Inhalt

OLG München, Teil-Grund- und Teil-Endurteil v. 06.08.2020 – 24 U 1360/19
Titel:

Arzthaftung - grober Behandlungs- und Befunderhebungsfehler wegen Nichtvorlage eines auf der Intensivstation gefertigten EKGs an einen Arzt

Normenketten:
BGB § 253, § 630a, § 630h Abs. 5, § 823 Abs. 1, § 842, § 843, § 845
ZPO § 304 Abs. 1
Leitsätze:
1. Schon eine bloße Mitverursachung reicht aus, um einen Ursachenzusammenhang zu bejahen (wie BGH, Urteil vom 19. 04. 2005 – VI ZR 175/04 –, VersR 2005, 945, Urteil vom 05. 04. 2005 – VI ZR 216/03 –, Rn. 14, VersR 2005, 942). (Rn. 75)
2. Ein eindeutiger, fundamentaler Verstoß gegen eine interne Regelung der Klinik, die zum Schutz der Patienten eine zeitnahe ärztliche Befundung erhobener Befunde gewährleisten soll (hier: unverzügliche Vorlage eines ohne ärztliche Anweisung geschriebenen EKGs in die Patientenakte), die einer Pflegekraft schlechterdings nicht unterlaufen darf, führt zur Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität. (Rn. 77 – 84)
3. Auf die zeitnah unterbliebene Vorlage des EKGs in die Patientenakte sind die Grundsätze über den Befunderhebungsfehler entsprechend heranzuziehen. (Rn. 85 – 90)
4. Schmerzensgeld von 225.000,00 € bei einer hypoxischen Hirnschädigung einer 43-jährigen Frau (Rn. 95)
Schlagworte:
Arzthaftung, EKG, hypoxischer Hirnschaden, Befunderhebungsfehler, grober Behandlungsfehler, Schmerzensgeld
Vorinstanz:
LG Kempten, Urteil vom 28.02.2019 – 32 O 1228/12
Fundstellen:
BeckRS 2020, 39322
NJOZ 2021, 243
LSK 2020, 39322
NJW 2021, 1472

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin zu 1) wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 28.02.2019, Az. 32 O 1228/12, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1) ein weiteres Schmerzensgeld von 75.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 225.000,00 € seit dem 20.04.2010 bis zum 26.01.2011, aus 125.000,00 € seit dem 27.01.2011 bis zum 10.07.2011, aus 100.000,00 € seit dem 11.07.2011 bis zum 09.01.2012 sowie aus 75.000,00 € seit dem 10.01.2012 zu bezahlen.
2. Hinsichtlich der Berufungsanträge III., IV. und VIII. ist die Klage der Klägerin zu 1) dem Grunde nach gerechtfertigt.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 1) jeglichen weiteren, ihr aus der streitgegenständlichen ärztlichen Falschbehandlung am 08.08.2008 zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeht / übergegangen ist.
II. Die Berufung des Klägers zu 2) wird zurückgewiesen.
III. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zu 2) Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Kläger machen gegen die Beklagte Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen einer behaupteten ärztlichen Fehlbehandlung der Klägerin zu 1) im Krankenhaus … der Beklagten vom 07. - 09.08.2008 geltend.
2
Die am 09.05.1965 geborene Klägerin zu 1) (im Folgenden: die Klägerin) wurde am 07.08.2008 um 17:30 Uhr wegen einer hypertensiven Entgleisung (Blutdruck 230/100 mmHG, Herzfrequenz 125/min) durch den Notarzt ins Krankenhaus … eingeliefert, dessen Trägerin die Beklagte ist. Sie wurde mit der Diagnose hypertensive Entgleisung im Zusammenhang mit C2-Entzug in der interdisziplinären Intensivstation aufgenommen. Dort wurde um 17:36 Uhr ein 12-KanalRuhe-EKG angefertigt. Aufgrund der Medikation durch den Notarzt waren der Blutdruck auf 150/90 mmHG und die Herzfrequenz auf 104 Schläge pro Minute gefallen. Das EKG zeigte in der Ableitung V5 ein korrigiertes QT-Intervall von 0,39 Sekunden.
3
Die Therapie der Alkoholentzugssymptomatik erfolgte durch das Medikament Clonidin (Catapresan P) intravenös über Perfusor und zusätzliche Gabe eines Benzodiazepins unter Monitorüberwachung. Auf dem Therapieplan der Intensivstation findet sich ferner die Verordnung des Medikaments Aponal mit dem Wirkstoff Doxepin. Dieses Medikament wurde ausweislich des Therapieplans am Abend des 07.08.2008 der Klägerin noch nicht verabreicht.
4
Unter Verabreichung des Medikaments Clonidin ergab sich in der Nacht vom 07.08.2008 auf den 08.08.2008 eine allmähliche Absenkung des erhöhten Blutdrucks der Klägerin. Gleichzeitig kam es zu einer Verlangsamung des Pulsschlags der Klägerin. Weil der Puls bis auf 57 Schläge pro Minute gefallen war, wurde die Gabe von Clonidin um 02:00 Uhr beendet. Anschließend fiel der Pulsschlag kurzzeitig auf ca. 44 Schläge, stabilisierte sich dann aber bei etwa 72 Schlägen pro Minute.
5
Am Morgen des 08.08.2008 um 07:06 Uhr wurde erneut ein 12-Kanal-Ruhe-EKG der Klägerin angefertigt. Dieses zeigt ein deutlich verlängertes korrigiertes QT-Intervall der Klägerin von 0,62 Sekunden. Dieser Wert liegt außerhalb der Norm und hatte - was zwischen den Parteien unstreitig ist - zur Folge, dass die Klägerin weiterhin unter Monitorüberwachung auf der Intensivstation hätte bleiben müssen und dass eine Gabe des Medikaments Aponal (Doxepin) hätte unterbleiben müssen, da zu den Nebenwirkungen dieses Medikament die Verlängerung des QT-Werts gehört.
6
Wer das EKG am Morgen des 08.08.2008 geschrieben hat und auf wessen Anordnung dies erfolgte, konnte nicht geklärt werden. Auf der Intensivstation hatten an diesem Morgen ab 06.00 Uhr die Krankenschwestern C. S. und B. G. Dienst. Neben der Klägerin befand sich nur ein weiterer Patient auf der Intensivstation, dessen Zustand stabil war.
7
Oberarzt Dr. L. führte am 08.08.2008 zwischen 08:44 und 09:15 Uhr die Patientenvisite auf der Intensivstation durch. Er sah dabei die Pflegekurve der Klägerin durch, in der allerdings die Anfertigung des neuen EKGs vom 08.08.2008, 07:06 Uhr, nicht vermerkt ist. Um 09:14 Uhr wurden bei der Klägerin ein Echokardiogramm und eine Sonographie des Bauchraums durchgeführt. Anschließend wurde sie gegen 10:00 Uhr auf die Normalstation verlegt. Sie erhielt am Abend des 08.08.2008 das Medikament Aponal (Doxepin). Am Morgen des 09.08.2008 löste die Zimmernachbarin der Klägerin einen Notruf aus, weil die Klägerin neben dem Bett zu Boden gestürzt war. Das Klinikpersonal fand die Klägerin gegen 06:15/06:25 Uhr leblos mit Schnappatmung und dunkelrotem Kopf am Boden liegend vor. Die Klägerin wurde unter Reanimation auf die Intensivstation gebracht und dort intubiert. Es erfolgten mehrere Defibrillationen, die am Ende erfolgreich verliefen. Die Sauerstoffsättigung der Klägerin lag zu Beginn der Reanimation lediglich bei 44%.
