Günter Franzen
Vor den Müttern sterben die Söhne
Marginalien
zu einer demographischen Randerscheinung
Mythos 68: Manch einer, ergraut, hält dem Nachwuchs die Fragegeschichte
zum besten, die vom schweigenden Vater handelt, der keine Auskunft gab über seine
Rolle in der Hitlerschen Weltkonterrevolution. Und die forschenden Jünglinge,
empört über sich öffnende Abgründe, stürmten mit »Nie wieder!«-Rufen auf die
andere Seite der Barrikade ... Aber halt, wirft unser Autor ein, stimmt dieses
Bild vielleicht gar nicht, so viele Väter waren gar nicht heimgekommen; und
überhaupt: wurden da nicht die Mütter »übersehen«?
In
Deutschland liegt die durchschnittliche statistische Lebenserwartung für Frauen
derzeit bei 83, für Männer bei 80 Jahren. Die wenigen Neugeborenen, die heute
in Westeuropa das Licht der Welt erblicken, dürfen nach realistischen Prognosen
sogar damit rechnen, dass sich das vor ihnen liegende Zeitkontingent noch
einmal um zehn Prozent erhöht. Wenn man den demokratischen
Selbstregulierungskräften unserer Gesellschaft zutraut, die aus der
demographischen Entwicklung resultierenden Belastungen für die sozialen
Sicherungssysteme auf lange Sicht zu meistern, wenn man zudem das Leben liebt
oder auch nur an ihm hängt, weil die Aussicht auf das Jenseits für den Bewohner
des Abendlandes wenig verlockend erscheint, ist das Privileg eines langen
Lebens eine sicher allseits dankbar begrüßte soziale Errungenschaft.
Wendet man sich von der objektiven
Datenlage ab und dem statistisch gewiss unerheblichen subjektiven Erleben zu,
verfestigt sich allerdings der Eindruck, dass meinen männlichen Altersgenossen,
den Kriegs- und Nachkriegskindern der Geburtsjahrgänge 1940 bis 1950, aus denen
sich die Studentenbewegung rekrutierte, die Teilhabe an der allgemeinen
Errungenschaft eines langen und womöglich beschwerdefreien Lebens in bedrängend
hoher Zahl verwehrt bleibt. Viele sind gestorben, und das Sterben will kein
Ende nehmen. Wir stehen an den Gräbern unserer Wegbegleiter und im Zustand der
Verlassenheit, in dem das erhabene Gewahrwerden des endgültigen Verlustes und
das gemeine Selbstmitleid eine undurchdringliche Mischung eingehen, drängt sich
eine martialische Metapher auf: Die Einschläge, so das bange Empfinden, werden
dichter.
Der von Sigmund Freud eingeführte
Begriff der Trauerarbeit hat durch seinen inflationären Gebrauch im
öffentlichen Diskurs der deutschen Gedächtniskultur viel von seiner
ursprünglichen Brisanz und Trennschärfe verloren und dabei seinen privaten und
intrapsychischen Bedeutungsgehalt nachgerade ins Gegenteil verkehrt: Die Trauer
beweist sich demnach als sichtbarer Akt der Darbietung einer kollektiven, periodisch
abrufbaren moralischen Läuterung. Die Existenz dieses höchst intimen Prozesses
wird aber nach Freud gerade durch den Mangel an Interesse für die Außenwelt
bezeugt, der sich mit dem Objektverlust einstellt. Die ganze Energie des Subjekts
werde durch seinen Schmerz und seine Erinnerungen absorbiert, »bis das Ich,
gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, sich
durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen
lässt, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen.«(1) Das Gelingen
dieser Operation ist eng mit der Bewältigung einer zentralen Aufgabe verbunden,
indem »jede der einzelnen Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an
das Objekt geknüpft war, eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der
Libido vollzogen wird«(2). Wenn aber das Diktum des Großmeisters der
Desillusionierung zutrifft, dass die Trauerarbeit im Kern darin besteht, den
Tod zu töten, indem die Hinterbliebenen sich schrittweise des unzumutbaren und
nicht lebbaren Wissens um die eigene Hinfälligkeit entledigen, komme ich nicht
um das persönliche Bekenntnis herum, dass der Trost, den das prometheische
Geschenk des Vergessens verspricht, von Mal zu Mal, von Todesfall zu Todesfall
geringer wird.
Der letzte Freund, von dem ich im
Frühjahr des Jahres 2004 Abschied nehmen musste, kam mit mir 1970 auf der
Flucht vor den beengten Verhältnissen in der deutschen Provinz in Frankfurt an.
Wir haben im Verlauf der nachfolgenden vierunddreißig Jahre mal mehr und mal
weniger Zeit miteinander verbracht und sind uns dabei so nahe gekommen, wie es
für Männer mit ausgeprägt gegengeschlechtlichen Neigungen wünschenswert,
möglich und statthaft ist. Studium und Klassenkampf, Sackgassen und Höhenwege,
Kinderaufzucht und Revolutionstourismus, Wohngemeinschaft und Geschlechterkrieg
und ein Marsch durch die Institutionen, der uns zwar nicht in die Höhen der
Macht, aber in halbwegs komfortable gesellschaftliche Positionen geführt hat.
