampagne braucht allerdings Zeit. Gemäss nichtchinesischen Experten heisst das aber keineswegs, dass China nun in dem katastrophalen Status quo verharren muss. Die Erfahrungen in der restlichen Welt haben ja gezeigt, unter welchen Umständen besonders viele Infektionen erfolgen: wenn Menschen in einem Raum länger eng und ohne Maske beieinanderstehen oder -sitzen. Wenn man mit Maske Bus oder U-Bahn fährt oder in ein gut gelüftetes, halbvolles Büro geht, dann ist die Gefahr einer Ansteckung deutlich geringer.

Da auch in China schon bei vielen Menschen ein gewisser Schutz vor schweren Erkrankungen besteht und zudem die aktuell grassierenden Virusvarianten etwas weniger gefährlich sind als die Ursprungsvariante, reichen auch in China deutlich weniger gravierende Schutzmassnahmen aus.

Wird es bald eine neue Virusvariante aus China geben?

China müsste sich also jetzt so verhalten wie Europa und andere Regionen und Länder zu Beginn der Impfkampagne 2021. Und das Land müsste akzeptieren, dass eine Infektion an sich noch kein Versagen ist, weder des Einzelnen noch der Regierung.

Auch für die Welt könnte eine massive Corona-Welle in China unerfreuliche Auswirkungen haben. Denn dann bieten innert weniger Wochen plötzlich mehr als eine Milliarde Menschen dem Virus eine Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Und je mehr Virus zirkuliert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine neue Virusvariante durchsetzt.