8
Die Klägerin wurde nach Stabilisierung ihres Zustands in das Klinikum I. der Beklagten verlegt, da die Ärzte als Auslöser des Herz-Kreislauf-Stillstands einen akuten Myokardinfarkt oder eine Lungenarterienembolie vermuteten. Die weiteren Untersuchungen ergaben als Ursache des Herz-Kreislaufstillstands ein medikamentös induziertes Long-QT-Syndrom.
9
Am 04.09.2008 wurde die Klägerin aus der stationären Krankenhausbehandlung zur Durchführung einer neurologischen Rehabilitationsmaßnahme ins Therapiezentrum B. entlassen. Sie hat infolge des Herz-Kreislauf-Stillstands einen schweren hypoxischen Hirnschaden erlitten und ist infolgedessen vollständig pflegebedürftig (Pflegestufe III bzw. Pflegegrad 5).
10
Sie ist seit 2009 mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen B, G, H und RF als schwerbehindert anerkannt (Anlage K1). Ihr Ehemann, der Kläger zu 2), wurde am 14.11.2011 zum Betreuer für alle Angelegenheiten bestellt (Anlage K2). Eine verbale Kommunikation mit der Klägerin ist nicht möglich. Mit einer Besserung ist nicht zu rechnen. Hinsichtlich des Gesundheitszustands der Klägerin wird auf die Anhörungen des Klägers zu 2) (Protokolle vom 18.05.2017, S. 2 = Bl. 223 d. A., und vom 16.07.2020, S. 8/9 = Bl. 430/431 d. A.), den ärztlichen Abschlussbericht des Therapiezentrums B. vom 15.01.2009 und die Arztbriefe des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. vom 29.11.2011 und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L. vom 24.02.2011 (Anlagen K3, K6 und K7) Bezug genommen.
11
Die Haftpflichtversicherung der Beklagten hat bereits in den Jahren 2011/12 an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 150.000,00 € und an den Kläger zu 2) für seinen Verdienstausfallschaden 6.000,00 € geleistet.
12
Die Kläger erheben folgende Behandlungsfehlervorwürfe:
(1) Das Ruhe-EKG vom 08.08.2008 sei durch die Ärzte der Beklagten nicht zutreffend ausgewertet worden. Die am Morgen des 08.08.2008 vorliegende reaktionspflichtige Verlängerung des QT-Intervalls sei nicht erkannt worden. Darin liege ein grober Behandlungsfehler.
(2) Es sei behandlungsfehlerhaft gewesen, die Klägerin am 08.08.2008 auf die Normalstation zu verlegen. Die Klägerin hätte unter Monitorüberwachung bleiben müssen.
(3) Die Verabreichung des Medikaments Aponal (Doxepin) am 08.08.2008 sei absolut kontraindiziert gewesen. Die Gabe des Medikaments stelle einen weiteren groben Behandlungsfehler dar und sei kausal für den Herz-Kreislauf-Stillstand gewesen.
(4) Falls der Oberarzt Dr. L. bei der Visite am 08.08.2008 keine Kenntnis von dem am selben Morgen um 07:06 Uhr geschriebenen EKG gehabt haben sollte, liege ein Organisationsverschulden der Beklagten vor.
13
Die Klägerin hält ein Schmerzensgeld von mindestens 225.000,00 € für angemessen, auf das die Zahlungen der Beklagten von 150.000,00 € anzurechnen seien. Sie habe vor dem Vorfall den Haushalt mit drei - damals noch - minderjährigen Kindern geführt, wofür sie einen Haushaltsführungsschaden anhand der Tabellen 8 und 5 nach Schultz-Borck/Hofmann fordern. Die Klägerin behauptet, sie wäre zum 01.09.2009 - mit dem Wechsel der 1998 geborenen Zwillinge von der Grundauf die Realschule - wieder halbtags in ihren erlernten Beruf als technische Zeichnerin zurückgekehrt und hätte dort 1.000,00 € netto monatlich verdient. Nach deren Schulabschluss Mitte 2016 hätte sie wieder ganztags gearbeitet und 2.000,00 € netto monatlich verdient.
14
Der Kläger zu 2) habe aufgrund der Pflegebedürftigkeit seiner Frau nicht mehr im Schichtdienst arbeiten können, wodurch ihm ein dauerhafter Verdienstausfall von 250,00 € im Monat entstanden sei und entstehe.
15
Die Kläger haben im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht Kempten folgende Anträge gestellt (Klageschrift vom 16.07.2012, Bl. 1 ff., und Schriftsatz vom 14.01.2019, Bl. 325 ff. d. A.).
- Zahlung eines Schmerzensgelds von mindestens 225.000,00 € an die Klägerin (wobei von der Beklagten vorgerichtlich gezahlte 150.000,00 € in Abzug zu bringen sind).
- Zahlung eines materiellen Schadensersatzes von 308.500,00 € an die Klägerin
(zusammengesetzt aus:
- Haushaltsführungsschaden von 01.10. 2008 bis 31.01.2019 = 162.500,00 €
- Verdienstausfall von 01.09.2009 bis 30.06.2016 sowie 
Verdienstausfall von 01.07.2016 bis 31.01.2019 = 146.000,00 €
- Zahlung einer monatlichen Rente von 3.300,00 € (Haushaltsführungsschaden 1.300,00 €, Verdienstausfallschaden 2.000,00) bis zum Eintritt ins Rentenalter, ab diesem Zeitpunkt Zahlung einer monatlichen Rente von 1.300,00 €.
- Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz künftiger materieller Schäden der Klägerin zu 1)
- Zahlung eines materiellen Schadensersatzes von 30.996,00 € (Verdienstausfallschaden) an den Kläger zu 2)
- Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz künftiger materieller Schäden des Klägers zu 2)
- vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 10.006,47 €.
16
Die Beklagte hat sowohl eine Falschbehandlung als auch die Kausalität der Verabreichung von Doxepin für den Herz-Kreislauf-Stillstand bestritten. Sie bestreitet, dass das EKG vom 08.08.2008, 07:06 Uhr, von der Klägerin stamme; jedenfalls habe es keine ärztliche Anordnung gegeben. Das EKG habe sich auch nicht in der Patientenakte befunden und sei vor dem Herz-Kreislauf-Stillstand am 09.08.2008 weder von Oberarzt Dr. L. noch von einem anderen Arzt befundet worden. Sie bestreitet ein Organisationsverschulden sowie den von beiden Klägern geltend gemachten materiellen Schaden.
17
Das Landgericht Kempten hat ein kardiologisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 12.05.2014 (Bl. 101/108 d. A.) mit Ergänzungsgutachten vom 19.12.2014 (Bl. 122/ 125 d. A.) eingeholt. Nach dem Tod von Prof. Dr. K. am 12.05.2015 hat es gemäß Beweisbeschluss vom 12.11.2015, ergänzt mit Beschluss vom 23.12.2015 ein weiteres kardiologisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. vom 29.04.2016 (Bl. 188/202 d. A.) mit Ergänzungsgutachten vom 30.11.2017 (Bl. 251/254 d. A.) eingeholt und den Sachverständigen Prof. Dr. S. in den mündlichen Verhandlungen vom 18.05.2017 und vom 14.06.2018 angehört. Es hat den Zeugen Oberarzt Dr. L. am 18.05.2017 sowie die Zeuginnen S. und G. am 24.01.2019 vernommen. Auf die Protokolle Bl. 222/228, 279/285 und 331/338 d. A. wird Bezug genommen.
