"Putin braucht Anreize, diesen Krieg zu beenden" – Seite 1

Die Kanadierin Janice Gross Stein ist Politikwissenschaftlerin, Expertin für internationale Beziehungen und Professorin für Konfliktmanagement. Wladimir Putin könnte versucht sein, bei einem direkten Aufeinandertreffen des russischen Militärs mit der Nato den Krieg zu eskalieren, sagt sie im ZEIT-ONLINE-Interview. Deswegen ist sie gegen eine Flugverbotszone über der Ukraine. Wie könnte aber eine Lösung aussehen? Westliche Regierungen müssen direkt mit Präsident Putin verhandeln, sagt sie. Und je mehr wir ihn dämonisierten, desto schwieriger wird es, Raum dafür zu schaffen. Stein war die Gründungsdirektorin der Munk School of Global Affairs an der Universität Toronto.

ZEIT ONLINE: Frau Stein, seit Wochen warnen Sie in nordamerikanischen Medien vor einer Eskalation des Kriegs in der Ukraine. Letzten Sonntag bombardierte Russland eine Militärbasis im Westen des Landes, die wohl auch zum Training ausländischer Kämpfer genutzt wurde. Was dachten Sie, als Sie davon erfuhren?

Janice Stein

Janice Stein: Präsident Putin wollte den Nato-Ländern, die die Ukraine in diesem Krieg unterstützen, ein Signal senden: Ihr bewegt euch auf dünnem Eis! Und es war sicher auch eine Warnung vor der Gefahr einer Eskalation. Die Luftabwehrraketen und Panzerabwehrraketen, die für den ukrainischen Widerstand von zentraler Bedeutung sind, kommen über Polen und Rumänien in die Westukraine. Ohne diese Versorgungsleitung wäre die Ukraine nicht mehr in der Lage, weiterzukämpfen. Bisher hat Russland aber keinen der Konvois bombardiert, deshalb können wir den Angriff auf das Trainingslager so nah an der polnischen Grenze so lesen: Dass die Nato Nachschub sendet, ist akzeptabel. Sollte sie jedoch einen Schritt weiter gehen, wird Russland es auch tun.  

ZEIT ONLINE: Warum akzeptiert Russland, dass die Nato sich überhaupt einmischt?  

Stein: Weil auch Putin sich schwer damit tut, die Eskalation zu kontrollieren. Die russischen Soldaten sind den ukrainischen zahlenmäßig überlegen, doch sollte es zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland kommen, dann wäre Russland in jeder Hinsicht unterlegen.

ZEIT ONLINE: Das klingt, als hätte Russland bei einer militärischen Eskalation viel mehr zu verlieren. Warum richtet die Nato dann keine Flugverbotszone über der Ukraine ein, wie es der ukrainische Präsident Selenskyj gerade diese Woche wieder in einer Rede vor dem US-Kongress gefordert hat?  

Stein: Eine Flugverbotszone würde eine der Grundregeln für die Vermeidung von Eskalation verletzen. Sollte ein russisches Flugzeug in den ukrainischen Luftraum eindringen, müsste die Nato es abschießen. Das würde einen Krieg zwischen Russland und den Nato-Staaten bedeuten. Und Putin wäre dann versucht, seine Unterlegenheit wettzumachen, indem er wiederum eskaliert und die nächstgelegenen Nato-Staaten angreift, also Polen, Lettland, Litauen und Estland. So wird aus einem geografisch begrenzten Krieg ein großer Krieg. Das schaukelt sich langsam hoch.

ZEIT ONLINE: Wie kann sich der Westen in diesem Krieg dann moralisch verhalten?

Stein: Das ist die falsche Fragestellung, denn Sie nehmen damit an, dass es nur eine moralische Herausforderung gibt. Es gibt aber mindestens zwei. Die eine ist: Wie hilft man den Opfern eines unverschuldeten, brutalen Angriffskriegs, also den Ukrainern? Das ist ein moralisches Gebot. Es gibt aber noch ein zweites moralisches Gebot, nämlich den Krieg zu begrenzen und den Tod von Hunderttausenden in Russland und Europa zu verhindern. Gäbe es nur eine moralische Frage, wüssten wir sofort, was zu tun ist. Wir müssen aber verschiedene moralische Pflichten abwägen und den Weg finden, der am wenigsten Schaden anrichtet. Und genau das tun Regierungen und die Nato gerade. 

