Günter Franzen

 

Vor den Müttern sterben die Söhne

 

Marginalien zu einer demographischen Randerscheinung

 

 

Mythos 68: Manch einer, ergraut, hält dem Nachwuchs die Fragegeschichte zum besten, die vom schweigenden Vater handelt, der keine Auskunft gab über seine Rolle in der Hitlerschen Weltkonterrevolution. Und die forschenden Jünglinge, empört über sich öffnende Abgründe, stürmten mit »Nie wieder!«-Rufen auf die andere Seite der Barrikade ... Aber halt, wirft unser Autor ein, stimmt dieses Bild vielleicht gar nicht, so viele Väter waren gar nicht heimgekommen; und überhaupt: wurden da nicht die Mütter »übersehen«?

 

In Deutschland liegt die durchschnittliche statistische Lebenserwartung für Frauen derzeit bei 83, für Männer bei 80 Jahren. Die wenigen Neugeborenen, die heute in Westeuropa das Licht der Welt erblicken, dürfen nach realistischen Prognosen sogar damit rechnen, dass sich das vor ihnen liegende Zeitkontingent noch einmal um zehn Prozent erhöht. Wenn man den demokratischen Selbstregulierungskräften unserer Gesellschaft zutraut, die aus der demographischen Entwicklung resultierenden Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme auf lange Sicht zu meistern, wenn man zudem das Leben liebt oder auch nur an ihm hängt, weil die Aussicht auf das Jenseits für den Bewohner des Abendlandes wenig verlockend erscheint, ist das Privileg eines langen Lebens eine sicher allseits dankbar begrüßte soziale Errungenschaft.

Wendet man sich von der objektiven Datenlage ab und dem statistisch gewiss unerheblichen subjektiven Erleben zu, verfestigt sich allerdings der Eindruck, dass meinen männlichen Altersgenossen, den Kriegs- und Nachkriegskindern der Geburtsjahrgänge 1940 bis 1950, aus denen sich die Studentenbewegung rekrutierte, die Teilhabe an der allgemeinen Errungenschaft eines langen und womöglich beschwerdefreien Lebens in bedrängend hoher Zahl verwehrt bleibt. Viele sind gestorben, und das Sterben will kein Ende nehmen. Wir stehen an den Gräbern unserer Wegbegleiter und im Zustand der Verlassenheit, in dem das erhabene Gewahrwerden des endgültigen Verlustes und das gemeine Selbstmitleid eine undurchdringliche Mischung eingehen, drängt sich eine martialische Metapher auf: Die Einschläge, so das bange Empfinden, werden dichter.

Der von Sigmund Freud eingeführte Begriff der Trauerarbeit hat durch seinen inflationären Gebrauch im öffentlichen Diskurs der deutschen Gedächtniskultur viel von seiner ursprünglichen Brisanz und Trennschärfe verloren und dabei seinen privaten und intrapsychischen Bedeutungsgehalt nachgerade ins Gegenteil verkehrt: Die Trauer beweist sich demnach als sichtbarer Akt der Darbietung einer kollektiven, periodisch abrufbaren moralischen Läuterung. Die Existenz dieses höchst intimen Prozesses wird aber nach Freud gerade durch den Mangel an Interesse für die Außenwelt bezeugt, der sich mit dem Objektverlust einstellt. Die ganze Energie des Subjekts werde durch seinen Schmerz und seine Erinnerungen absorbiert, »bis das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen lässt, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen.«(1) Das Gelingen dieser Operation ist eng mit der Bewältigung einer zentralen Aufgabe verbunden, indem »jede der einzelnen Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen wird«(2). Wenn aber das Diktum des Großmeisters der Desillusionierung zutrifft, dass die Trauerarbeit im Kern darin besteht, den Tod zu töten, indem die Hinterbliebenen sich schrittweise des unzumutbaren und nicht lebbaren Wissens um die eigene Hinfälligkeit entledigen, komme ich nicht um das persönliche Bekenntnis herum, dass der Trost, den das prometheische Geschenk des Vergessens verspricht, von Mal zu Mal, von Todesfall zu Todesfall geringer wird.

Der letzte Freund, von dem ich im Frühjahr des Jahres 2004 Abschied nehmen musste, kam mit mir 1970 auf der Flucht vor den beengten Verhältnissen in der deutschen Provinz in Frankfurt an. Wir haben im Verlauf der nachfolgenden vierunddreißig Jahre mal mehr und mal weniger Zeit miteinander verbracht und sind uns dabei so nahe gekommen, wie es für Männer mit ausgeprägt gegengeschlechtlichen Neigungen wünschenswert, möglich und statthaft ist. Studium und Klassenkampf, Sackgassen und Höhenwege, Kinderaufzucht und Revolutionstourismus, Wohngemeinschaft und Geschlechterkrieg und ein Marsch durch die Institutionen, der uns zwar nicht in die Höhen der Macht, aber in halbwegs komfortable gesellschaftliche Positionen geführt hat. Das zwanglose Hocken am Küchentisch, sentimentale Streifzüge durch das Land, in dem die Zitronen blühen, das Gleichmaß der Atemzüge beim Langstreckenlauf: Spielarten einer wohltuend wortlosen männlichen Übereinkunft, die ich mit ihm teilte und die ich mit ihm verlor; und als sich abzeichnete, dass er aus dem Koma, das dem Infarkt folgte, nicht mehr erwachen würde, setzte eine verzweifelte Auseinandersetzung mit dem Sterbenden ein, ein aggressiver Monolog, in dessen Verlauf ich mich nicht entblödete, ihn für seinen eigenen nahenden Tod zur Rechenschaft zu ziehen:

Hatte er sich ein zu großes Arbeitspensum aufgehalst und sich als Arzt und Psychotherapeut im Bündnis mit seinen Patienten vom therapeutischen Ehrgeiz hinreißen lassen? Waren ihm die körperlichen Vorboten seiner Erkrankung entgangen oder hatte er sie willkürlich missachtet und überhört? Warum musste er sich mit dem Kauf und der Renovierung eines heruntergekommenen Altbaus belasten, wo es auch eine geräumige Mietwohnung getan hätte? War es nicht unvernünftig, sich über die Vierziger hinaus für ausgesprochene Risikosportarten zu begeistern und wirkte er in letzter Zeit nicht auffällig bedrückt und verschlossen?

 

In ihrem 1981 erschienenen Essay »Krankheit als Metapher«(3) legt Susan Sontag plausibel dar, dass diese inquisitorische Praxis der Totenbefragung in den westlichen Gesellschaften gang und gäbe ist. Wenn es eng wird, verlieren wir die Haltung und den Respekt. Wir haben das Sterben an die Peripherie unserer Wahrnehmung verlegt und pflegen uns der Toten mit einer feindseligen Psychologisierung ihrer jeweiligen Krankheit zu entledigen. Die hyperthonischen Alpha-Männchen, die allseits reduzierten Krebspersönlichkeiten finden sich abgestraft, bevor sie noch unter der Erde liegen. Dass alle so reden und denken, nimmt dem Vorgang im Einzelfall nicht nur nichts von seiner beschämenden Beschränktheit, er verschärft die Erklärungsnot. Warum?

Die in der Friedhofskapelle versammelte Trauergemeinde ist groß. Die in die Jahre gekommenen Revolutionäre, die Brüder und Schwestern von ehedem, stehen schluchzend vor dem geschlossenen Sarg. Der vom offenen Grab ausgehende Sog ist derart stark, dass nicht wenige wanken und vorübergehend Halt in den Armen eines anderen Trauernden suchen. In bemerkenswertem Kontrast zu diesem Bild des Jammers steht der Eindruck, den die greise Mutter des Toten vermittelt. Kerzengerade steht die alte Dame in der ersten Bankreihe. Das durch eine Armbewegung diskret angedeutete Angebot des jüngsten Sohnes, sie zu stützen, stößt durch einen winzigen seitlichen Ausfallschritt auf kaum merkliche Ablehnung. Das von gepflegtem, schlohweißem Haar umrahmte Gesicht zeigt keine Regung. Begibt man sich des infamen Gedankens, von den unbewegten Gesichtszügen auf den Grad der inneren Beteiligung zu schließen, bleibt dennoch ein abgrundtiefes, fassungsloses Staunen über eine Haltung, die angesichts des Ausmaßes des Verlustes gleichermaßen fremd, unheimlich und vertraut erscheint. Die stille Empörung darüber, dass diese Mutter das Ableben ihres Sohnes scheinbar ungerührt verkraftet, ist das eine; das unausgesprochene Wissen der deutschen Söhne, dass deutsche Mütter erfahrungsgemäß alles verkraften, ist das andere.

Die Versuchung, den seelischen Aggregatzustand dieses mütterlichen Idealtypus mit dem unserer steinalt gewordenen ideologischen Antipoden vom psychischen Zuschnitt Leni Riefenstahls oder Ernst Jüngers in Einklang zu bringen, führt in die Irre. Im Gegensatz zu diesen gusseisernen, narzisstisch gepanzerten Hundertjährigen, die sich ihrer personalen Umwelt stets aus der entrückten ästhetisierenden Perspektive der filmischen Simulation und der mikroskopischen Sicht auf das ad infinitum in Brutalität, Dummheit und Gewalt verstrickte Menschengewimmel näherten, wird man den Frauen der Kriegsgeneration die mangelnde Beteiligung an dem sie umgebenden deutschen Elend schwerlich vorwerfen können: Sie befanden sich immer mittendrin.

Zwei Wochen, bevor das Dritte Reich im Orkus der Geschichte verschwindet, am 26. April 1945, findet sich in dem 1959 und 2003 unter dem Titel Eine Frau in Berlin erschienenen Tagebuch einer Anonyma folgender Eintrag:

»Als wir aus dem Laden traten, fuhr ein LKW vorbei; deutsche Truppen darauf, rote Spiegel, also Flak. Sie fuhren in Richtung Stadt, von uns weg aufs Zentrum zu. Saßen stumm da und stierten vor sich hin. Eine Frau rief ihnen nach: Haut ihr ab? Sie bekam keine Antwort. Wir sahen uns achselzuckend an. Die Frau meinte: Sind auch bloß arme Schweine. Immer wieder bemerkte ich in diesen Tagen, dass sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht. Eine Art von Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor. Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt – und mit ihr der Mythos ›Mann‹. In früheren Kriegen konnten die Männer darauf pochen, dass ihnen das Privileg des Tötens und des Getötetwerdens fürs Vaterland zustand. Heute haben wir Frauen daran teil. Am Ende dieses Krieges steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als Geschlecht.«(4)

Die Autorin, die in den nachfolgenden zwei Monaten zahllose Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee überlebt und am Ende damit konfrontiert wird, dass sich ihr heimgekehrter Geliebter brüsk von ihr abwendet, weil er die Mitteilung der ihr zugefügten Demütigungen nicht erträgt, ist von der Literaturkritik wegen ihrer einmaligen Übersetzung der zu dieser Zeit alltäglichen sexuellen Macht- und Ohnmachtsverhältnisse in eine ebenso lakonische wie filigrane Sprache unisono gerühmt worden. Es gibt keinen Grund den Enthusiasmus dieser Einschätzung zu bekritteln. Gleichwohl bleibt die Frage offen, ob die intellektuelle und ästhetische Faszination, die dieser nüchterne Text hervorruft, eine in die Gegenwart hineinreichende Botschaft überlagert, die in ihrer kristallinen Eindeutigkeit vor allem für den männlichen Nachfahren ans Unerträgliche grenzt.