18
Mit dem angegriffenen Urteil vom 28.02.2019 hat das Landgericht die Klage abgewiesen.
19
Eine Falschbehandlung der Klägerin durch ärztliches Personal der Beklagten sei nicht nachgewiesen.
20
Die Verabreichung von Clonidin sei nicht zu beanstanden.
21
Der Verbleib der Klägerin am 08.08.2008 auf der Intensivstation und die Absetzung von Doxepin wären zwar aufgrund des EKG vom 08.08.2008, 07.06 Uhr zwingend erforderlich gewesen. Ein Nachweis, dass das EKG dem Oberarzt Dr. L. vor dem 09.08.2008 vorgelegen habe, sei aber nicht geführt. Die Anordnung des EKG durch einen Arzt sei weder dokumentiert noch sei sie geboten gewesen. Es handele sich daher um einen Zufallsbefund, vor dem der Arzt zwar nicht die Augen verschließen dürfe, aber nur wenn er in seinen Kenntnisbereich gelange.
22
Die Reaktion auf das Auffinden der Klägerin am Morgen des 09.08.2008 und die Reanimation seien adäquat gewesen.
23
Die Beklagte habe auch ihre Organisationspflicht nicht verletzt. Es habe eine klare, von den Zeuginnen S. und G. bestätigte Übung gegeben, wonach unbefundete EKG-Ausdrucke obenauf in die Patientenakte oder in einen Plastikeinschub zu legen gewesen seien. Die Intensivstation sei auch nicht unterbesetzt gewesen.
24
Es liege lediglich eine Pflichtverletzung des nichtärztlichen Personals vor, das das EKG nicht rechtzeitig in die Patientenakte gegeben habe. Dabei handele es sich um keinen Organisationsfehler, sondern um einen nach §§ 278, 831 BGB zuzurechnenden Fehler eines Gehilfen.
25
Die Kausalität dieses Fehlers sei aber nicht nachgewiesen. Auch durch eine weitere intensivmedizinische Überwachung hätte das Auftreten eines Herz-Kreislauf-Stillstands nicht verhindert werden können. Es wäre zwar möglicherweise schneller erkannt worden; dies bedeute aber nicht mit Sicherheit, dass cerebrale Folgeschäden vermieden worden wären. Im Gegenteil habe ein Herz-Kreislauf-Stillstand auch auf der Intensivstation mit hoher Wahrscheinichkeit cerebrale Folgeschäden.
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Die Beweisunsicherheit hinsichtlich der Kausalität gehe zu Lasten der Klägerin. Zwar sei die Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern auf Fehler eines nichtärztlichen Gehilfen entsprechend anwendbar. Ein solcher grober Fehler liege aber nicht vor, da es sich um einen Fehler handele, der in der klinischen Praxis vorkomme. Als Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands stehe nur eine schicksalsbedingte genetische Kanalveränderung bei der Klägerin fest.
27
Die Klage des Klägers zu 2) habe schon deshalb keinen Erfolg, weil ein kausaler Behandlungsfehler nicht nachgewiesen sei. Er sei auch nicht in den Schutzbereich des Behandlungsvertrags einbezogen. Eigene Ansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB habe er nicht. § 845 BGB greife nicht ein.
28
Die Kläger haben gegen das Urteil form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der sie ihre ursprünglichen Anträge weiterverfolgen. Sie machen unter anderem geltend:
- Das Landgericht sei rechtsfehlerhaft zu der Einschätzung gelangt, die Einholung eines Ruhe-EKG am 08.08.2008 sei nach dem ärztlichen Standard nicht gefordert gewesen. Es sei insoweit der Einschätzung des Sachverständigen Prof. S. gefolgt, ohne die im MDK-Gutachten des Sachverständigen Dr. H. vom 21.07.2009 (Anlage K4) und im vom Haftpflichtversicherer der Beklagten erholten Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. vom 16.07.2010 (Anlage K5) genannten Gesichtspunkte abzuklären, die für die Erforderlichkeit eines EKG sprächen. Ungeklärt sei auch geblieben, ob vor der Verabreichung des Medikaments Doxepin am 08.08.2008 eine EKG-Kontrolle geboten gewesen wäre.
- Das Landgericht habe rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass die Sauerstoffsättigung der Klägerin nach ihrem Herz-Kreislauf-Stillstand am Morgen des 09.08.2008 bei ihrer Ankunft auf der Intensivstation bei nur noch 44% gelegen habe. Dies spreche dafür, dass eine beträchtliche Zeit vergangen sein müsse, bis das Pflegepersonal auf den Notruf der Zimmernachbarin reagierte.
- Das Landgericht habe den Umstand, dass das Ruhe-EKG vom 08.08.2008 vom zuständigen Arzt bei der Morgenvisite auf der Intensivstation nicht befundet und ausgewertet wurde, zu Unrecht lediglich als einfachen Fehler des nichtärztlichen Personals angesehen. Das Landgericht habe hierbei verkannt, dass es in der Sache keinen Unterschied machen könne, ob auf einen erhobenen hochpathologischen Befund aufgrund eines Versäumnisses des Arztes oder aufgrund eines Versäumnisses des nichtärztlichen Personals nicht in der gebotenen Weise reagiert werde. Dass derartige Versäumnisse im klinischen Alltag vorkämen, sei irrelevant für die Einstufung eines Versäumnisses als einfacher oder grober Fehler. Ausschlaggebend sei, ob der Behandlungsstandard in der konkreten Situation in grober und nicht zu rechtfertigender Weise verletzt worden sei. Das sei hier anzunehmen. In der Gesamtschau sei im vorliegenden Fall ein grobes Organisationsverschulden anzunehmen. Gehe man - wie die Klageseite - vom Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers aus, sei die erforderliche Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und dem schweren hypoxischen Hirnschaden der Klägerin zu bejahen. Aus Sicht der Klageseite sei es als hochwahrscheinlich anzusehen, dass die Klägerin die schwere Sauerstoffnot und die daraus resultierende Gehirnschädigung nicht erlitten hätte, wenn sie zum Zeitpunkt des Eintretens des Herz-Kreislauf-Stillstands auf der Intensivstation gewesen wäre.
- Die Auffassung des Landgerichts, der Kläger zu 2) sei für die von ihm geltend gemachten Schadensersatzansprüche nicht aktiv legitimiert, sei unzutreffend.
29
Die Kläger beantragen,
I. 
30
Das am 28.02.2019 verkündete Urteil des LG Kempten (Allgäu), Az.: 32 O 1228/12, wird aufgehoben.
II.
31
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu bezahlen, mindestens jedoch weitere 75.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 225.000,00 € seit dem 20.04.2010 bis zum 26.01.2011, aus 125.000,00 € seit dem 27.01.2011 bis zum 10.07.2011, aus 100.000,00 € seit dem 11.07.2011 bis zum 09.01.2012 sowie aus 75.000,00 € seit dem 10.01.2012.
III.
32
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin materiellen Schadensersatz iHv 308.500,00 € zu bezahlen nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 30.400,00 € seit dem 20.04.2010, aus 62.100,00 € seit Klageerhebung, aus 136.850,00 € seit 16.05.2017 sowie aus 79.150,00 € seit 01.02.2019.