"Sanktionen richten auf lange Sicht Schaden an"

ZEIT ONLINE: Sie haben dabei aber nicht immer die öffentliche Meinung auf Ihrer Seite.  

Stein: Der Druck auf die Nato-Mitgliedsstaaten ist derzeit riesig. Aber Politiker haben die Aufgabe, die Öffentlichkeit aufzuklären. Sie müssen den Menschen erklären, wie schnell man sich in einem Krieg einer ganz anderen Größenordnung befinden kann. Der Erste Weltkrieg begann mit einem Konflikt zwischen Österreich und Serbien im Sommer 1914. Im September war bereits ein Weltkrieg daraus geworden. 

ZEIT ONLINE: Viele Beobachter fühlen sich ja eher an 1939 erinnert, als Deutschland Polen angriff. Sie warnen vor den Gefahren einer neuen Beschwichtigungspolitik.

Stein: Man kann verschiedene historische Beispiele wählen und Lektionen daraus ziehen. Nur, dass wir hier eine Dimension haben, die wir noch nie getestet haben, nämlich eine Konfrontation mit einer Nuklearmacht, deren Militärdoktrin den Einsatz taktischer Atomwaffen auf dem Schlachtfeld in Erwägung zieht. 

ZEIT ONLINE: Sie nehmen Russlands Drohung, Atomwaffen zu benutzen, also ernst?  

Stein: Ja, natürlich. Wie könnte man das nicht ernst nehmen? Es wäre töricht, mit Sicherheit zu behaupten, das sei nur ein Bluff. Niemand weiß, was in Präsident Putins Kopf vor sich geht, außer Präsident Putin selbst. Man muss sich also gegen das Schlimmste absichern. Aber weil wir von Moral sprachen: Stellen Sie sich vor, dieser Krieg eskaliert und Russland setzt taktische Nuklearwaffen in der Ukraine ein – wer würde am meisten darunter leiden? Wenn es Ihnen also darum geht, möglichst viel für die Ukrainer zu tun, haben Sie hier Ihr Argument gegen Eskalation.  

ZEIT ONLINE: Was halten Sie von den Wirtschaftssanktionen, die der Westen gegen Russland verhängt hat?

Stein: Sanktionen richten auf lange Sicht Schaden an, können aber nie kurzfristig die Tatsachen auf dem Schlachtfeld ändern. Sie müssen der sanktionierten Person also auch Anreize bieten, ihr inakzeptables Verhalten zu ändern. Was tun wir, wenn Putin die Kampfhandlungen einstellt? Heben wir alle Sanktionen auf oder die schwersten? Diese Anreize sind der Kern eines erfolgreichen Sanktionsregimes und sie werden derzeit komplett außer Acht gelassen. Dabei wissen wir doch aus den letzten 20 Jahren, dass politischer Druck es sehr schwierig macht, Sanktionen wieder aufzuheben.  

ZEIT ONLINE: Glauben Sie, diese Anreize werden derzeit in Hinterzimmern verhandelt, über China, die Türkei oder Israel?  

Stein: Nein, ich weiß, dass das nicht der Fall ist. Der Grund ist, dass die Sanktionen als Strafe angesehen werden. Manche gehen sogar so weit zu sagen, sie sollen Putin stürzen. Dafür sind Sanktionen aber nicht vorgesehen. Sie sollen Verhalten ändern. Man muss die Bedingungen also ganz klar festlegen.

ZEIT ONLINE: Liegt diese Bestrafungsmentalität auch an der moralischen Entrüstung in demokratischen Gesellschaften?  

Stein: Natürlich. Und Regierungen müssten auch hier ihre Bevölkerung aufklären. Unsere beste Hoffnung in diesem Krieg ist eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine. Die schlimmsten Szenarien wären entweder, dass die Ukraine besiegt wird oder dass der Krieg eskaliert. Beides wäre schrecklich. Das bedeutet, Regierungen werden mit Präsident Putin verhandeln müssen. Und je mehr wir ihn dämonisieren, je mehr wir unsere Gefühle überhandnehmen lassen, desto schwieriger wird es für die Nato werden, Raum für diese Verhandlungen zu schaffen. 

ZEIT ONLINE: Es gibt bereits Verhandlungen, unter anderem über eine Neutralität der Ukraine. Trotzdem scheinen die Positionen derzeit noch sehr weit auseinander zu liegen. Wie könnte ein Friedensabkommen aussehen?  