Der kalte, unendlich distanzierte Blick der Anonyma nimmt Abschied von allem: dem schreckensbleichen Rest der blitzkriegerprobten »schimmernden Wehr«, der Hybris einer erwählten, zum Endsieg prädestinierten »rassereinen Volksgemeinschaft« und nicht zuletzt von den Männern, die angesichts des drohenden kollektiven Untergangs aus der haltgebenden Ordnung der Geschlechter ausbrechen und in Mitleid erregende Panik verfallen – arme Schweine, mehr nicht.

 

Wenn ich sie Revue passieren lasse, die literarisch verfremdeten biografischen Bruchstücke der mir nahe stehenden Altersgenossen, gegen deren frühen Tod ich aufbegehre und in einem sinnlosen nachträglichen Kraftakt anzuschreiben suche, muten sie an wie unendliche Variationen auf das im Tagebuch vom 26. April 1945 angeschlagene Grundthema:

Unter dem Eindruck der sich nähernden Front teilt der im pommerschen Stolpe tätige Pfarrer Paul S. seiner Frau im März 1945 mit, dass er sich in Rücksprache mit der regionalen Kirchenleitung entschlossen hat, bei der ihm anvertrauten Gemeinde zu bleiben und fordert seine Frau auf, sich mit dem zweijährigen Sohn Peter in den Westen abzusetzen. Der Treck, dem sich Frau S. anschließt, gerät unweit von Kolberg hinter die feindlichen Linien. In der Erinnerung von Frau S. unterliegen die Ereignisse der nachfolgenden zwei Monate einer partiellen Amnesie: das Mündungsfeuer sich nähernder Geschütze, das monotone Rattern der Güterzüge, der Atem des unter dem Mantel geborgenen Menschenbündels – sonst nichts. Sie kommt in ihrer Heimatstadt Hamburg zu sich, wo sie die greisen, verwahrlosten und in Katatonie erstarrten Großeltern aufzurichten sucht, die sich nach ihrer Ausbombung in einer Gartenhütte verkrochen haben. Bis zur Rückkehr ihres Mannes, der sich auf einem Lazarettschiff des Internationalen Roten Kreuzes nach Lübeck gerettet hat, verdingt sie sich als Magd im Alten Land und pendelt täglich mit dem Fahrrad und dem Kleinkind zwischen der Arbeitsstelle und der verwüsteten Hansestadt hin und her. Paul S. erhält ein neues Pfarramt und zeugt mit seiner Frau in den Jahren 1947, 1949 und 1953 drei weitere Kinder, die den verräterischen, im März 1945 entstandenen Riss im Paargefüge jedoch nicht schließen können. Die Beziehung erkaltet, die Fassade der ehernen lutherischen Lebensgemeinschaft bröckelt. Frau S. wendet sich von ihrem Mann ab. Pfarrer S. wendet sich anderen Frauen zu. Als eine Affäre mit einem prominenten weiblichen Gemeindemitglied ruchbar zu werden droht, stellt Frau S. ihren Mann zur Rede, die erste und letzte Auseinandersetzung, die ans Ohr des Erstgeborenen dringt. Vier Wochen später, an einem sonnigen Junitag des Jahres 1968, kommt Herr S. auf einer schnurgeraden Landstrasse, die zwei entlegene Gemeindeteile miteinander verbindet, von der Fahrbahn ab, kollidiert mit einem Chausseebaum und verunglückt tödlich. Eine von den höheren kirchlichen Instanzen unterstützte Sprachregelung, die es den Angehörigen ermöglicht, der Öffentlichkeit und sich selbst den suizidalen Charakter des Ereignisses zu verbergen. Die Landeskirche trägt Frau S. ein Laienamt an, das sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1988 innehat.

Gegen Ende des Krieges ist die Familie W. über halb Europa verstreut. Der sechzehnjährige Hagen ist als Begleiter eines Munitionstransportzuges in der von den Deutschen gehaltenen Festung Brest eingeschlossen. Der Vater, Herrmann W., schlägt sich an der Seite Wernher von Brauns von Peenemünde nach Süddeutschland durch, um sich den Amerikanern zu stellen. Die nach Ostpreußen evakuierte Mutter Christiane W. und der vierjährige Nachkömmling Klaus werden auf der Flucht in der Nähe von Danzig von einem russischen Tieffliegerangriff überrascht. Die Mutter erleidet eine schwere Unterleibsverletzung, die nur notdürftig versorgt werden kann. In einem Durchgangslager in der Nähe von Frankfurt angekommen, erfährt Christiane W. mit halbjähriger Verspätung, dass ihr Mann mit 120 anderen Triebwerksspezialisten in die USA ausgeflogen wurde. In einem ersten, von den amerikanischen Militärbehörden ermöglichten Telefonat kündigt Herrmann W. an, dass er die Familie so schnell wie möglich nachkommen lassen will. Diese Ankündigung wird drei Jahre lang erneuert, dann nicht mehr. Christiane W. arbeitet als Putzfrau bei einer Frankfurter Bankiersfamilie. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide, aber sie hält durch, bis Hagen W. die Volljährigkeit erreicht hat und sie ihm das Versprechen abnehmen kann, sich nach ihrem Tod um den kleinen Bruder zu kümmern. Im Winter des Jahres 1950/51 erliegt Christiane W. den Spätfolgen ihrer Verwundung.