Das zwanglose Hocken am Küchentisch, sentimentale Streifzüge durch das Land, in
dem die Zitronen blühen, das Gleichmaß der Atemzüge beim Langstreckenlauf:
Spielarten einer wohltuend wortlosen männlichen Übereinkunft, die ich mit ihm
teilte und die ich mit ihm verlor; und als sich abzeichnete, dass er aus dem
Koma, das dem Infarkt folgte, nicht mehr erwachen würde, setzte eine verzweifelte
Auseinandersetzung mit dem Sterbenden ein, ein aggressiver Monolog, in dessen
Verlauf ich mich nicht entblödete, ihn für seinen eigenen nahenden Tod zur Rechenschaft
zu ziehen:
Hatte er sich ein zu großes
Arbeitspensum aufgehalst und sich als Arzt und Psychotherapeut im Bündnis mit
seinen Patienten vom therapeutischen Ehrgeiz hinreißen lassen? Waren ihm die
körperlichen Vorboten seiner Erkrankung entgangen oder hatte er sie willkürlich
missachtet und überhört? Warum musste er sich mit dem Kauf und der Renovierung
eines heruntergekommenen Altbaus belasten, wo es auch eine geräumige
Mietwohnung getan hätte? War es nicht unvernünftig, sich über die Vierziger
hinaus für ausgesprochene Risikosportarten zu begeistern und wirkte er in letzter
Zeit nicht auffällig bedrückt und verschlossen?
In ihrem
1981 erschienenen Essay »Krankheit als Metapher«(3) legt Susan Sontag plausibel
dar, dass diese inquisitorische Praxis der Totenbefragung in den westlichen
Gesellschaften gang und gäbe ist. Wenn es eng wird, verlieren wir die Haltung
und den Respekt. Wir haben das Sterben an die Peripherie unserer Wahrnehmung verlegt
und pflegen uns der Toten mit einer feindseligen Psychologisierung ihrer jeweiligen
Krankheit zu entledigen. Die hyperthonischen Alpha-Männchen, die allseits reduzierten
Krebspersönlichkeiten finden sich abgestraft, bevor sie noch unter der Erde
liegen. Dass alle so reden und denken, nimmt dem Vorgang im Einzelfall nicht
nur nichts von seiner beschämenden Beschränktheit, er verschärft die
Erklärungsnot. Warum?
Die in der Friedhofskapelle
versammelte Trauergemeinde ist groß. Die in die Jahre gekommenen Revolutionäre,
die Brüder und Schwestern von ehedem, stehen schluchzend vor dem geschlossenen
Sarg. Der vom offenen Grab ausgehende Sog ist derart stark, dass nicht wenige
wanken und vorübergehend Halt in den Armen eines anderen Trauernden suchen. In
bemerkenswertem Kontrast zu diesem Bild des Jammers steht der Eindruck, den die
greise Mutter des Toten vermittelt. Kerzengerade steht die alte Dame in der
ersten Bankreihe. Das durch eine Armbewegung diskret angedeutete Angebot des
jüngsten Sohnes, sie zu stützen, stößt durch einen winzigen seitlichen
Ausfallschritt auf kaum merkliche Ablehnung. Das von gepflegtem, schlohweißem
Haar umrahmte Gesicht zeigt keine Regung. Begibt man sich des infamen
Gedankens, von den unbewegten Gesichtszügen auf den Grad der inneren
Beteiligung zu schließen, bleibt dennoch ein abgrundtiefes, fassungsloses
Staunen über eine Haltung, die angesichts des Ausmaßes des Verlustes gleichermaßen
fremd, unheimlich und vertraut erscheint. Die stille Empörung darüber, dass
diese Mutter das Ableben ihres Sohnes scheinbar ungerührt verkraftet, ist das
eine; das unausgesprochene Wissen der deutschen Söhne, dass deutsche Mütter
erfahrungsgemäß alles verkraften, ist das andere.
Die Versuchung, den seelischen
Aggregatzustand dieses mütterlichen Idealtypus mit dem unserer steinalt
gewordenen ideologischen Antipoden vom psychischen Zuschnitt Leni Riefenstahls
oder Ernst Jüngers in Einklang zu bringen, führt in die Irre. Im Gegensatz zu
diesen gusseisernen, narzisstisch gepanzerten Hundertjährigen, die sich ihrer
personalen Umwelt stets aus der entrückten ästhetisierenden Perspektive der
filmischen Simulation und der mikroskopischen Sicht auf das ad infinitum in
Brutalität, Dummheit und Gewalt verstrickte Menschengewimmel näherten, wird man
den Frauen der Kriegsgeneration die mangelnde Beteiligung an dem sie umgebenden
deutschen Elend schwerlich vorwerfen können: Sie befanden sich immer mittendrin.
Zwei Wochen, bevor das Dritte
Reich im Orkus der Geschichte verschwindet, am 26. April 1945, findet sich in
dem 1959 und 2003 unter dem Titel Eine Frau in Berlin erschienenen
Tagebuch einer Anonyma folgender Eintrag:
»Als wir aus dem Laden traten,
fuhr ein LKW vorbei; deutsche Truppen darauf, rote Spiegel, also Flak. Sie
fuhren in Richtung Stadt, von uns weg aufs Zentrum zu. Saßen stumm da und
stierten vor sich hin. Eine Frau rief ihnen nach: Haut ihr ab? Sie bekam keine
Antwort. Wir sahen uns achselzuckend an. Die Frau meinte: Sind auch bloß arme
Schweine. Immer wieder bemerkte ich in diesen Tagen, dass sich mein Gefühl, das
Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen
uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht. Eine Art von
Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor.
Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt – und
mit ihr der Mythos ›Mann‹. In früheren Kriegen konnten die Männer darauf
pochen, dass ihnen das Privileg des Tötens und des Getötetwerdens fürs
Vaterland zustand. Heute haben wir Frauen daran teil. Am Ende dieses Krieges
steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als
Geschlecht.«(4)
Die Autorin, die in den
nachfolgenden zwei Monaten zahllose Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten
Armee überlebt und am Ende damit konfrontiert wird, dass sich ihr heimgekehrter
Geliebter brüsk von ihr abwendet, weil er die Mitteilung der ihr zugefügten
Demütigungen nicht erträgt, ist von der Literaturkritik wegen ihrer einmaligen
Übersetzung der zu dieser Zeit alltäglichen sexuellen Macht- und Ohnmachtsverhältnisse
in eine ebenso lakonische wie filigrane Sprache unisono gerühmt worden. Es gibt
keinen Grund den Enthusiasmus dieser Einschätzung zu bekritteln. Gleichwohl
bleibt die Frage offen, ob die intellektuelle und ästhetische Faszination, die
dieser nüchterne Text hervorruft, eine in die Gegenwart hineinreichende Botschaft
überlagert, die in ihrer kristallinen Eindeutigkeit vor allem für den
männlichen Nachfahren ans Unerträgliche grenzt.
Der kalte, unendlich distanzierte
Blick der Anonyma nimmt Abschied von allem: dem schreckensbleichen Rest der
blitzkriegerprobten »schimmernden Wehr«, der Hybris einer erwählten, zum
Endsieg prädestinierten »rassereinen Volksgemeinschaft« und nicht zuletzt von
den Männern, die angesichts des drohenden kollektiven Untergangs aus der
haltgebenden Ordnung der Geschlechter ausbrechen und in Mitleid erregende Panik
verfallen – arme Schweine, mehr nicht.
Wenn ich
sie Revue passieren lasse, die literarisch verfremdeten biografischen
Bruchstücke der mir nahe stehenden Altersgenossen, gegen deren frühen Tod ich
aufbegehre und in einem sinnlosen nachträglichen Kraftakt anzuschreiben suche,
muten sie an wie unendliche Variationen auf das im Tagebuch vom 26. April 1945
angeschlagene Grundthema:
Unter dem Eindruck der sich
nähernden Front teilt der im pommerschen Stolpe tätige Pfarrer Paul S. seiner
Frau im März 1945 mit, dass er sich in Rücksprache mit der regionalen
Kirchenleitung entschlossen hat, bei der ihm anvertrauten Gemeinde zu bleiben
und fordert seine Frau auf, sich mit dem zweijährigen Sohn Peter in den Westen
abzusetzen. Der Treck, dem sich Frau S. anschließt, gerät unweit von Kolberg
hinter die feindlichen Linien. In der Erinnerung von Frau S. unterliegen die Ereignisse
der nachfolgenden zwei Monate einer partiellen Amnesie: das Mündungsfeuer sich
nähernder Geschütze, das monotone Rattern der Güterzüge, der Atem des unter dem
Mantel geborgenen Menschenbündels – sonst nichts. Sie kommt in ihrer
Heimatstadt Hamburg zu sich, wo sie die greisen, verwahrlosten und in Katatonie
erstarrten Großeltern aufzurichten sucht, die sich nach ihrer Ausbombung in
einer Gartenhütte verkrochen haben. Bis zur Rückkehr ihres Mannes, der sich auf
einem Lazarettschiff des Internationalen Roten Kreuzes nach Lübeck gerettet
hat, verdingt sie sich als Magd im Alten Land und pendelt täglich mit dem
Fahrrad und dem Kleinkind zwischen der Arbeitsstelle und der verwüsteten
Hansestadt hin und her. Paul S. erhält ein neues Pfarramt und zeugt mit seiner
Frau in den Jahren 1947, 1949 und 1953 drei weitere Kinder, die den
verräterischen, im März 1945 entstandenen Riss im Paargefüge jedoch nicht
schließen können. Die Beziehung erkaltet, die Fassade der ehernen lutherischen
Lebensgemeinschaft bröckelt. Frau S. wendet sich von ihrem Mann ab. Pfarrer S.
wendet sich anderen Frauen zu. Als eine Affäre mit einem prominenten weiblichen
Gemeindemitglied ruchbar zu werden droht, stellt Frau S. ihren Mann zur Rede,
die erste und letzte Auseinandersetzung, die ans Ohr des Erstgeborenen dringt.
Vier Wochen später, an einem sonnigen Junitag des Jahres 1968, kommt Herr S.
auf einer schnurgeraden Landstrasse, die zwei entlegene Gemeindeteile
miteinander verbindet, von der Fahrbahn ab, kollidiert mit einem Chausseebaum
und verunglückt tödlich. Eine von den höheren kirchlichen Instanzen
unterstützte Sprachregelung, die es den Angehörigen ermöglicht, der
Öffentlichkeit und sich selbst den suizidalen Charakter des Ereignisses zu
verbergen. Die Landeskirche trägt Frau S. ein Laienamt an, das sie bis zu ihrer
Pensionierung im Jahr 1988 innehat.
Gegen Ende des Krieges ist die
Familie W. über halb Europa verstreut. Der sechzehnjährige Hagen ist als
Begleiter eines Munitionstransportzuges in der von den Deutschen gehaltenen
Festung Brest eingeschlossen. Der Vater, Herrmann W., schlägt sich an der Seite
Wernher von Brauns von Peenemünde nach Süddeutschland durch, um sich den
Amerikanern zu stellen. Die nach Ostpreußen evakuierte Mutter Christiane W. und
der vierjährige Nachkömmling Klaus werden auf der Flucht in der Nähe von Danzig
von einem russischen Tieffliegerangriff überrascht. Die Mutter erleidet eine
schwere Unterleibsverletzung, die nur notdürftig versorgt werden kann. In einem
Durchgangslager in der Nähe von Frankfurt angekommen, erfährt Christiane W. mit
halbjähriger Verspätung, dass ihr Mann mit 120 anderen Triebwerksspezialisten
in die USA ausgeflogen wurde. In einem ersten, von den amerikanischen
Militärbehörden ermöglichten Telefonat kündigt Herrmann W. an, dass er die
Familie so schnell wie möglich nachkommen lassen will. Diese Ankündigung wird
drei Jahre lang erneuert, dann nicht mehr. Christiane W. arbeitet als Putzfrau
bei einer Frankfurter Bankiersfamilie. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert
sich rapide, aber sie hält durch, bis Hagen W. die Volljährigkeit erreicht hat
und sie ihm das Versprechen abnehmen kann, sich nach ihrem Tod um den kleinen
Bruder zu kümmern. Im Winter des Jahres 1950/51 erliegt Christiane W. den
Spätfolgen ihrer Verwundung.