IV.
33
Die Beklagte wird dazu verurteilt, der Klägerin ab 01.02.2019 jeweils vierteljährlich im Voraus bis zum Eintritt in das gesetzliche Renteneintrittsalter eine monatliche Rente iHv 3.300,00 € (1.300,00 € Haushaltsführungsschaden sowie 2.000,00 € Verdienstausfallschaden) zu bezahlen sowie ab dem Eintritt in das gesetzliche Renteneintrittsalter eine solche iHv 1.300,00 € nur noch Haushaltsführungsschaden), und zwar jeweils bis spätestens zum 3. Werktag eines Quartals.
V. 
34
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeglichen weiteren, ihr aus der streitgegenständlichen ärztlichen Falschbehandlung im August 2008 zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit ein solcher nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeht / übergegangen ist.
VI.
35
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger materiellen Schadensersatz iHv 30.996,00 € nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 16.996,00 € seit dem 20.04.2010 bis zum 09.01.2012 sowie aus 0.746,00 € seit 10.01.2012, aus 10.996,00 € seit Klageerhebung, aus 14.875,00 € seit 16.05.2017 sowie aus 5.125,00 € seit 01.02.2019 zu bezahlen.
VII.
36
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeglichen weiteren, ihm aus der streitgegenständlichen ärztlichen Falschbehandlung der Klägerin im August 2008 zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit ein solcher nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeht / übergegangen ist.
VIII.
37
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger als Nebenforderung 10.006,47 € (vorgerichtlich entstandene anwaltliche Vergütung) nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.04.2010 zu bezahlen.
38
Die Beklagte beantragt,
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichtes Kempten (Allgäu), Az.: 32 O 1228/12, vom 28.02.2019, wird zurückgewiesen.
39
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
40
Das EKG vom 08.08.2008 sei weder ärztlich angeordnet noch von einer der Krankenschwestern auf der Intensivstation geschrieben worden. Dies ergebe sich aus der Vernehmung der Zeuginnen S. und G. Sie weist auf ihren Vortrag im Schriftsatz vom 09.10.2018 (Bl. 294/ 303 d. A.) hin, wonach am 08.08.2008 von 08.00 bis 16.00 Uhr ein Praktikant namens M. P. auf der Intensivstation beschäftigt worden sei; falls er das EKG, das möglicherweise infolge einer verstellten Uhr auf 07.06 Uhr datiert sei, geschrieben habe, sei die Beklagte für die unterbliebene Weitergabe an das ärztliche Personal, insbesondere den Oberarzt Dr. L., nicht verantwortlich.
41
Der Senat hat mit den Parteien am 16.07.2020 verhandelt und den Sachverständigen Prof. Dr. S. und den Kläger zu 2) nochmals angehört (Prot. Bl. 423/431 d. A.).
42
Ergänzend wird auf das angefochtene Urteil, die oben zitierten Sachverständigengutachten, die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen in beiden Instanzen Bezug genommen.
II.
43
Die Berufung beider Kläger ist zulässig. Während die Berufung des Klägers zu 2) unbegründet ist, ist die Berufung der Klägerin hinsichtlich der Berufungsanträge II. und V. (Schmerzensgeld und Feststellung) begründet. Hinsichtlich der Berufungsanträge III., IV. und X. ist die Klage der Klägerin zu 1) dem Grunde nach gerechtfertigt.
A.
44
Berufung der Klägerin zu 1)
45
Die Klage ist zulässig und hinsichtlich des Schmerzensgeldantrags und der Feststellung begründet sowie hinsichtlich der übrigen Anträge dem Grunde nach begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte aus einer positiven Vertragsverletzung des Behandlungsvertrags sowie aus § 823 Abs. 1 BGB.
46
1. Die Behandlung der Klägerin auf der Intensivstation des Krankenhauses O. ist von der Aufnahme am Nachmittag des 07.08.2008 bis zu der Verlegung auf die Normalstation am 08.08.2008 ordnungsgemäß erfolgt. Sowohl die Verabreichung von Clonidin mittels eines Perfusors als auch die Verordnung von Aponal mit dem Wirkstoff Doxepin waren am 07.08.2008 indiziert. Das Schreiben eines EKG ist zwar nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. vor der Verordnung von Doxepin erforderlich, gerade weil dies eine bekannte - wenn auch sehr seltene - Nebenwirkung mit der Verlängerung der QT-Zeit aufweist. Das EKG vom 07.08.2008, 17.36 Uhr, lag aber mit einer (nach Bazett) korrigierten QT-Zeit von 0,39 Sekunden (390 ms) unter dem oberen Normwert für Frauen von 0,46 Sekunden (460 ms) (vgl. Gutachten Prof. Dr. S., Anlage K5, S. 6). Auf die Frage, ob man den Wert als „grenzwertig normal“ (Gutachten Prof. Dr. S., S. 7) oder als „deutlich im Normbereich“ (Sachverständiger Prof. Dr. S., Prot. vom 16.07.2020, S. 4 = Bl. 426 d. A.) bewertet, kommt es nicht an, da nach beiden Auffassung die Verordnung zulässig war. Im Übrigen konnte anhand der Behandlungsunterlagen nicht festgestellt werden, ob Doxepin bereits am 07.08.2008 verabreicht wurde, weil die entsprechende Verordnung in den Behandlungsunterlagen nicht abgehakt ist.
47
2. Erforderlich, aber auch ausreichend war es, dass am 08.08.2008 gegen 02.00 Uhr der Clonidin-Perfusor abgestellt wurde, nachdem eine Herzfrequenz von 57 Schlägen pro Minute erreicht war. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man dies als Sinusbradykardie bezeichnet (Gutachten Prof. Dr. St., Anlage K5, S. 4/5; Gutachten Prof. Dr. S. vom 04.01.2016, S. 5 = Bl. 192 d. A.) oder ob man - wie der Sachverständige Prof. Dr. S. in seiner Anhörung durch den Senat - diese Herzfrequenz und sogar die nach dem Abstellen des Perfusors kurzzeitig erreichte Herzfrequenz von 44 Schlägen pro Minute als für einen gesunden Patienten nicht unnormalen Wert ansieht (Prot. vom 16.07.2020, S. 3 = Bl. 425 d. A.). Bis zum Morgen hatte sich der Pulsschlag auf 72 Schläge pro Minute normalisiert.
48
3. Am Morgen des 08.08.2008 war daher die Erhebung eines weiteren Ruhe-EKG nicht indiziert. Zwar existiert nach Ansicht des von der Haftpflichtversicherung der Beklagten beauftragten Gutachters Prof. Dr. St. (Anlage K5, S. 8) keine einheitliche Meinung, ob die Durchführung einer erneuten elektrokardiographischen Untersuchung notwendig war. Der später verstorbene Sachverständige Prof. Dr. K. hielt in seinem ersten Gutachten vom 12.05.2014 (S. 7 = Bl. 107 d. A.) ein erneutes EKG für geboten, um eine andere Ursache als die Clonidin-Infusion für die in der Nacht um 02:00 Uhr aufgetretene Bradykardie auszuschließen. Er ist allerdings selbst in seinem Ergänzungsgutachten vom 19.12.2014 (S. 2/3 = Bl. 123/124 d. A.) davon abgegangen, weil sich aus der ihm zwischenzeitlich vorgelegten Dokumentation eine kontinuierliche Herzfrequenzverlangsamung ergibt. Insoweit stehen seine Ausführungen im Einklang mit denen des Sachverständigen Prof. Dr. S. (Gutachten vom 04.01.2016, S. 9 = Bl. 196 d. A.; Prot. vom 16.07.2020, S. 3 = Bl. 425 d. A.), dessen überzeugenden Ausführungen der Senat folgt.