Stein: Frieden ist ein großes Wort. Der Schaden, den Russland seinem Verhältnis mit der Ukraine zugefügt hat, wird auf mindestens 20 Jahre nicht zu reparieren sein. Der Hass der Ukrainer ist zu groß. Es wird also keinen Frieden geben. Was es geben kann, ist ein Waffenstillstand. Und Präsident Selenskyj sagt jetzt schon Dinge, die er vor drei Wochen noch nicht gesagt hat – zum Beispiel, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten wird. Das sind die ersten Schritte hin zu Verhandlungen, die für einen Waffenstillstand notwendig sind. Diese Verhandlungen hängen jedoch auch davon ab, dass der Preis des Kriegs für Präsident Putin zu hoch wird und er Anreize bekommt, ihn zu beenden.  

"Wir müssen alle glaubhaften Mittelsmänner kontaktieren"

ZEIT ONLINE: Allerdings haben wir in den letzten Wochen auch gelernt, dass Präsident Putin seine Entscheidungen nicht nach einer Kostennutzenrechnung zu treffen scheint. Für ihn ist wichtiger, wie er in die Geschichte eingeht. Was bedeutet das für die Verhandlungen?  

Stein: Präsident Putin mag sich auf einer historischen Mission glauben, die ursprünglichen russischen Völker zu vereinen. Doch sogar er wird darin behindert, wenn so viele russische Soldaten sterben, dass er keine Reserven mehr hat und jetzt ausländische Kämpfer suchen muss. Das ist kein Zeichen von Stärke. Auch Staatschefs mit hochtrabenden Ambitionen können unter Druck geraten. Putin sieht die Risse im System. Seine engsten Berater im Sicherheitssystem machen sich langsam Sorgen über die innerstaatlichen Folgen dieses Kriegs. Und Putin ist weder komplett von der Realität abgeschnitten, noch ist er gänzlich immun gegen den Schaden, den dieser Krieg seinem Ansehen in Russland zufügt, wenn er genauso schlecht weitergeht wie bisher. Die große Frage ist: Wie weit wird er noch gehen? Ist er bereit, die ganze Ukraine in Schutt und Asche zu legen? Dann muss er das Land auch wieder aufbauen und besetzen, mit einer Armee, die schon jetzt mit dem Hass der ukrainischen Bevölkerung nicht zurechtkommt. Er hat einen riesigen strategischen Fehler begangen.

ZEIT ONLINE: Was kann der Westen tun, um diesen Krieg zu beenden?  

Stein: Zwei Dinge. Der Westen kann den Ukrainern möglichst lange und möglichst viele Verteidigungswaffen liefern. Leert die Arsenale! Die Mengen an Ausrüstung, die über die Grenzen gehen, erinnern jetzt schon an die Berliner Luftbrücke. Aber es müssen noch mehr werden, denn diese Waffen machen die ukrainische Armee so effektiv. Eine Flugverbotszone würde nur begrenzt nutzen, denn der größte Schaden für Zivilisten kommt von Raketen und Artilleriegeschossen.

ZEIT ONLINE: Und zweitens?

Stein: Zweitens müssen wir alle glaubhaften Mittelsmänner kontaktieren, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten und nach Möglichkeiten für eine Waffenruhe zu suchen. So unappetitlich das den moralisch empörten westlichen Öffentlichkeiten auch zu sein scheint: Es ist das, was den Ukrainern am meisten helfen würde. Regierungschefs müssen weiterhin nach Moskau reisen. Wir müssen mit privaten Vermittlern sprechen. Das darf keine Schande sein, denn wir verhandeln nie mit unseren Freunden, sondern immer nur mit unseren Feinden.

ZEIT ONLINE: Was ist mit Selenskyjs Bitte, die Sanktionen noch zu verschärfen?  

Stein: Ein bisschen ließe sich noch machen, aber nicht mehr viel. Bei der Energie bestehen die größten Lücken. Wenn aber die Heizkosten durch die Decke gehen, riskieren die Nato-Staaten den öffentlichen Rückhalt für diesen Krieg.  

ZEIT ONLINE: Ein großes Thema in Deutschland.  

Stein: Genau. Deutschland könnte sagen: Wir unternehmen alles außer einer Militärinvasion und importieren kein russisches Öl und Gas mehr. Das wäre übrigens ein Weg, sich moralisch zu verhalten. Aber ich verstehe auch, warum die deutsche Regierung es nicht tut.