Nach dem Abschuss seiner Maschine über dem Ruhrgebiet befindet sich der hoch dekorierte Oberleutnant der Luftwaffe Rudolf K. im Dezember 1944 auf einem Genesungsurlaub in seiner südniedersächsischen Heimatstadt Hannoversch Münden. Seine Frau Gisela ist im sechsten Monat schwanger und bekniet ihren Mann, das Kriegsende im Harz abzuwarten, wo eine mit ihr befreundete Kommunistin über einen sicheren Unterschlupf verfügt. Dort hält er es eine Woche aus und meldet sich im Januar 1945 bei seiner in Munsterlager stationierten Einheit zurück. Bei seinem achten und letzten Einsatz als Nachtjäger rammt er über Bamberg einen englischen Bomber und erleidet in den Trümmern seiner Maschine Verbrennungen dritten Grades. Im Mai 1945 steht Gisela K. mit dem kleinen Werner auf dem Arm an der Bahnlinie Kassel-Göttingen und starrt dem im Schritttempo durchfahrenden amerikanischen Lazarettzug hinterher, in dem der sterbende Vater liegt. Im Juni 1945 wird der Leichnam zur Bestattung freigegeben und nach Hannoversch Münden überführt.

Ortrud M. lernt ihren zukünftigen Mann nach dem Frankreichfeldzug bei einer Tanzveranstaltung im Kölner Gürzenich kennen und erliegt seiner rheinischen Frohnatur: heiter, unterhaltsam, zuvorkommend und beflügelt von einem Sieg, der ihm und seinen Kameraden zugeflogen zu sein scheint. Im April 1943 wird seine Division nach Jugoslawien verlegt. Der Krieg verändert sein Gesicht, die Gangart wird härter, der Kampf entregelt sich zur wahllosen Vernichtung, und in den Feldpostbriefen an Ortrud M. gibt es kaum noch etwas zu berichten, worauf sie und ihr Verlobter stolz sein könnten. Kurz vor Erreichen der österreichischen Grenze wird die Einheit des Stabsfeldwebels Hans F. im Februar 1945 von Partisanenverbänden abgefangen. Das auf dem Marktplatz eines slowenischen Dorfes zusammengetriebene Bataillon fällt einem Massaker zum Opfer. Hans F. entkommt mit drei weiteren Angehörigen seiner Kompanie nach Salzburg. Nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft hat Ortrud M. Mühe, den Heimkehrer wieder zu erkennen. Er ist verschlossen, reizbar, leidet unter Schweißausbrüchen, schlägt im Schlaf um sich und stößt slawisch klingende Satzfetzen aus. Nach der Heirat und der Geburt des Sohnes Dieter im Januar 1947 verschafft Ortrud F. ihrem Mann einen Posten bei der Kölner Stadtverwaltung, wo sie seit 1941 für die Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel zuständig ist. Er quittiert den Dienst nach vier Wochen, weil ihm, wie er sich ausdrückt, in der engen Amtsstube unter all den Sesselfurzern die Decke auf den Kopf fällt. Er sucht das Weite und macht sich als Handelsvertreter für Spirituosen selbstständig. Das Geschäft mit dem Vergessen blüht. Die Kundschaft trinkt, und hin und wieder trinkt er einen mit. Im März 1951 verklagt ihn sein Arbeitgeber wegen der Veruntreuung von Kundengeldern, im Januar 1952 kollidiert der Firmenwagen auf einem unbeschrankten Bahnübergang in der Eifel mit einem Personenzug. Hans F. wird wegen Alkohol am Steuer in Tateinheit mit schwerer Transportgefährdung zu einer Haftstrafe von neun Monaten ohne Bewährung verurteilt. Wegen des Unterschlagungsdelikts kommt in einem weiteren Verfahren noch einmal ein halbes Jahr dazu. Ortrud und Dieter F. besuchen den reuigen Sünder wöchentlich in der Haftanstalt Klingelpütz. Er verspricht seiner Frau unter Tränen das Blaue vom Himmel; sie will es nach seiner Entlassung noch einmal mit ihm versuchen. Im April 1954 wird der zweite Sohn Rolf geboren. Im Juli 1954 erringt die deutsche Elf in Bern die Fußballweltmeisterschaft. Im September 1954 bricht Hans F. seine Entziehungskur ab. Im Dezember 1954 reicht Ortrud F. die Scheidung ein und stellt ihm endgültig die Koffer vor die Tür. Danach verliert sich seine Spur. Zehn Jahre später springt Hans F. bei Mühlheim vom Pfeiler der über den Rhein führenden Hängebrücke, wird von einem belgischen Binnenschiffer aus dem Wasser gezogen und erreicht im Sommer 1969 die Endstation seines Lebens. Er löst eine Einwegkarte nach Konstanz und verkriecht sich in einer Absteige in Bahnhofsnähe. Auf dem Nachttisch findet sich eine halb volle Flasche Steinhäger und ein leeres Röhrchen Veronal. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber einen Schuldenberg, den Ortrud F. bis zu ihrer Berentung im Jahr 1985 in kleinen Raten abtragen wird.

