Protestforscher Swen Hutter über die Proteste von Greta Thunberg, Fridays for Future und Extinction Rebellion.

Eine Woche lang demonstrierten vor allem junge Menschen in der Stadt für eine weitreichende Wende in der Klimapolitik. Die Protestbewegung „Extinction Rebellion“ blockierte über Tage wichtige Straßen der Hauptstadt. Seit gut einem Jahr protestieren Schüler regelmäßig am Freitag für mehr Umweltschutz – ist das ein nachhaltiger Trend oder nur eine vorübergehende Erscheinung? Der Protestforscher Swen Hutter gibt darüber im Interview mit der Berliner Morgenpost Antworten. Hutter ist Professor für Soziale Bewegungen und Konflikte an der Freien Universität Berlin und Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).

Herr Hutter, können Sie erklären, wie es dazu kam, dass eine vor dem schwedischen Parlament sitzende Jugendliche eine weltweite Bewegung ausgelöst hat?

Swen Hutter: Das ist schon erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass es nur wenig mehr als ein Jahr her ist. Das hat es in der Geschichte nicht so oft gegeben. Einerseits hat das mit dem Bild dieser jungen Frau zu tun und der schnellen Vernetzung und Aufstellung der Protestierenden, die auch davon profitieren, dass sie auf Schulen und deren Organisation zurückgreifen konnten. Andererseits haben sie auch von den Gelegenheiten profitiert, die es gab. Das Klima-Thema war schon stark in der öffentlichen Agenda vorhanden, es gab die Klimaziele und einen starken Diskurs darüber. Diese beiden Dinge, die schnelle Vernetzung über das Internet und das Klima-Thema haben die explosive Stimmung erzeugt.

Ist dafür auch ein markantes Gesicht, wie das von Greta Thunberg, notwendig?

Ich glaube, es kamen viele Dinge zusammen. Dazu gehört auch, dass sie medial gut verkauft werden konnte. Das hat sicher geholfen. Sie wurde auch schon im Dezember vergangenen Jahres zum Klimagipfel nach Polen eingeladen. Es geschieht selten, dass Aktivisten schon nach wenigen Monaten des Protests eingeladen werden. Es hat sicher auch damit zu tun, dass sie am Anfang als weniger gefährlich erschien und dass sie von Politikern unterstützt wurde, deren Forderungen sie aufgriff. In diesem Sinne ist "Fridays for Future" ja keine systemkritische Bewegung, sondern sie forderten lediglich, das umzusetzen, was die Politiker beschlossen hatten.

Welche Rolle spielt dabei die Generationenfrage? Der Vorwurf lautet ja, dass die Alten die Zukunft der Jungen verspielen.

Genau, deshalb hat es so gut gepasst, dass die Bewegung von einer sehr jungen Frau verkörpert wurde. Das ist sicher etwas, was wir nicht erwartet haben in Deutschland. Wir hatten eher das Bild von einer de-politisierten, apathischen Jugend. Gleichzeitig muss man sagen, in der Geschichte waren Bewegungen oft Jugendbewegungen.

Woran liegt das?

Junge Leute sind eher bereit zu demonstrieren oder andere Formen des Protests zu nutzen. Das hat auch damit zu tun, dass junge Menschen eher die Systemfrage stellen. Aber natürlich auch damit, was wir in der Wissenschaft „biografische Verfügbarkeit“ nennen: Junge Leute haben eher die Zeit und die Flexibilität zu demonstrieren.

Ist das auch ein Wohlstandsphänomen, weil Studenten flexibler sind als Arbeiter und für viele das Ende des Monats das größere Problem darstellt als das Ende der Welt?

Die Frage, wer eigentlich demonstriert, ist ein klassisches Phänomen. Das sind in Deutschland und Europa vor allen diejenigen mit höherem Bildungsgrad und nicht die unteren Einkommensschichten. Das hat damit zu tun, dass man die Ressourcen haben muss, sich die Zeit zu nehmen. Das heißt aber nicht, dass sie sich nur für ihre eigenen Interessen einsetzen, sondern stellvertretend auch für andere einstehen. Die klassischen Demonstrierenden bei den Hartz-IV-Protesten Mitte der 2000er-Jahre waren zwar weniger gebildet als diejenigen bei "Fridays for Future" oder "Extinction Rebellion", sie repräsentierten aber auch nicht die untersten Einkommensschichten, sondern gehörten doch eher der besser gebildeten Mittelschicht an.

Die sogenannten Gelbwesten in Frankreich gehören aber nicht dazu. Da demonstrieren Menschen, die sich von Folgen politischer Entscheidungen direkt bedroht fühlen.

Das ist ein Gegenbeispiel. Aber in der Vergangenheit haben auch in Frankreich in der Masse eher die besser Gebildeten und ökonomisch nicht am schlechtesten Gestellten protestiert. Das ist in Deutschland auch bei Pegida der Fall. Diese Menschen fühlen sich zwar von ökonomischen Veränderungen bedroht, aber es sind im Durchschnitt eher nicht diejenigen, die schon abgestiegen sind.

Droht Deutschland eine Gelbwesten-Bewegung?