Nach dem Abschuss seiner Maschine
über dem Ruhrgebiet befindet sich der hoch dekorierte Oberleutnant der
Luftwaffe Rudolf K. im Dezember 1944 auf einem Genesungsurlaub in seiner
südniedersächsischen Heimatstadt Hannoversch Münden. Seine Frau Gisela ist im
sechsten Monat schwanger und bekniet ihren Mann, das Kriegsende im Harz
abzuwarten, wo eine mit ihr befreundete Kommunistin über einen sicheren
Unterschlupf verfügt. Dort hält er es eine Woche aus und meldet sich im Januar
1945 bei seiner in Munsterlager stationierten Einheit zurück. Bei seinem achten
und letzten Einsatz als Nachtjäger rammt er über Bamberg einen englischen
Bomber und erleidet in den Trümmern seiner Maschine Verbrennungen dritten Grades.
Im Mai 1945 steht Gisela K. mit dem kleinen Werner auf dem Arm an der Bahnlinie
Kassel-Göttingen und starrt dem im Schritttempo durchfahrenden amerikanischen
Lazarettzug hinterher, in dem der sterbende Vater liegt. Im Juni 1945 wird der
Leichnam zur Bestattung freigegeben und nach Hannoversch Münden überführt.
Ortrud M. lernt ihren zukünftigen
Mann nach dem Frankreichfeldzug bei einer Tanzveranstaltung im Kölner Gürzenich
kennen und erliegt seiner rheinischen Frohnatur: heiter, unterhaltsam,
zuvorkommend und beflügelt von einem Sieg, der ihm und seinen Kameraden
zugeflogen zu sein scheint. Im April 1943 wird seine Division nach Jugoslawien
verlegt. Der Krieg verändert sein Gesicht, die Gangart wird härter, der Kampf
entregelt sich zur wahllosen Vernichtung, und in den Feldpostbriefen an Ortrud
M. gibt es kaum noch etwas zu berichten, worauf sie und ihr Verlobter stolz
sein könnten. Kurz vor Erreichen der österreichischen Grenze wird die Einheit
des Stabsfeldwebels Hans F. im Februar 1945 von Partisanenverbänden abgefangen.
Das auf dem Marktplatz eines slowenischen Dorfes zusammengetriebene Bataillon
fällt einem Massaker zum Opfer. Hans F. entkommt mit drei weiteren Angehörigen
seiner Kompanie nach Salzburg. Nach seiner Entlassung aus amerikanischer
Kriegsgefangenschaft hat Ortrud M. Mühe, den Heimkehrer wieder zu erkennen. Er
ist verschlossen, reizbar, leidet unter Schweißausbrüchen, schlägt im Schlaf um
sich und stößt slawisch klingende Satzfetzen aus. Nach der Heirat und der
Geburt des Sohnes Dieter im Januar 1947 verschafft Ortrud F. ihrem Mann einen
Posten bei der Kölner Stadtverwaltung, wo sie seit 1941 für die
Zwangsbewirtschaftung der Lebensmittel zuständig ist. Er quittiert den Dienst
nach vier Wochen, weil ihm, wie er sich ausdrückt, in der engen Amtsstube unter
all den Sesselfurzern die Decke auf den Kopf fällt. Er sucht das Weite und macht
sich als Handelsvertreter für Spirituosen selbstständig. Das Geschäft mit dem
Vergessen blüht. Die Kundschaft trinkt, und hin und wieder trinkt er einen mit.
Im März 1951 verklagt ihn sein Arbeitgeber wegen der Veruntreuung von
Kundengeldern, im Januar 1952 kollidiert der Firmenwagen auf einem
unbeschrankten Bahnübergang in der Eifel mit einem Personenzug. Hans F. wird
wegen Alkohol am Steuer in Tateinheit mit schwerer Transportgefährdung zu einer
Haftstrafe von neun Monaten ohne Bewährung verurteilt. Wegen des Unterschlagungsdelikts
kommt in einem weiteren Verfahren noch einmal ein halbes Jahr dazu. Ortrud und
Dieter F. besuchen den reuigen Sünder wöchentlich in der Haftanstalt
Klingelpütz. Er verspricht seiner Frau unter Tränen das Blaue vom Himmel; sie
will es nach seiner Entlassung noch einmal mit ihm versuchen. Im April 1954
wird der zweite Sohn Rolf geboren. Im Juli 1954 erringt die deutsche Elf in
Bern die Fußballweltmeisterschaft. Im September 1954 bricht Hans F. seine
Entziehungskur ab. Im Dezember 1954 reicht Ortrud F. die Scheidung ein und
stellt ihm endgültig die Koffer vor die Tür. Danach verliert sich seine Spur.