 

Vor den Müttern sterben die Söhne. Plötzlich und unerwartet. Werner K.1997, Klaus W. 1998, Peter S. 2001, Dieter F. 2004: Pankreaskarzinom, Hirnschlag, Speiseröhrenkrebs, Koronarinsuffizienz. Die bloße Aneinanderreihung der ärztlich diagnostizierten Todesursachen ist dem menschlich verständlichen Wunsch geschuldet, den organmedizinischen Befund mit der Unwägbarkeit und der Zerbrechlichkeit unserer Existenz zu versöhnen: Wem die Stunde schlägt – dem einen früher, dem anderen später. Mit der achselzuckenden Gelassenheit, die sich aus dem ubiquitären, individuell bis zum letzten Atemzug zäh verteidigten Irrglauben speist, dass es immer nur die anderen sind, die sterben müssen, und wir das Beste immer noch vor uns haben, ist es nach der Lektüre der vier verdichteten, in die Gegenwart hineinreichenden Vorgeschichten indes nicht mehr weit her. Nicht weil man aus der Ferne von diesen Geschichten gehört hat, weil sie einem irgendwie bekannt vorkommen oder weil man sie so oder so ähnlich erlebt zu haben glaubt, sondern weil sie im beteiligten männlichen Beobachter das bedrückende Gefühl der Unentrinnbarkeit eines Fluchs auslösen, den die zitierte Anonyma 1945 als wortgewaltige Sprecherin eines neuen, im Feuer der Geschichte gehärteten Geschlechts über die deutschen Männer verhängt hat: Von dieser Niederlage sollt und werdet ihr Versager euch nicht erholen!

Da nicht auszuschließen ist, dass es sich bei der Diagnose eines fortgesetzten geschlechtsspezifischen Unglücks, der Unterstellung einer transgenerationellen, altdeutsch ausgedrückt: in Fleisch und Blut übergegangenen Schwäche, um eine paranoid gefärbte Männerfantasie handeln könnte, sei ein zeitgeschichtliches Dokument zu Rate gezogen, das den beschränkten Horizont der individuellen Erfahrung überschreitet.

In der 1970 erstmals ausgestrahlten Fernsehdokumentation Klassenphoto von Eberhard Fechner findet eine filmische Annährung an eine Gruppe deutscher Männer des Jahrgangs 1918 statt, die 35 Jahre nach dem Abitur in ihrer alten Schule zusammentreffen, um vor der Kamera zu erzählen, was aus ihnen geworden ist. Der Klassenverband wurde durch Krieg und Gefangenschaft halbiert. Ein jüdischer Mitschüler hat es vorgezogen, dort zu bleiben, wohin er sich gerettet hat: nach Amerika. Die achtzehn Überlebenden haben ihre Plätze in den oberen Rängen der äußerlich rehabilitierten Nachkriegsgesellschaft eingenommen: Ärzte, Anwälte, Fabrikanten, Freiberufler, höhere Beamte. Sie sind wieder wer oder sind zumindest bemüht, es zu behaupten. Auf den grobkörnigen Großaufnahmen des Schwarz-Weiß-Films wirken ihre Gesichtszüge überfroren. In den verschatteten Augenwinkeln nisten die Spuren erlittener und ausgeübter Gewalt, nicht zu tilgende Gravuren einer historischen Katastrophe, die ein Stück weiter unten, dort, wo die Münder den Text zum Bild formulieren, umgehend dementiert wird. Hier ist die Rede von Gegnern, denen man es gezeigt, von Schlachten, die man geschlagen, von Frontbegradigungen, die man vorgenommen, von inneren Schweinehunden, die man über das bittere Ende hinaus besiegt hat. Der deprimierende Eindruck, dass die Sprache, die sie im Munde führen, die längst erloschene Sprache des Befehls und des Gehorsams ist, verstärkt sich durch das pausenlos ausgestoßene Sperrfeuer leerer Begriffshülsen, mit dem jede denkbare Gegenrede im Keim erstickt wird. Eine Einstellung, bei der sich die Kamera von dem schwadronierenden Selbstdarsteller abwendet und über das stumme familiäre Publikum hinweggleitet, zeigt eine Mutter, die neben ihrem halbwüchsigen Sohn auf dem Sofa sitzt und zu einem Erzeuger emporblickt, dessen ungezügelten Redestrom sie widerspruchslos über sich ergehen lässt.

