Psychologie:Hitliste der nationalen Egos

WM 2018 - deutsche Fans

Beim Fußball bricht sich die Selbstüberschätzung wohl ebenfalls Bahn

(Foto: dpa)
  • Psychologen haben in verschiedenen Ländern gefragt, wie die Bewohner die Bedeutung ihrer Nation für die Weltgeschichte einschätzen.
  • In Russland sind besonders viele von der einzigartigen Stellung ihres Landes überzeugt, gefolgt von den Briten.
  • Die Forscher schließen aus dem Experiment, dass Gruppen mit starkem Wir-Gefühl besonders zu Selbstüberschätzung neigen.

Von Sebastian Herrmann

In seiner Eigenschaft als Herdentier liebt der Mensch gegenseitiges Schulterklopfen. Wir, so die Parole, sind außergewöhnlich! Wir Bewohner dieses Bundeslandes ziehen den Wagen aus dem Dreck. Wir Bürger dieses großen Staates haben den Lauf der Dinge geprägt. Psychologen nennen solche gemeinschaftliche Selbstbesoffenheit "kollektiven Narzissmus". Gerade haben sie einige Studien zu dem Phänomen veröffentlicht. Die Arbeiten zeigen: In Gruppen mit starkem Wir-Gefühl bricht sich rasch Hybris Bahn. Und ist ein Kollektiv von der eigenen Bedeutung berauscht, gebiert es selten gute Ideen.

Besonders viele Menschen scheinen in Russland von der einzigartigen Stellung ihres Landes überzeugt zu sein. 61 Prozent der weltgeschichtlichen Entwicklung seien direkt auf den Einfluss ihres Staates zurückzuführen, gaben die russischen Teilnehmer einer Studie von Forschern um den Israeli Franklin Zaromb an. Die Wissenschaftler baten Probanden in 35 Ländern, den Anteil ihrer Nation an der Weltgeschichte in Prozent zu beziffern. Die historischen Leistungen eines Landes lassen sich auf diese Weise natürlich nicht quantifizieren, das wissen die Forscher selbst. Vielmehr versuchen sie so zu messen, ob Bürger ihrer Nation übersteigerte Bedeutung beimessen.

Kollektive Geltungssucht kann Aggressionen befeuern

Der höchste Wert ergab sich also in Russland, Platz zwei der Hybris-Hitparade belegte Großbritannien mit 55 Prozent. Deutschland lag mit 33 Prozent im Mittelfeld, ebenso die USA mit etwas mehr als 29 Prozent. Addiert müssten sich alle Werte zu 100 Prozent summieren, das hatten die Forscher den Probanden zuvor extra gesagt, mehr geht rechnerisch nicht. Tatsächlich ergab sich aber ein Gesamtwert von unglaublichen 1156 Prozent - ein beeindruckendes Ergebnis kollektiver Selbstüberschätzung.

Innerhalb der USA sind die Einwohner Virginias besonders überzeugt von der Bedeutung ihres Bundesstaates, der einer der US-Gründerstaaten ist. Sie fanden, dass 41 Prozent der geschichtlichen Entwicklung der Vereinigten Staaten auf ihre Kappe gingen. Das ergab eine weitere Studie, die sich mit kollektivem Narzissmus innerhalb der USA beschäftigte. Am bescheidensten waren die Bewohner Iowas mit einem Wert von neun Prozent.

Schon als Individuum neigen fast alle Menschen dazu, ihre Leistungen zu überschätzen: Man weiß schließlich genau, was man selbst gemacht hat, nicht aber, was die anderen getrieben haben. Weil nationale Narrative meist aus historischen Errungenschaften bestehen, treibt dies die Hybris einer Gruppe nach dem gleichen Muster an - was haben die anderen Länder schon auf die Reihe bekommen?

Diese Form kollektiver Geltungssucht kann Aggressionen befeuern. Wie für selbstverliebte Individuen gilt für narzisstische Gruppen: Wer sich allzu großartig findet, lässt sich auch allzu leicht kränken. Kritik gilt dann als Angriff und Grund für einen Gegenschlag. Das weiß auch Wladimir Putin. Als Barack Obama einmal über die Außergewöhnlichkeit der USA schwadronierte, erwiderte Russlands Präsident: Solche Aussagen seien "extrem gefährlich" für die internationalen Beziehungen. Klar, wenn sich alle für grandioser halten als die anderen, sind im Umkehrschluss alle auch immer ein bisschen beleidigt.

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