Zehn Jahre später springt Hans F. bei Mühlheim vom Pfeiler der über den Rhein
führenden Hängebrücke, wird von einem belgischen Binnenschiffer aus dem Wasser
gezogen und erreicht im Sommer 1969 die Endstation seines Lebens. Er löst eine
Einwegkarte nach Konstanz und verkriecht sich in einer Absteige in
Bahnhofsnähe. Auf dem Nachttisch findet sich eine halb volle Flasche Steinhäger
und ein leeres Röhrchen Veronal. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber
einen Schuldenberg, den Ortrud F. bis zu ihrer Berentung im Jahr 1985 in
kleinen Raten abtragen wird.
Vor den
Müttern sterben die Söhne. Plötzlich und unerwartet. Werner K.1997, Klaus W.
1998, Peter S. 2001, Dieter F. 2004: Pankreaskarzinom, Hirnschlag, Speiseröhrenkrebs,
Koronarinsuffizienz. Die bloße Aneinanderreihung der ärztlich diagnostizierten
Todesursachen ist dem menschlich verständlichen Wunsch geschuldet, den organmedizinischen
Befund mit der Unwägbarkeit und der Zerbrechlichkeit unserer Existenz zu
versöhnen: Wem die Stunde schlägt – dem einen früher, dem anderen später. Mit
der achselzuckenden Gelassenheit, die sich aus dem ubiquitären, individuell bis
zum letzten Atemzug zäh verteidigten Irrglauben speist, dass es immer nur die
anderen sind, die sterben müssen, und wir das Beste immer noch vor uns haben,
ist es nach der Lektüre der vier verdichteten, in die Gegenwart
hineinreichenden Vorgeschichten indes nicht mehr weit her. Nicht weil man aus
der Ferne von diesen Geschichten gehört hat, weil sie einem irgendwie bekannt
vorkommen oder weil man sie so oder so ähnlich erlebt zu haben glaubt, sondern
weil sie im beteiligten männlichen Beobachter das bedrückende Gefühl der Unentrinnbarkeit
eines Fluchs auslösen, den die zitierte Anonyma 1945 als wortgewaltige
Sprecherin eines neuen, im Feuer der Geschichte gehärteten Geschlechts über die
deutschen Männer verhängt hat: Von dieser Niederlage sollt und werdet ihr
Versager euch nicht erholen!
Da nicht auszuschließen ist, dass
es sich bei der Diagnose eines fortgesetzten geschlechtsspezifischen Unglücks,
der Unterstellung einer transgenerationellen, altdeutsch ausgedrückt: in
Fleisch und Blut übergegangenen Schwäche, um eine paranoid gefärbte
Männerfantasie handeln könnte, sei ein zeitgeschichtliches Dokument zu Rate gezogen,
das den beschränkten Horizont der individuellen Erfahrung überschreitet.
In der 1970 erstmals
ausgestrahlten Fernsehdokumentation Klassenphoto von Eberhard Fechner
findet eine filmische Annährung an eine Gruppe deutscher Männer des Jahrgangs
1918 statt, die 35 Jahre nach dem Abitur in ihrer alten Schule zusammentreffen,
um vor der Kamera zu erzählen, was aus ihnen geworden ist. Der Klassenverband
wurde durch Krieg und Gefangenschaft halbiert. Ein jüdischer Mitschüler hat es
vorgezogen, dort zu bleiben, wohin er sich gerettet hat: nach Amerika. Die achtzehn
Überlebenden haben ihre Plätze in den oberen Rängen der äußerlich rehabilitierten
Nachkriegsgesellschaft eingenommen: Ärzte, Anwälte, Fabrikanten, Freiberufler,
höhere Beamte. Sie sind wieder wer oder sind zumindest bemüht, es zu behaupten.
Auf den grobkörnigen Großaufnahmen des Schwarz-Weiß-Films wirken ihre Gesichtszüge
überfroren. In den verschatteten Augenwinkeln nisten die Spuren erlittener und
ausgeübter Gewalt, nicht zu tilgende Gravuren einer historischen Katastrophe,
die ein Stück weiter unten, dort, wo die Münder den Text zum Bild formulieren,
umgehend dementiert wird. Hier ist die Rede von Gegnern, denen man es gezeigt,
von Schlachten, die man geschlagen, von Frontbegradigungen, die man vorgenommen,
von inneren Schweinehunden, die man über das bittere Ende hinaus besiegt hat.
Der deprimierende Eindruck, dass die Sprache, die sie im Munde führen, die
längst erloschene Sprache des Befehls und des Gehorsams ist, verstärkt sich
durch das pausenlos ausgestoßene Sperrfeuer leerer Begriffshülsen, mit dem jede
denkbare Gegenrede im Keim erstickt wird. Eine Einstellung, bei der sich die
Kamera von dem schwadronierenden Selbstdarsteller abwendet und über das stumme
familiäre Publikum hinweggleitet, zeigt eine Mutter, die neben ihrem
halbwüchsigen Sohn auf dem Sofa sitzt und zu einem Erzeuger emporblickt, dessen
ungezügelten Redestrom sie widerspruchslos über sich ergehen lässt.
Diese Szene, die ab Mitte der
Sechzigerjahre in den atemberaubenden Produktionsstätten deutscher Gemütlichkeit,
den Wohnzimmern, allabendlich en suite zur Aufführung kam, bildet einen
zentralen Topos der heroischen Geschichtsschreibung der westdeutschen Linken.