Diese Szene, die ab Mitte der Sechzigerjahre in den atemberaubenden Produktionsstätten deutscher Gemütlichkeit, den Wohnzimmern, allabendlich en suite zur Aufführung kam, bildet einen zentralen Topos der heroischen Geschichtsschreibung der westdeutschen Linken. Der Sohn, so die Legende, die uns lieb und teuer ist, sei seinerzeit aufgestanden, habe das Tischtuch der Gemeinsamkeiten zerschnitten, um anschließend mit seinesgleichen unter roten Fahnen in Zehnerketten gegen die unheilige Dreifaltigkeit von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit anzurennen. Weil es im vorgerückten Alter jedem frei steht, im Gehäuse seiner Erinnerung die Möbel so lange hin und her zu schieben, bis sie einem bequem genug erscheinen, schrumpft der Einwand gegen diese Form der historischen Selbstvergewisserung zur Geschmacksfrage. Man kann sich darin einrichten – muss es aber nicht. Im Licht der kurzen Lebensläufe von Werner K., Klaus W., Peter S. und Dieter F. büßt die so genannte antiautoritäre Revolte nicht nur einen Großteil ihres nostalgischen Glanzes ein, sie erscheint im Nachhinein als ein verworrenes oder zumindest zutiefst zwiespältiges Unternehmen, das die psychische Realität der Akteure auf groteske Weise verfehlte. Der Vater, den es zu stürzen galt, war längst gefallen. Das dumpfe, konsaliksche Brabbeln der mit dem Leben davongekommenen Landser versickerte in den schallschluckenden Polstergarnituren der renovierten Republik: Papa erzählt vom Krieg und keiner hört hin.

Woraus erwuchs die innere Not der Söhne? Aus der geleugneten Einbindung der Väter in den nationalsozialistischen Vernichtungsapparat? Aus ihrer penetranten weltanschaulichen Verbohrtheit? Aus den fortdauernd einschüchternden Demonstrationen ihrer patriarchalen Übermacht im Familienverband? Oder war es am Ende gar etwas wesentlich Geringeres und Beschämenderes: Ihre seit der Zertrümmerung der kollektiven Größenfantasien unter Beweis gestellte Feigheit vor der Frau und die damit einhergehende Unfähigkeit, die Macht der allein gelassenen Mütter zu begrenzen und sie an der Vereinnahmung ihrer Söhne zu hindern?(5)

Der Frankfurter Historiker Gerd Koenen hat durch seine Veröffentlichungen Das rote Jahrzehnt(6) und Vesper, Baader, Ensslin(7) entscheidende Beiträge zur Selbstaufklärung der Linken und zur Entmystifizierung ihrer Motive geleistet. Da ihm schwerlich vorzuwerfen ist, in seinen prägnanten Analysen etwas übersehen zu haben, was jenseits der Grenzen seiner Wissenschaft liegt, sind seine Texte lediglich um eine Fußnote zu ergänzen. Der Rückgriff ins Arsenal der militärischen Terminologie gehört zur rhetorischen Grundausstattung jeder Revolution. Eine weit verbreitete Metapher ist die von den Brücken, die der Revolutionär im Verlauf seines Einsatzes für eine bessere Welt hinter sich abbricht. Die Beliebtheit dieses Bildes gründet in den Assoziationen, die es hervorruft. Wer die Brücke, diese architektonische Vergegenständlichung des zivilisatorischen Fortschritts, mutwillig zerstört, wappnet sich gegen die Verlockungen des Rückzugs und versieht seine umwälzende Tätigkeit mit all den Attributen, die ein Heldenleben seit der Antike auszeichnet: Härte, Unbedingtheit, Askese, Autarkie. Es ist nicht zu bestreiten, dass es der westdeutschen Linken und ihren bewaffneten Fraktionen auf dem Höhepunkt ihres absurden Kampfes gegen die nazistisch kontaminierte »Vater« Morgana gelungen ist, in der sie umgebenden Gesellschaft vorübergehend den Schrecken zu verbreiten, der mit der Wiederbelebung des von keines Gedanken Blässe angekränkelten Tugendterrors einhergeht: Geiselnahmen, Brandanschläge, Morde.

Über diesen spektakulären, im kollektiven Gedächtnis fest verankerten Haupt- und Staatsaktionen ist mühelos von der Tatsache abzusehen, dass wir, Werner K., Klaus W., Peter S., Dieter F. und all die anderen kleinen Kader, Mitläufer und Sympathisanten, uns in der Disziplin des rücksichtslosen Brückenabbruchs wesentlich schwerer taten als unsere prominenten Brüder und Schwestern in Waffen und die kurzen Atempausen des weltumspannenden Befreiungskampfes gerne dazu nutzten, uns heimlich durch die offen gehaltene Hintertür in Richtung Heimat davonzustehlen. Dort, hinter den sieben Bergen, bei den offiziell verpönten sieben Zwergen, dort, im zeitlosen matriarchalen Windschatten der Geschichte, wurden die spätadoleszenten deutschen Empörer mit nahezu allem versorgt, was sie entbehrten: Geld, sauberer Wäsche, pünktlich servierten warmen Mahlzeiten, vor allem jedoch mit einer bedingungslosen Zuneigung, die die mit dem Kontaktgift des Feminismus in Berührung gekommenen Genossinnen zunehmend verweigerten: Junge, komm bald wieder!

Der Verdacht, dass es sich bei unserer aufs große Ganze zielenden Revolution um eine mütterlich alimentierte und lizenzierte Veranstaltung im überschaubaren Geviert des ewigen Sandkastens gehandelt haben könnte, setzt unser Ringen um Autonomie und Identität einer Lächerlichkeit aus, die das verzweifelte Empfinden der Vergeblichkeit nur mit Mühe bemänteln kann. Von der Tragödie zur Farce und zurück – weit zurück. In Homers Ilias tröstet Thetis, die unsterbliche Göttin, den todgeweihten Sohn und Fronturlauber Achill mit jenen vertraut klingenden Worten, in denen sich der lähmende Zwiespalt einer bindenden Freigabe offenbart: »Sie aber setzte sich dicht neben ihn, die hehre Mutter,/ Streichelte ihn mit der Hand .../ Mein Kind! Wie lange willst du mit Wehklagen und Betrübnis/ Dein Herz verzehren und gedenkst weder der Speise/ Noch des Lagers? Und ist es doch gut, sich mit einer Frau in Liebe/ Zu vereinigen! Denn nicht lange wirst du mir leben ...«(8)