49
Ein EKG war am 08.08.2008 auch nicht wegen der Verordnung von Doxepin erforderlich, da ein aktuelles EKG vom Nachmittag des Vortags vorlag. Auf die eingehenden Nachfragen des Senats hat der Sachverständige Prof. Dr. S. überzeugend dargelegt, dass weder die zwischenzeitliche Absenkung des Blutdrucks noch der Rückgang der Herzfrequenz von 105 Schlägen pro Minute am Vortag auf 72 am Morgen des 08.08.2008 Anlass für ein erneutes EKG gewesen wären.
50
4. Das ohne ärztliche Anordnung geschriebene EKG vom 08.08.2008, 07:06 Uhr, weist jedoch eine auffällige Verlängerung des (korrigierten) QT-Intervalls auf 0,62 s (620 ms) auf. Damit liegt sie weit über dem Grenzwert von 0,46 s und noch deutlicher über dem am Vortag gemessenen QT-Wert von 0,39 s.
51
a) Nach übereinstimmender Ansicht aller mit dem Fall befassten Sachverständigen (z. B. Gutachten Prof. Dr. S. vom 29.04.2016, S. 11 = Bl. 198 d. A.; MDK-Gutachten Anlage K4, S. 9; Gutachten Prof. Dr. St. Anlage K5, S. 9/10, Gutachten Prof. Dr. K. vom 12.05.2014, S. 7 = Bl. 107 d. A.) durfte bei objektiver Betrachtung bei diesem QT-Wert die Klägerin nicht von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt werden. Eine Verlängerung des QT-Intervalls über den Grenzwert beinhaltet das Risiko, dass sehr schnelle Kammertachykardien (Torsade-de-Pointes-Tachykardien) entstehen, die zu Schwindelattacken, Synkopen mit kurzzeitigem Bewusstseinsverlust und im schlimmsten Fall zu Kammerflimmern mit Herzkreislaufstillstand führen können, wie das bei der Klägerin geschehen ist. In dieser Situation ist die auf der Intensivstation mögliche permanente Überwachung durch Monitore geboten, da so bessere Chancen für eine möglicherweise erforderlich werdende Reanimation und Defibrillation bestehen.
52
b) Zudem war Aponal (Doxepin) ebenfalls nach übereinstimmender Auffassung der Sachverständigen bei einem korrigierten QT-Intervall von 0,62 s absolut kontraindiziert, anders als nach dem EKG vom 07.08.2008, 17:36 Uhr, mit dem QT-Wert von 0,39 s (Gutachten Prof. Dr. S. vom 04.01.2016, S. 11 = Bl. 198 d. A., MDK-Gutachten Anlage K 4 S. 9, Gutachten Prof. Dr. St. Anlage K5, S. 11). Dies gilt auch für die gewählte niedrige Dosierung (25 mg) und zwar schon wegen der Verlängerung des QT-Wertes von 0,39 s auf 0,62 s innerhalb von 14 Stunden; bei einer derartigen QT-Verlängerung ist zwingend nach den Ursachen dieses hohen Wertes zu forschen (vgl. Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. S., Prot. vom 16.07.2020, S. 4 = Bl. 426 d. A.). In der Literatur ist keine Dosis (von Doxepin) beschrieben, bei deren Unterschreitung keine QTverlängernde Wirkung zu erwarten wäre. Daher ist die Verabreichung von Doxepin 25mg am Abend des 08.08.2008 als Verstoß gegen den medizinischen Standard zu werten (Gutachten Prof. Dr. St., Anlage K 5, S. 11).
53
c) Diese Einschätzung ist zwischen den Parteien nicht streitig. Oberarzt Dr. L. hat in seiner Zeugenvernehmung bekundet, dass er das EKG vom 08.08.2008, 07:06 Uhr erst nach der Verlegung der Klägerin (nach ihrer Reanimation) nach Immenstadt in die Hände bekommen habe: „Hätte ich dieses EKG bei der Visite am 08.08. bereits gesehen, hätte ich anders gehandelt.“ (Prot. vom 18.05.2017, S. 3 = Bl. 224 d. A.)
54
5. Das Landgericht hat einen dem beklagten Krankenhausträger nach § 278 BGB zuzurechnenden ärztlichen Behandlungsfehler des Oberarztes Dr. L. wegen seiner Unkenntnis von dem EKG zu Recht verneint. Dem Oberarzt kann auf der Basis der ihm vorliegenden Informationen (EKG vom 07.08.2008, Absenkung von Blutdruck und Puls unter der Medikation mit Clonidin, Stabilisierung nach der Pausierung von Clonidin) und aufgrund des klinischen Eindrucks von der Klägerin bei der Morgenvisite am 08.08.2008 weder die Entscheidung zur Verlegung auf die Normalstation noch die Verordnung von Doxepin 25 mg vorgeworfen werden. Auch die Anordnung eines neuen EKG war nicht geboten.
55
6. Der Senat teilt auch die Auffassung des Landgerichts, dass ein Organisationsfehler der Beklagten nicht nachgewiesen ist.
56
a) Zwar muss der Organisationsverantwortliche Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung so organisieren, dass „jede vermeidbare Gefährdung der Patienten ausgeschlossen ist“. Dazu gehört, dass Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Krankenhaus durch Einsatzpläne und Vertreterregelungen deutlich abgegrenzt sind (Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Auflage 2015, X. Arztfehler und Haftpflicht Rn. 45). Daher ist auch eine Regelung erforderlich, die sicherstellt, dass vom nichtärztlichen Personal erhobene Befunde auch dem verantwortlichen Arzt zur Befundung vorgelegt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Befunderhebung medizinisch geboten war oder nicht. Den Arzt verpflichten nämlich auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht geboten waren, aber trotzdem - beispielsweise aus besonderer Vorsicht - veranlasst wurden (BGH, Urt. v. 21. 12. 2010 − VI ZR 284/09 - BGHZ 188, 29 = NJW 2011, 1672). Folglich muss die Krankenhausorganisation dafür Sorge tragen, dass sichergestellt ist, dass auch ein ohne zwingende medizinische Indikation vom Krankenhauspersonal geschriebenes EKG von einem fachkundigen Arzt befundet wird.
57
b) Das Landgericht hat aufgrund der Aussagen des Zeugen Dr. L. und der Zeuginnen S. und G. festgestellt, dass eine derartige, wenn auch nur mündliche, Regelung bestanden hat. Das nichtärztliche Personal war angewiesen, ein geschriebenes EKG obenauf zur Patientenakte zu geben und diese dem Arzt vorzulegen (vgl. Zeuge Dr. L., Prot. vom 18.05.2017, S. 3 = Bl. 224 d. A.). Zusätzlich war die Anfertigung eines EKGs im Pflegebericht zu dokumentieren (Zeugin S., Prot. vom 24.01.2019, S. 3 = Bl. 333 d. A.; Zeugin G., Prot. vom 24.01.2019, S. 5 = Bl. 335 d. A.). Solche Regelungen sind üblich, wie der Sachverständige Prof. Dr. S. bekundet hat, der selbst eine kardiologisch-internistische Intensivstation eines Krankenhauses leitet. Da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es bereits vor dem streitgegenständlichen Vorkommnis zu Verstößen gegen diese mündliche Weisung gekommen wäre, kann ein Organisationsverschulden der Beklagten nicht nachgewiesen werden.