Der Sohn, so die Legende, die uns lieb und teuer ist, sei seinerzeit aufgestanden,
habe das Tischtuch der Gemeinsamkeiten zerschnitten, um anschließend mit
seinesgleichen unter roten Fahnen in Zehnerketten gegen die unheilige
Dreifaltigkeit von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit anzurennen. Weil es im vorgerückten
Alter jedem frei steht, im Gehäuse seiner Erinnerung die Möbel so lange hin und
her zu schieben, bis sie einem bequem genug erscheinen, schrumpft der Einwand
gegen diese Form der historischen Selbstvergewisserung zur Geschmacksfrage. Man
kann sich darin einrichten – muss es aber nicht. Im Licht der kurzen Lebensläufe
von Werner K., Klaus W., Peter S. und Dieter F. büßt die so genannte antiautoritäre
Revolte nicht nur einen Großteil ihres nostalgischen Glanzes ein, sie erscheint
im Nachhinein als ein verworrenes oder zumindest zutiefst zwiespältiges Unternehmen,
das die psychische Realität der Akteure auf groteske Weise verfehlte. Der
Vater, den es zu stürzen galt, war längst gefallen. Das dumpfe, konsaliksche
Brabbeln der mit dem Leben davongekommenen Landser versickerte in den schallschluckenden
Polstergarnituren der renovierten Republik: Papa erzählt vom Krieg und keiner
hört hin.
Woraus erwuchs die innere Not der
Söhne? Aus der geleugneten Einbindung der Väter in den nationalsozialistischen
Vernichtungsapparat? Aus ihrer penetranten weltanschaulichen Verbohrtheit? Aus
den fortdauernd einschüchternden Demonstrationen ihrer patriarchalen Übermacht
im Familienverband? Oder war es am Ende gar etwas wesentlich Geringeres und
Beschämenderes: Ihre seit der Zertrümmerung der kollektiven Größenfantasien
unter Beweis gestellte Feigheit vor der Frau und die damit einhergehende
Unfähigkeit, die Macht der allein gelassenen Mütter zu begrenzen und sie an der
Vereinnahmung ihrer Söhne zu hindern?(5)
Der Frankfurter Historiker Gerd
Koenen hat durch seine Veröffentlichungen Das rote Jahrzehnt(6) und Vesper,
Baader, Ensslin(7) entscheidende Beiträge zur Selbstaufklärung der Linken
und zur Entmystifizierung ihrer Motive geleistet. Da ihm schwerlich vorzuwerfen
ist, in seinen prägnanten Analysen etwas übersehen zu haben, was jenseits der
Grenzen seiner Wissenschaft liegt, sind seine Texte lediglich um eine Fußnote
zu ergänzen. Der Rückgriff ins Arsenal der militärischen Terminologie gehört
zur rhetorischen Grundausstattung jeder Revolution. Eine weit verbreitete Metapher
ist die von den Brücken, die der Revolutionär im Verlauf seines Einsatzes für eine
bessere Welt hinter sich abbricht. Die Beliebtheit dieses Bildes gründet in den
Assoziationen, die es hervorruft. Wer die Brücke, diese architektonische Vergegenständlichung
des zivilisatorischen Fortschritts, mutwillig zerstört, wappnet sich gegen die
Verlockungen des Rückzugs und versieht seine umwälzende Tätigkeit mit all den
Attributen, die ein Heldenleben seit der Antike auszeichnet: Härte,
Unbedingtheit, Askese, Autarkie. Es ist nicht zu bestreiten, dass es der
westdeutschen Linken und ihren bewaffneten Fraktionen auf dem Höhepunkt ihres
absurden Kampfes gegen die nazistisch kontaminierte »Vater« Morgana gelungen
ist, in der sie umgebenden Gesellschaft vorübergehend den Schrecken zu
verbreiten, der mit der Wiederbelebung des von keines Gedanken Blässe
angekränkelten Tugendterrors einhergeht: Geiselnahmen, Brandanschläge, Morde.
Über diesen spektakulären, im
kollektiven Gedächtnis fest verankerten Haupt- und Staatsaktionen ist mühelos
von der Tatsache abzusehen, dass wir, Werner K., Klaus W., Peter S., Dieter F.
und all die anderen kleinen Kader, Mitläufer und Sympathisanten, uns in der
Disziplin des rücksichtslosen Brückenabbruchs wesentlich schwerer taten als
unsere prominenten Brüder und Schwestern in Waffen und die kurzen Atempausen
des weltumspannenden Befreiungskampfes gerne dazu nutzten, uns heimlich durch die
offen gehaltene Hintertür in Richtung Heimat davonzustehlen. Dort, hinter den
sieben Bergen, bei den offiziell verpönten sieben Zwergen, dort, im zeitlosen
matriarchalen Windschatten der Geschichte, wurden die spätadoleszenten
deutschen Empörer mit nahezu allem versorgt, was sie entbehrten: Geld, sauberer
Wäsche, pünktlich servierten warmen Mahlzeiten, vor allem jedoch mit einer bedingungslosen
Zuneigung, die die mit dem Kontaktgift des Feminismus in Berührung gekommenen
Genossinnen zunehmend verweigerten: Junge, komm bald wieder!