Stephan Wackwitz beschreibt in seinem Familienroman Ein unsichtbares Land(9) eine Erinnerungsreise durch die zertrümmerte und diskreditierte Welt der Väter und Großväter, die in ihrer Behutsamkeit und Umsicht im breiten Strom der von konditionslosem Subjektivismus getriebenen autobiografischen Bekenntnisliteratur ihresgleichen sucht. Unter Wahrung der ethischen, durch das Verbrechen des Nationalsozialismus vorgegebenen Scheidelinie, steuert der 1952 in Stuttgart geborene Leiter des Krakauer Goethe-Instituts die Auseinandersetzung mit seinen männlichen Vorfahren auf einen dritten Punkt hin, der jenseits von Freispruch oder Verdammung, Versöhnung oder Lossagung liegt. Selbst wenn es möglich wäre, so Wackwitz, sich über deren Handlungen und Unterlassungen absolute Gewissheit zu verschaffen, kämen wir nicht um die Anerkennung der Tatsache herum, dass wir unser Leben nicht der Parthenogenese verdanken, sondern von zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts abstammen: Mutter und Vater. Indem Wackwitz sich der Unausweichlichkeit des biologischen und kulturellen Erbes erzählerisch stellt, öffnet er den kollektiven Erinnerungsraum und gibt den Blick frei auf eine zwischen Vater und Sprache bestehende Gemeinsamkeit: Beide repräsentieren das Dritte der symbolischen Ordnung, die in die Enge der Mutter-Kind-Dyade eindringt und sie mit Differenz und Welthaltigkeit ausstattet. In der Rekonstruktion des Vaters und der kreativen Auflösung der in Deutschland aus ehrenwerten Gründen sechzig Jahre lang konservierten Täter-Opfer-Dichotomie liegen die Leistungen des Romans, und es tut der Sache keinen Abbruch, dass der Autor für die eigene Person erheblich Zweifel daran zulässt, dass der Fortschritt der Triangulierung – wie jede zivilisatorische Errungenschaft – jederzeit von Rückfällen und regressiven Parallelaktionen bedroht ist.

 

Die Spekulationen über die muttergestützte Rebellion der Söhne beleuchten Ereignisse, die vor mehr als einem viertel Jahrhundert stattgefunden haben. Wenn aber die Annahme der Gedächtnisforschung zutrifft, dass autobiografische Erinnerungen keine wahrheitsgemäße Rekonstruktion früherer Erfahrungen, sondern Zugänge zur aktuellen Selbsteinschätzung und Selbstbewertung darstellen, belegt das Œuvre von Stephan Wackwitz in eindrucksvoller Weise, dass die bloße Verzeitlichung einschneidender Ereignisse nicht unbedingt von der Erweiterung des inneren Spielraums begleitet ist. In dem 1997 erstmals veröffentlichten Essay »Bachelor Pride Parade«(10) beschreibt Wackwitz das Scheitern seiner Ehe. In diesem von zarter Wehmut durchwirkten Text wird weder die obligatorische schmutzige Wäsche gewaschen noch der weidlich bekannte Rosenkrieg vom Zaun gebrochen: »Auf dem Weg zum Scheidungsanwalt«, so Wackwitz, »trug meine Frau ein zitronengelbes Leinenkleid, das ich eigentlich sehr schön gefunden habe, obwohl sie es erst nach unserer Trennung gekauft hat. Irgendwie, dachte ich, bin ich nie mehr in den Genuss dieses Kleides gekommen.«(11) Der Verfasser spricht von einem Unglück, das in seine Familie, seine Frau, seinen Sohn, in ihn selbst langsam eingedrungen sei, ein Unglück, zu der sich erst im Zustand seiner Unübersehbarkeit das Gefühl gesellt habe, »es sei schon immer da gewesen«.(12) Von diesem Befund ausgehend, erinnert er sich an ein amerikanisches, von der Tante geschenktes Kinderbuch; die Geschichte eines »einsam-stilvollen Bären«, die ihm seine Mutter in den Fünfzigerjahren häufig vorgelesen habe: »Pierre Bear lebt im hohen Norden in einer Blockhütte, ganz allein. Er hat dort ein wundervolles Fellbett unter einem eisblumenverzierten Fenster, zu dem die Sterne der Polarnacht hereinschauen. Er hat stilvolle Ohrensessel, chinesische Bodenvasen und einen apart grünen Morgenrock. Ich betrachte die Bilder und verstehe, dass meine Vorstellungen vom guten Leben Pierre Bears Blockhütte eigentlich nie wirklich verlassen haben.«(13)

Die Erinnerung an dieses frühe Lektüreerlebnis mündet ein in eine schonungslose, generalisierte Selbstbezichtigung. Aus dem trügerischen Glück der »narzisstischen Unversehrtheit«, so Wackwitz, sei jene »Form milder Asozialität« erwachsen, an der die meisten Männer mehr oder weniger litten und die im Grunde auf eines hinausliefe: »die Unfähigkeit, mit einer Frau zusammenzuleben«.(14)