58
7. Es liegt jedoch - wie das Landgericht ebenfalls festgestellt hat - ein Verstoß des nichtärztlichen Personals gegen diese mündlich erteilte Weisung vor.
59
a) Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass es sich bei dem EKG vom 08.08.2008, 07:06 Uhr, um ein EKG der Klägerin handelt, das vom nichtärztlichen Personal der Intensivstation des Krankenhauses O. ohne ärztliche Anordnung geschrieben wurde.
60
(1) Das im Original bei den von der Beklagten vorgelegten Behandlungsunterlagen befindliche EKG ist - ebenso wie die unstreitig von der Klägerin stammenden EKGs vom 07.08.2008, 17:36 Uhr, und vom 09.08.2008, 07:39 Uhr, mit einem Namensaufkleber der Klägerin versehen und ihr damit zugeordnet worden. Alle drei EKGs wurden mit demselben Gerät geschrieben, das sich auf der Intensivstation des Krankenhauses O. befand. Eine Verwechslung erscheint auch deshalb ausgeschlossen, da sich am 08.08.2008 auf der Intensivstation neben der Klägerin nur ein weiterer Patient befand, ein männlicher Jugendlicher, der wegen einer allergischen Reaktion nach einem Bienenstich behandelt wurde. Die Werte vom 08.08.2008, 07:06 Uhr erklären - gerade im Zusammenhang mit der Verabreichung von Doxepin am Abend des 08.08.2008 - den Herz-Kreislauf-Stillstand vom 09.08.2008.
61
(2) Das Landgericht hat es zu Recht als ausgeschlossen angesehen, dass das EKG durch eine klinikfremde Person geschrieben wurde. Auf einer - zumal einer so kleinen - Intensivstation würde es auffallen, wenn eine nicht dem Personal zugehörige Person in der Intensivstation mit dem dort vorhandenen Gerät ein EKG schreibt. Im Übrigen wäre dann nicht zu erklären, wie das EKG am 09.08.2008 in die Patientenakte gelangt ist.
62
(3) Die von der Beklagten in der Berufungsverhandlung erneut vorgetragene Möglichkeit, ein Praktikant könne das EKG geschrieben haben, kann ausgeschlossen werden; im Übrigen würde sie die Beklagte nicht entlasten.
63
(a) Nach dem Vortrag im Schriftsatz vom 09.10.2018, S. 3/4 (= Bl. 296/297 d. A.) soll der Praktikant am 08.08.2008 von 08:00 bis 16:00 Uhr anwesend gewesen sein. Das EKG wurde dagegen nach der Aufzeichnung bereits um 07:06 Uhr geschrieben. Zwar mag es - wie der Sachverständige Prof. Dr. S. bestätigt hat - vorkommen, dass die Uhr eines EKG-Geräts falsch eingestellt ist und entsprechend eine falsche Uhrzeit aufgedruckt wird. Es handelt sich hier aber um dasselbe Gerät, mit dem am 07.08.2008, 17:36 Uhr, und am 09.08.2008, 07:39 Uhr, ein EKG geschrieben wurde; diese Uhrzeiten passen jeweils genau in den von den Parteien vorgetragenen Behandlungsablauf. Dass die Uhrzeit nur am 08.08.2008 verstellt gewesen sein könnte, kann ausgeschlossen werden.
64
(b) Im Übrigen müsste ein Praktikant, der sich in einer Ausbildung zum Beruf des Rettungssanitäters befindet, während des Aufenthalts auf der Intensivstation vom dortigen (ärztlichen oder nichtärztlichen) Personal angeleitet werden. Würde der Praktikant die oben genannte Weisung missachten, wäre das wegen der mangelnden Beaufsichtigung zugleich ein der Beklagten zuzurechnender Fehler.
65
(4) Damit steht trotz der entgegenstehenden Beteuerungen der beiden Zeuginnen, die allerdings an die konkrete Behandlung der Klägerin bei ihrer Aussage am 24.01.2019 - über zehn Jahre nach dem streitgegenständlichen Geschehen - keine Erinnerung mehr hatten, fest, dass das EKG vom 08.08.2008 vom nichtärztlichen Personal ohne ärztliche Anordnung geschrieben wurde.
66
b) Damit hat die Krankenschwester aber gegen die mündlich erteilte Weisung verstoßen, das noch nicht befundete EKG vorne in die Patientenakte zu legen. Ebenfalls weisungswidrig hat sie die Anfertigung des EKGs nicht in der Patientenakte (auf der Pflegedokumentation) vermerkt, so dass für den Oberarzt Dr. L. nicht erkennbar war, dass ein aktuelles EKG vorlag. Das fahrlässige Handeln der Krankenschwester ist der Beklagten nach § 278 BGB bzw. § 831 BGB zuzurechnen; ein Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB ist nicht geführt.
67
8. Entgegen der Ansicht des Landgerichts war der Verstoß für den Herz-Kreislauf-Stillstand der Klägerin am 09.08.2008 kausal.
68
a) Wenn das EKG - entsprechend der Weisung - bei der Visite am 08.08.2008 von 08:45 bis 09:15 Uhr in der Krankenakte obenauf gelegen hätte oder wenigstens sich ein Hinweis auf das EKG aus der Patientenakte ergeben hätte, hätte der Oberarzt Dr. L. die mit dem bloßen Auge erkennbare Verlängerung des QT-Intervalls auf 0,62 s und damit deutlich über den Grenzwert von 0,39 s bemerkt. Er hätte dann - wie er selbst als Zeuge bekundet hat - anders gehandelt, nämlich die Klägerin auf der Intensivstation belassen und die Verordnung von Doxepin 25 mg aufgehoben, das bei einer vorliegenden QT-Intervall-Verlängerung über den Grenzwert absolut kontraindiziert war.
69
b) Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstands war ein Long-QT-Syndrom, für das das verabreichte Doxepin jedenfalls mitursächlich war.
70
(1) Bereits aus dem Entlassungsbericht der Inneren Abteilung des Krankenhauses Immenstadt der Beklagten und dem Verlegungsbericht der Inneren Abteilung des Krankenhauses K., die beide im Abschlussbericht des Therapiezentrums B. vom 15.01.2009 (Anlage K3) ausgewertet sind, wurde eine Myokardischämie bei medikamenteninduziertem Long-QT-Syndrom angenommen.
71
(2) Das MDK-Gutachten vom 21.07.2009 (Anlage K4, S. 6) und das Gutachten von Prof. Dr. St. vom 16.07.2010 (Anlage K5, S. 12) gehen von einer Ursächlichkeit bzw. Mit-Ursächlichkeit des Medikamentes Doxepin für die Verlängerung des QT-Intervalls aus, „wodurch sehr wahrscheinlich eine Torsade de pointes-Tachykardie induziert“ wurde, „welche in Kammerflimmern degenerierte und damit zum Herzkreislaufstillstand der Patientin führte“.