Der Verdacht, dass es sich bei
unserer aufs große Ganze zielenden Revolution um eine mütterlich alimentierte
und lizenzierte Veranstaltung im überschaubaren Geviert des ewigen Sandkastens
gehandelt haben könnte, setzt unser Ringen um Autonomie und Identität einer
Lächerlichkeit aus, die das verzweifelte Empfinden der Vergeblichkeit nur mit
Mühe bemänteln kann. Von der Tragödie zur Farce und zurück – weit zurück. In
Homers Ilias tröstet Thetis, die unsterbliche Göttin, den todgeweihten
Sohn und Fronturlauber Achill mit jenen vertraut klingenden Worten, in denen
sich der lähmende Zwiespalt einer bindenden Freigabe offenbart: »Sie aber
setzte sich dicht neben ihn, die hehre Mutter,/ Streichelte ihn mit der Hand
.../ Mein Kind! Wie lange willst du mit Wehklagen und Betrübnis/ Dein Herz
verzehren und gedenkst weder der Speise/ Noch des Lagers? Und ist es doch gut,
sich mit einer Frau in Liebe/ Zu vereinigen! Denn nicht lange wirst du mir
leben ...«(8)
Stephan Wackwitz beschreibt in seinem
Familienroman Ein unsichtbares Land(9) eine Erinnerungsreise durch die
zertrümmerte und diskreditierte Welt der Väter und Großväter, die in ihrer
Behutsamkeit und Umsicht im breiten Strom der von konditionslosem
Subjektivismus getriebenen autobiografischen Bekenntnisliteratur ihresgleichen
sucht. Unter Wahrung der ethischen, durch das Verbrechen des Nationalsozialismus
vorgegebenen Scheidelinie, steuert der 1952 in Stuttgart geborene Leiter des
Krakauer Goethe-Instituts die Auseinandersetzung mit seinen männlichen Vorfahren
auf einen dritten Punkt hin, der jenseits von Freispruch oder Verdammung,
Versöhnung oder Lossagung liegt. Selbst wenn es möglich wäre, so Wackwitz, sich
über deren Handlungen und Unterlassungen absolute Gewissheit zu verschaffen,
kämen wir nicht um die Anerkennung der Tatsache herum, dass wir unser Leben
nicht der Parthenogenese verdanken, sondern von zwei Menschen unterschiedlichen
Geschlechts abstammen: Mutter und Vater. Indem Wackwitz sich der Unausweichlichkeit
des biologischen und kulturellen Erbes erzählerisch stellt, öffnet er den kollektiven
Erinnerungsraum und gibt den Blick frei auf eine zwischen Vater und Sprache
bestehende Gemeinsamkeit: Beide repräsentieren das Dritte der symbolischen Ordnung,
die in die Enge der Mutter-Kind-Dyade eindringt und sie mit Differenz und Welthaltigkeit
ausstattet. In der Rekonstruktion des Vaters und der kreativen Auflösung der in
Deutschland aus ehrenwerten Gründen sechzig Jahre lang konservierten
Täter-Opfer-Dichotomie liegen die Leistungen des Romans, und es tut der Sache
keinen Abbruch, dass der Autor für die eigene Person erheblich Zweifel daran zulässt,
dass der Fortschritt der Triangulierung – wie jede zivilisatorische Errungenschaft
– jederzeit von Rückfällen und regressiven Parallelaktionen bedroht ist.
Die
Spekulationen über die muttergestützte Rebellion der Söhne beleuchten Ereignisse,
die vor mehr als einem viertel Jahrhundert stattgefunden haben. Wenn aber die
Annahme der Gedächtnisforschung zutrifft, dass autobiografische Erinnerungen
keine wahrheitsgemäße Rekonstruktion früherer Erfahrungen, sondern Zugänge zur
aktuellen Selbsteinschätzung und Selbstbewertung darstellen, belegt das Œuvre
von Stephan Wackwitz in eindrucksvoller Weise, dass die bloße Verzeitlichung einschneidender
Ereignisse nicht unbedingt von der Erweiterung des inneren Spielraums begleitet
ist. In dem 1997 erstmals veröffentlichten Essay »Bachelor Pride Parade«(10)
beschreibt Wackwitz das Scheitern seiner Ehe. In diesem von zarter Wehmut
durchwirkten Text wird weder die obligatorische schmutzige Wäsche gewaschen
noch der weidlich bekannte Rosenkrieg vom Zaun gebrochen: »Auf dem Weg zum
Scheidungsanwalt«, so Wackwitz, »trug meine Frau ein zitronengelbes Leinenkleid,
das ich eigentlich sehr schön gefunden habe, obwohl sie es erst nach unserer
Trennung gekauft hat. Irgendwie, dachte ich, bin ich nie mehr in den Genuss
dieses Kleides gekommen.«(11) Der Verfasser spricht von einem Unglück, das in
seine Familie, seine Frau, seinen Sohn, in ihn selbst langsam eingedrungen sei,
ein Unglück, zu der sich erst im Zustand seiner Unübersehbarkeit das Gefühl
gesellt habe, »es sei schon immer da gewesen«.(12) Von diesem Befund ausgehend,
erinnert er sich an ein amerikanisches, von der Tante geschenktes Kinderbuch;
die Geschichte eines »einsam-stilvollen Bären«, die ihm seine Mutter in den
Fünfzigerjahren häufig vorgelesen habe: »Pierre Bear lebt im hohen Norden in
einer Blockhütte, ganz allein. Er hat dort ein wundervolles Fellbett unter einem
eisblumenverzierten Fenster, zu dem die Sterne der Polarnacht hereinschauen. Er
hat stilvolle Ohrensessel, chinesische Bodenvasen und einen apart grünen
Morgenrock. Ich betrachte die Bilder und verstehe, dass meine Vorstellungen vom
guten Leben Pierre Bears Blockhütte eigentlich nie wirklich verlassen
haben.«(13)
Die Erinnerung an dieses frühe
Lektüreerlebnis mündet ein in eine schonungslose, generalisierte Selbstbezichtigung.