Es ist die große offene Frage, wohin sich diese Klimabewegung und die politische Polarisierung bewegt. Wir wissen, dass es eine starke, neue Konfliktlinie in westeuropäischen Gesellschaften gibt, die Fragen von Öffnung, Abgrenzung, Identität und unserem Verständnis darüber, wer wir sind und wer die anderen, in den Vordergrund stellt. Es ist noch nicht klar, ob sich der Klimakonflikt da einbettet. Es gibt Tendenzen dafür. Das hat man gesehen, als AfD-Chef Alexander Gauland sagte, dass das dritte Thema der Partei neben Einwanderung, Europakritik jetzt das Klima sein wird. Ich bin eher skeptisch, was eine Gelbwesten-Bewegung auf den Straßen Deutschlands angeht. Die parteipolitische Auseinandersetzung könnte sich aber in diese Richtung entwickeln. Generell sollte man aber auch festhalten, dass es bei den Gelbwesten in Frankreich zwar zu Beginn gegen eine Erhöhung der Benzinsteuer und damit gegen eine Klimareform ging. Es ist insgesamt aber eher keine Bewegung gegen mehr Klimaschutz, sondern gegen mehr finanzielle Belastung.

Geht die Gruppe "Extinction Rebellion", die in der vergangenen Woche zahlreiche Blockaden in Berlin organisiert hat, in diese Richtung? Deren Protest geht ja über die Klimadebatte hinaus.

Ja, wobei man unterscheiden muss zwischen den stark vorgegebenen Vorlagen der Gruppe, die vor allem aus Großbritannien kommen, und dem, was die Leute hier auf der Straße unterschreiben würden. Da besteht meines Erachtens ein Unterschied. Dieses leicht populistische, naive Demokratieverständnis scheint mir eher in der Vorlage und Äußerungen von zentralen Aktivisten in Großbritannien vorhanden als hier.

Bei "Extinction Rebellion" fällt auf, dass das Vorgehen und Auftreten sehr durchorganisiert ist, bis hin zu gottesdienstähnlichen Abläufen. Ist das ein Trend der Zeit oder nur auf diese Gruppe beschränkt?

Protest hat immer etwas Performatives. Man läuft da halt mit und es ist orchestriert. Bei "Extinction Rebellion" ist die Orchestrierung etwas stärker, man will nicht zu viel dem Zufall überlassen, sonst besteht die Gefahr der Eskalation. Ich habe das Sektiererische in dieser Woche aber nicht so stark erlebt. Aber wenn man die Verlautbarungen im Internet sieht, dann hat es schon etwas davon.

Viele Lebensbereiche, wie das Einkaufen, verlagern sich in das Internet, die Sozialen Medien sind voll mit Protest. Warum gibt es überhaupt noch so viele Demonstrationen auf der Straße?

Protest ist auch im Internetzeitalter ein kollektives Phänomen. Das hat damit zu tun, dass es medial mehr auffällt, andererseits hat es einen internen Effekt. Wenn Sie eine Gruppe kreieren wollen, ist es einfacher, sich zu treffen und gemeinsam etwas zu unternehmen.

Finden zurzeit mehr Demonstrationen statt, als noch vor wenigen Jahren – oder ist das ein zufälliges Aufeinandertreffen von Klimaprotesten, sei es im Hambacher Forst, bei "Fridays for Future" oder "Extinction Rebellion"?

Da fehlen uns die Daten, um das hart zu beantworten. Ich glaube aber der Eindruck täuscht, dass vorher weniger demonstriert wurde. Was wir eher erleben, ist das Aufkommen einer starken Bewegungswelle, die sich um ein Thema formiert, nämlich Klimawandel und Umweltschutz. Es gab aber auch schon früher starke Hochphasen der Umweltbewegung, die stark mobilisiert haben, wie rund um den Atomausstieg.

Hat die Politik über einen längeren Zeitraum versagt, weil sich derzeit so viel um das Klima dreht?

Das Klima ist sicher eines der zentralen Themen der Gegenwart. Die Einwanderungswelle hat aber genauso stark mobilisiert. Ich würde nicht sagen, dass die Politik versagt hat, aber manche Äußerungen von Beteiligten haben sicher dazu beigetragen, dass die Bewegung nicht kleiner wurde. Gerade am Anfang, als man versucht hat, über Schüler, die in die Schule gehören, zu reden, statt über deren Forderungen. Das könnte jetzt bei "Extinction Rebellion" wieder passieren, weil man mehr über die Form des Protestes spricht als über Inhalte. Das ist nicht der beste Umgang.

Wie entwickeln sich solche Bewegungen weiter, die scheinbar aus dem Nichts entstehen? Führen Sie zur weiteren Polarisierung oder nutzen sie langfristig ihrem Anliegen?

Ich finde, dass es zu einer demokratischen Gesellschaft gehört, innerhalb eines gewissen Rahmens Konflikte offen auszutragen. Der Rahmen wurde meiner Meinung nach bislang nicht überschritten, weil die Blockaden der vergangenen Woche vom Versammlungsrecht gedeckt waren. Die Polizei hat da auch nicht eingegriffen. Dass dies in einem zweiten Schritt zu einer Schärfung und Polarisierung der Positionen führen kann, ist an sich auch nichts Schlechtes.

Wie muss ein Konflikt beschaffen sein, damit er zu einer Massenbewegung führt?

Das ist eine schwierige Frage. Was wir generell wissen ist, dass ein Potenzial an Missstand vorhanden sein muss. Außerdem muss es eine gute Organisation geben und günstige Gelegenheiten. Die werden meistens durch die Politik geschaffen, weil die etablierte Politik und die Parteien sich eines Themas nicht gleich annehmen oder in ihrer Kommunikation Fehler begehen. Wenn diese Dinge zusammentreffen, entstehen Massenbewegungen. Das erleben wir gerade in der Klimadebatte: Eine gute Organisation, einen großen Missstand und Politiker, die handwerkliche Fehler begehen.