72
(3) Der Sachverständige Prof. Dr. S. hielt es in seinem Gutachten vom 04.01.2016 (S. 14 = Bl. 201 d. A.) zwar für „abschließend nicht beurteilbar“, „ob ein idiopathisch oder medikamenteninduziertes Long-QT-Syndrom letztlich zu einer Reanimationssituation geführt hat“. In seiner ersten Anhörung durch das Landgericht führte er aus, „das Geschehen vom 09.08. und der weitere Gesundheitszustand der Klägerin beruht auf dem Long-QT-Syndrom“, verneinte aber, dass der Zustand auf der Behandlung in der Klinik der Beklagten beruhe (Prot. vom 18.05.2017, S. 5 = Bl. 226 d. A.). In der Anhörung durch den Senat führte der Sachverständige weiter aus, dass das „bei der Klägerin aufgetretene Long-QT-Syndrom auch auf einem angeborenen Faktor beruhte.“ Er gehe davon aus, dass allein das niedrig dosierte Medikament Aponal (Wirkstoff Doxepin) das Herzkammerflimmern nicht ausgelöst hätte. „Es haben mehrere Faktoren zusammen gespielt. Ich gehe aber davon aus, dass das Aponal im Zusammenspiel mit den anderen Faktoren das Herzkammerflimmern ausgelöst hat. Es ist nicht so, dass man sagen könnte, es sei ganz unwahrscheinlich, dass das Aponal eine Rolle für die gesundheitliche Entwicklung gespielt hat. Es hat ganz sicher eine Rolle gespielt.“ (Prot. vom 16.07.2020, S. 5 = Bl. 427 d. A.).
73
(4) Die Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. S. in seiner Anhörung durch das Landgericht und derjenigen durch den Senat scheinen zwar auf den ersten Blick widersprüchlich. Sie erklären sich aber dadurch, dass der Sachverständige sich in seiner ersten Anhörung darum bemühte anzugeben, welche der beiden in Betracht kommenden Ursachen (angeboren oder medikamenten-induziert) die vorrangige Ursache war. Er wurde vom Beklagtenvertreter, auf dessen Frage die oben (3) zitierte Äußerung erfolgte, - wie sich aus der Antwort ergibt - nach einer Bewertung gefragt (ob der Zustand der Klägerin auf der Behandlung in der Klinik beruht), die den medizinischen Sachverständigen möglicherweise überforderte. In seiner Anhörung durch den Senat stellte er dagegen darauf ab, welcher Umstand nachweisbar eine Mit-Ursache für das Long-QT-Syndrom und damit den Herz-Kreislauf-Stillstand darstellte, was der Sachverständige sowohl für einen angeborenen Faktor als auch „sicher“ für die Medikation mit Aponal (Doxepin) bejahte.
74
Dies entspricht auch der zunächst in der Klinik I. der Beklagten gegebenen Einschätzung, ebenso wie der im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. St.. Der Senat ist daher davon überzeugt, dass neben einem angeborenen Faktor auch die am Abend des 08.08.2008 gegebene Medikation mit Aponal (Doxepin) sicher zu dem Long-QT-Syndrom und damit sicher zum Herz-Kreislauf-Stillstand beigetragen hat.
75
(5) Damit haftet die Beklagte für die Folgen des Herz-Kreislauf-Stillstands bereits unter dem Gesichtspunkt der Verordnung von Aponal (Doxepin). Schon eine bloße Mitverursachung reicht aus, um einen Ursachenzusammenhang zu bejahen (BGH, Urteil vom 19. 04. 2005 - VI ZR 175/04 -, VersR 2005, 945, Urteil vom 05. 04. 2005 - VI ZR 216/03 -, Rn. 14, VersR 2005, 942; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl. 2018, Rn. K32; Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 3. Auflage 2018, BGB § 280 Rn. 29 Rn. 29).
76
(6) Dass der Herz-Kreislauf-Stillstand Ursache der hypoxischen Hirnschädigung der Klägerin war und damit für ihren heutigen Zustand verantwortlich ist, steht außer Zweifel und ist zwischen den Parteien nicht im Streit.
77
c) Die unterlassene Einlage des EKGs vom 08.08.2008 in die Patientenakte und der unterlassene Vermerk waren aber auch insoweit kausal, als bei pflichtgemäßem Verhalten der Pflegekraft die Verlegung der Klägerin auf die Normalstation unterblieben und sie weiter auf der Intensivstation mit permanenter Überwachung verblieben wäre. In diesem Fall hätte zwar auch das Long-QT-Syndrom auftreten und zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand führen können. Es kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass der hypoxische Hirnschaden, den die Klägerin dabei erlitten hat, ausgeblieben oder nur in wesentlich geringerer Ausprägung aufgetreten wäre. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass eine Wiederbelebung der Klägerin auf der Intensivstation in einem kürzerem Zeitraum möglich gewesen wäre, bei dem keine schwereren hypoxischen Schäden aufgetreten wären, wie der Sachverständige Prof. Dr. S. in seiner Anhörung durch den Senat ausgeführt hat (Prot. vom 16.070.2020, S. 5 = Bl. 527 d. A.).
78
Im Gegensatz zur Ansicht des Landgerichts kommt der Klägerin hinsichtlich der Kausalität die inzwischen in § 630 h Abs. 5 BGB kodifizierte Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers in zweifacher Hinsicht zugute.
79
(1) Das Landgericht hat aufgrund der Erläuterung des Sachverständigen Prof. Dr. S. den Fehler nicht als groben Behandlungsfehler angesehen, weil ein solcher Fehler in der klinischen Praxis vorkomme (Urteil S. 15).
80
(a) Der Sachverständige hat vor dem Senat wiederholt, dass es auch in seiner Klinik bereits vorgekommen sei, dass EKG-Ausdrucke nicht zutreffend zugeleitet, mit falschen Patientennamen versehen oder trotz des richtigen Patientennamens in der falschen Patientenakte abgelegt worden seien. Derartige Vorkommnisse seien im Praxisalltag nicht selten. Nach seiner medizinischen Einschätzung handele es sich nicht um grobe, sondern einfache Fehler, weil sie nicht selten vorkämen und meistens keine schlimmen Folgen hätten, auch wenn die Fehlleitung im Einzelfall ganz gravierende Folgen haben könne, was aber zum Glück nur ganz selten vorkomme (Prot. vom 16.07.2020, S. 6 = Bl. 428 d. A.).
81
(b) Bei der Einstufung eines ärztlichen - oder hier pflegerischen - Fehlverhaltens als grob handelt es sich aber um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Dabei muss diese wertende Entscheidung des Tatrichters jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können (BGH, Urteil vom 26. 06. 2018 - VI ZR 285/17 -, Rn. 18, juris).
82
Dabei ist der vom Sachverständigen und ihm folgend vom Landgericht in den Vordergrund gestellte Umstand, dass solche Fehler vorkommen können, nicht maßgeblich. Dass Fehler vorkommen (können), sagt nichts darüber aus, ob sie objektiv nicht mehr verständlich sind (BGH, a. a. O., Rn. 22). Auch der vom Sachverständigen genannte Umstand, dass solche Fehler „meistens keine schlimme Folgen haben“, ist für die Bewertung nicht ausschlaggebend, weil es nicht nur denkbar, dass ein solcher Fehler schlimme, lebensbedrohliche Konsequenzen hat, sondern dies im vorliegenden Fall auch geschehen ist.
83
(c) Nach Auffassung des Senats ist maßgeblich, dass die namentlich nicht feststehende Pflegekraft - es kommen die Zeugin S. oder die Zeugin G. in Betracht - in zweifacher Hinsicht gegen die mündlich erteilte Weisung zum Umfang mit EKGs verstoßen hat.