Aus dem trügerischen Glück der »narzisstischen Unversehrtheit«, so Wackwitz,
sei jene »Form milder Asozialität« erwachsen, an der die meisten Männer mehr
oder weniger litten und die im Grunde auf eines hinausliefe: »die Unfähigkeit,
mit einer Frau zusammenzuleben«.(14)
Es wirkt auf den sympathisierenden
Leser bestürzend, wie dem ansonsten hoch reflexiven Schriftsteller in dieser
Textpassage der Gegenstand entgleitet. Er blendet aus, dass die himmlische
Schutzhülle über der Blockhütte ihre Undurchlässigkeit der doppelten
Imprägnierung durch Tante und Mutter verdankt. Er ignoriert, dass der autistische
Freiheitsbegriff des kleinen Bären dem geschichts- und vaterlosen Matriarchat
der Nachkriegszeit entstammt, und wenn er mit einer gewissen Genugtuung
vermerkt, dass das Bärenbuch »inzwischen auch im Gefühlshaushalt meines Sohnes
eine gewisse Rolle spielt«, zeigt er sich von der bodenlosen Naivität des
Traditionstransfers an seinen Ersatzmann ebenso wenig überrascht wie vom Ende
seiner Ehe. An die Stelle der begrifflichen und emotionalen Durchdringung des
Scheiterns tritt eine Art von heroischem Fatalismus, der das »heulende Elend der
einsamen Novemberabende« als angemessenen lebensgeschichtlichen Preis für seine
»splendid isolation«(15) festschreibt.
Wenn ich mir eingestehen muss,
dieser besserwisserischen Vorhaltungen nicht so recht froh zu werden, hat das
wohl damit zu tun, dass zwischen dem wackwitzschen Lavieren und dem »immer
schon da gewesenen Unglück« der Männer, deren früher Tod mich anhaltend
ängstigt, ein nicht zu leugnender innerer Zusammenhang besteht. Soweit ich
weiß, haben es Werner K., Klaus W., Peter S. und Dieter F. zeit ihres Lebens
nicht an Anstrengungen fehlen lassen, mit den Frauen an ihrer Seite glücklich
zu werden. Sie haben Berufe ausgeübt, Kredite aufgenommen, Häuser gebaut,
Kinder gezeugt und groß gezogen, und wenn man sich wieder und wieder fragt,
warum sie darüber zwar glücklich wurden, aber nicht glücklich blieben, wird man
unwillkürlich von jener »bedrohlichen Beunruhigung«(16) ergriffen, die sich in
die Nahbeziehung zum anderen Geschlecht einnistet und den ödipalen Sonderweg
der alternden deutschen Söhne von 1945 bis in die Gegenwart begleitet. Die
universellen, von der Psychoanalyse entdeckten kindlichen Bestrebungen der
»Verliebtheit in die Mutter und der Eifersucht gegen den Vater«(17) stießen in
der Ära des Interregnums der von Gott und den Männern verlassenen Trümmerfrauen
und Treckführerinnen auf keinen nennenswerten Widerstand. So wurden all jene
Wünsche wahr, deren Erfüllung sich in den späteren Paarbeziehungen als
veritabler, von Misstrauen, Konfliktscheu, Verfolgungsängsten und
Überwältigungsfantasien vergifteter Albtraum erwies, der auf dem Weg verlassen
wurde, den schon die Väter eingeschlagen hatten: Nichts wie weg.
Die langen Schatten, den die
mächtigen mütterlichen Objekte werfen, haben nicht nur das Leben der Männer
verdunkelt, von denen hier die Rede war, sondern auch das all jener Frauen, die
sich im Lauf der Zeit erkühnten, den inneren Platz dieser Objekte einnehmen zu
wollen. Diese Eintrübung der Sichtverhältnisse allein ist keine lebensbedrohliche
Krankheit. Ich kann mich aber vor dem Hintergrund der ausgebreiteten Biografien
beinahe mühelos einer Lebensmüdigkeit anverwandeln, die der Erfahrung der
Unverrückbarkeit einer psychischen Realität entspringt: Wir kommen aus dem
Frauenhaus unserer Kindheit nicht heraus.
Matthias Beltz ist in der Nacht
vom 26. zum 27. März 2002 einem Herzinfarkt erlegen und wurde von seiner Frau
in der gemeinsamen Wohnung tot aufgefunden. Auf der Homepage des Frankfurter
Kabarettisten, der am 31.1. 1945 geboren wurde und seinen in Russland
vermissten Erzeuger nie zu Gesicht bekam, findet sich folgender Eintrag:
»Es gibt ein Menschenrecht des
Kindes, etwas von der Kälte und Brutalität der Wirklichkeit, von der realen
Furchtbarkeit der Welt zu erfahren. Für dieses Erlebnis unbeugsamer Strenge hat
es einmal den Vater gegeben und damit die Chance, sich besser vorzubereiten auf
den Härtetest des Lebens.«
Letzte Buchveröffentlichung
des Autors: Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt. Der
abgedruckte Beitrag ist Teil eines in Arbeit befindlichen Essays: Rollender
Stein. Nachruf auf meinen Vater.
1
Sigmund Freud, zit. nach Laplanche/Pontalis: Das
Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, S. 512.
2
Ebd., S. 513.
3
Susan Sontag: Krankheit als Metapher, Frankfurt am
Main 1981.
4
Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen
vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 51.
5
Vgl. hierzu auch: Günther Amendt: Vatersehnsucht.
Annäherung in elf Essays, Bremen 1999.
6
Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine
deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001.
7
Gerd Koenen: Vesper Ensslin Baader. Urszenen des
deutschen Terrorismus, Köln 2003.
8
Homer, zit. nach Manthey: Die Unsterblichkeit Achills.
Vom Ursprung des Erzählens, München 1997, S. 71.
9
Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land.
Familienroman. Frankfurt am Main 2003.
10
Stephan Wackwitz: Selbsterniedrigung durch Spazierengehen,
Frankfurt am Main 2002, S. 71.
11
Ebd., S. 71.
12
Ebd., S. 72.
13
Ebd., S. 73.
14
Ebd., S. 74.
15
Ebd., S. 77.
16
Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum,
Weinheim 1991, S. 35.
17
Sigmund Freud, zit. nach Laplanche/Pontalis: Das
Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, S. 352.