Es wirkt auf den sympathisierenden Leser bestürzend, wie dem ansonsten hoch reflexiven Schriftsteller in dieser Textpassage der Gegenstand entgleitet. Er blendet aus, dass die himmlische Schutzhülle über der Blockhütte ihre Undurchlässigkeit der doppelten Imprägnierung durch Tante und Mutter verdankt. Er ignoriert, dass der autistische Freiheitsbegriff des kleinen Bären dem geschichts- und vaterlosen Matriarchat der Nachkriegszeit entstammt, und wenn er mit einer gewissen Genugtuung vermerkt, dass das Bärenbuch »inzwischen auch im Gefühlshaushalt meines Sohnes eine gewisse Rolle spielt«, zeigt er sich von der bodenlosen Naivität des Traditionstransfers an seinen Ersatzmann ebenso wenig überrascht wie vom Ende seiner Ehe. An die Stelle der begrifflichen und emotionalen Durchdringung des Scheiterns tritt eine Art von heroischem Fatalismus, der das »heulende Elend der einsamen Novemberabende« als angemessenen lebensgeschichtlichen Preis für seine »splendid isolation«(15) festschreibt.

Wenn ich mir eingestehen muss, dieser besserwisserischen Vorhaltungen nicht so recht froh zu werden, hat das wohl damit zu tun, dass zwischen dem wackwitzschen Lavieren und dem »immer schon da gewesenen Unglück« der Männer, deren früher Tod mich anhaltend ängstigt, ein nicht zu leugnender innerer Zusammenhang besteht. Soweit ich weiß, haben es Werner K., Klaus W., Peter S. und Dieter F. zeit ihres Lebens nicht an Anstrengungen fehlen lassen, mit den Frauen an ihrer Seite glücklich zu werden. Sie haben Berufe ausgeübt, Kredite aufgenommen, Häuser gebaut, Kinder gezeugt und groß gezogen, und wenn man sich wieder und wieder fragt, warum sie darüber zwar glücklich wurden, aber nicht glücklich blieben, wird man unwillkürlich von jener »bedrohlichen Beunruhigung«(16) ergriffen, die sich in die Nahbeziehung zum anderen Geschlecht einnistet und den ödipalen Sonderweg der alternden deutschen Söhne von 1945 bis in die Gegenwart begleitet. Die universellen, von der Psychoanalyse entdeckten kindlichen Bestrebungen der »Verliebtheit in die Mutter und der Eifersucht gegen den Vater«(17) stießen in der Ära des Interregnums der von Gott und den Männern verlassenen Trümmerfrauen und Treckführerinnen auf keinen nennenswerten Widerstand. So wurden all jene Wünsche wahr, deren Erfüllung sich in den späteren Paarbeziehungen als veritabler, von Misstrauen, Konfliktscheu, Verfolgungsängsten und Überwältigungsfantasien vergifteter Albtraum erwies, der auf dem Weg verlassen wurde, den schon die Väter eingeschlagen hatten: Nichts wie weg.

Die langen Schatten, den die mächtigen mütterlichen Objekte werfen, haben nicht nur das Leben der Männer verdunkelt, von denen hier die Rede war, sondern auch das all jener Frauen, die sich im Lauf der Zeit erkühnten, den inneren Platz dieser Objekte einnehmen zu wollen. Diese Eintrübung der Sichtverhältnisse allein ist keine lebensbedrohliche Krankheit. Ich kann mich aber vor dem Hintergrund der ausgebreiteten Biografien beinahe mühelos einer Lebensmüdigkeit anverwandeln, die der Erfahrung der Unverrückbarkeit einer psychischen Realität entspringt: Wir kommen aus dem Frauenhaus unserer Kindheit nicht heraus.

Matthias Beltz ist in der Nacht vom 26. zum 27. März 2002 einem Herzinfarkt erlegen und wurde von seiner Frau in der gemeinsamen Wohnung tot aufgefunden. Auf der Homepage des Frankfurter Kabarettisten, der am 31.1. 1945 geboren wurde und seinen in Russland vermissten Erzeuger nie zu Gesicht bekam, findet sich folgender Eintrag:

»Es gibt ein Menschenrecht des Kindes, etwas von der Kälte und Brutalität der Wirklichkeit, von der realen Furchtbarkeit der Welt zu erfahren. Für dieses Erlebnis unbeugsamer Strenge hat es einmal den Vater gegeben und damit die Chance, sich besser vorzubereiten auf den Härtetest des Lebens.«

 

Letzte Buchveröffentlichung des Autors: Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt. Der abgedruckte Beitrag ist Teil eines in Arbeit befindlichen Essays: Rollender Stein. Nachruf auf meinen Vater.

 

1

Sigmund Freud, zit. nach Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, S. 512.

2

Ebd., S. 513.

3

Susan Sontag: Krankheit als Metapher, Frankfurt am Main 1981.

4

Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 51.

5

Vgl. hierzu auch: Günther Amendt: Vatersehnsucht. Annäherung in elf Essays, Bremen 1999.

6

Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001.

7

Gerd Koenen: Vesper Ensslin Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003.

8

Homer, zit. nach Manthey: Die Unsterblichkeit Achills. Vom Ursprung des Erzählens, München 1997, S. 71.

9

Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt am Main 2003.

10

Stephan Wackwitz: Selbsterniedrigung durch Spazierengehen, Frankfurt am Main 2002, S. 71.

11

Ebd., S. 71.

12

Ebd., S. 72.

13

Ebd., S. 73.

14

Ebd., S. 74.

15

Ebd., S. 77.

16

Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum, Weinheim 1991, S. 35.

17

Sigmund Freud, zit. nach Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, S. 352.