84
Der Fehler ereignete sich auf einer kleinen Intensivstation mit nur vier Betten, auf der - wie die Beklagte auf Anfrage des Landgerichts (Aufklärungsbeschluss vom 14.06.2018, Bl. 286/288 d. A.) mit Schriftsatz vom 09.10.2018 (Bl. 294/303 d. A.) mitgeteilt hat - zwei Pflegekräfte Dienst hatten, die sich am fraglichen Tag um zwei Patienten kümmerten, die beide stabil waren. Der Oberarzt Dr. L. hat dazu (im zitierten Schriftsatz vom 09.10.2018, S. 4) ausgeführt, dass die Klägerin „im Vergleich zum klinischen Aufnahmebefund am Vortag nachmittags überraschend gut therapiert, dreifach orientiert und adäquat kommunikativ“ war, während der zweite Patient (männlich, 13 Jahre), der wegen eines Bienenstichs bei bekannter allergischer Reaktion am Vortag eingeliefert worden war, „die ganze Nacht über stabil und ohne Beschwerden“ war und am nächsten Tag, dem 09.08.2008, nach Hause entlassen werden konnte. Angesichts dieser Umstände - zwei Patienten auf der Intensivstation, die beide stabil waren und zwei Intensivpflegekräfte - erscheint es dem Senat unverständlich, dass das EKG entgegen der bestehenden Weisung weder rechtzeitig zu der ca. 1 1/2 Stunden nach dem Schreiben des EKGs anstehende Morgenvisite des Oberarztes Dr. L. oben in die Patientenakte gelegt noch die Fertigung des EKGs in der Akte, etwa auf der Pflegekurve vermerkt, wurde. Damit wurde dem Oberarzt die Chance genommen, vor der Entscheidung über den Verbleib der Patientin auf der Intensivstation das erhobene aktuelle EKG ärztlich zu befunden und die sich daraus nach übereinstimmender Ansicht aller Sachverständiger und des Oberarztes ergebenden therapeutischen Konsequenzen zu treffen. Es liegt ein eindeutiger, fundamentaler Verstoß gegen die interne Regelung der Klinik vor, die zum Schutz der Patienten eine zeitnahe ärztliche Befundung erhobener Befunde gewährleisten soll, der einer Pflegekraft schlechterdings nicht unterlaufen darf.
85
d) Obwohl es nach den Ausführungen zu b) und c) nicht mehr entscheidend darauf ankommt, sind im vorliegenden Fall auch die für den Fall des Verstoßes gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger entwickelten Grundsätze (BGH, Urteil vom 13. 02. 1996 - VI ZR 402/94 -, BGHZ 132, 47; Urteil vom 06. 10. 1998 - VI ZR 239/97 -, juris; Urteil vom 03. 11. 1998 - VI ZR 253/97 -, juris), die inzwischen in § 630 h Abs. 5 S. 2 BGB kodifiziert sind, entsprechend heranzuziehen.
86
(1) Wie das Landgericht richtig hervorhebt, sind Grund (Motiv) für die Beweislastumkehr die durch den groben Fehler verursachten Aufklärungserschwernisse hinsichtlich der für den Misserfolg in Betracht kommenden Ursachen. Dem Patienten müsse ein Ausgleich gewährt werden, weil der Arzt durch seinen elementaren Fehler das Spektrum der für den Misserfolg in Betracht kommenden Ursachen in besonderem Maß verbreitert oder verschoben habe (BGH, Urteil vom 13. 02. 1996 - VI ZR 402/94 -, Rn. 13, juris; Urteil vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80 -, BGHZ 85, 212-221, Rn. 20). Dieser sei „näher daran“, das Beweisrisiko zu tragen, und könne nach Treu und Glauben dem Patienten den Kausalitätsnachweis nicht zumuten (Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, BGB § 630h Rn. 21, m. w. N.).
87
(2) Jedenfalls war - auch bereits nach Ansicht des Landgerichts - die unterbliebene Vorlage des EKGs in die Patientenakte zur Morgenvisite behandlungsfehlerhaft. Zwar war die Erhebung eines EKG-Befunds am Morgen des 08.08.2008 medizinisch nicht geboten. Geboten war jedoch die Befundung des gleichwohl vom nichtärztlichen Personals geschriebenen EKGs (vgl. oben). Die Klägerin befindet sich zwar nicht in einer Beweisnot hinsichtlich des Ergebnisses einer pflichtwidrig unterlassenen oder nicht aufbewahrten Untersuchung, da das geschriebene EKG vorliegt. Ebenso wie bei einer pflichtwidrig unterlassenen Befunderhebung befindet sich die Klägerin - jedenfalls unter dem Aspekt der Verlegung auf die Normalstation - in Beweisnot hinsichtlich der Kausalität der unterlassenen zeitnahen Befundung des EKGs zu dem bei ihr eingetretenen Herz-Kreislauf-Stillstand, da nicht feststeht, ob eine erforderliche Reanimation auf der Intensivstation dazu geführt hätte, dass die Klägerin nicht oder in einem viel geringeren Umfang geschädigt wird.
88
(3) Die Befundung des EKGs durch den Oberarzt Dr. L. hätte - wie er selbst als Zeuge bekundet hat - ohne Zweifel zum Verbleib der Klägerin auf der Intensivstation geführt. Sie in Kenntnis der Verlängerung des QT-Intervalls auf die Normalstation zu verlegen, wäre schlechterdings unverständlich gewesen, wie sich aus den einhelligen Äußerungen aller Sachverständiger ergibt.
89
Damit muss nach Auffassung des Senats die Ungewissheit darüber, ob die Reanimation nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand bei einem Verbleib auf der Intensivstation mit der dortigen Überwachung durch Monitore dazu geführt hätte, dass der hypoxischer Hirnschaden vermieden oder nur mit geringerer Ausprägung eingetreten wäre, zu Gunsten der Klägerin gewertet werden. Nicht völlig unwahrscheinlich ist, dass der Herz-Kreislauf-Stillstand früher - nicht erst durch Betätigung des Alarmknopfes durch die Bettnachbarin - bemerkt worden und schneller mit der Reanimation begonnen worden wäre und dass diese aufgrund der auf der Intensivstation vorgehaltenen besseren Ausstattung zu einem besseren Ergebnis geführt hätte (vgl. Sachverständiger Prof. Dr. S., Prot. vom 16.07.2020, S. 5 = Bl. 427 d. A.).
90
(4) Damit ist auch auf diesem Weg die Kausalität des Behandlungsfehlers für den Herz-Kreislauf-Stillstand und die daraus resultierende hypoxische Hirnschädigung bewiesen.
91
9. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von 75.000,00 €.
92
a) Die Klägerin erlitt infolge des Herz-Kreislauf-Stillstands eine hypoxische Hirnschädigung, die zu einer schwersten Beeinträchtigung in allen Lebensbereichen führt. Anfangs war freies Sitzen, Stehen und Gehen nicht möglich (Abschlussbericht des Therapiezentrums Burgau vom 15.01.2009, Anlage K3). Im Jahr 2011 war sie dagegen im Haus mobil und konnte Treppen steigen und Nahrung, die mundgerecht hergerichtet wird, zum Mund führen. Sie kann jedoch nicht selbständig zwischen Nahrung und anderen Gegenständen unterscheiden, so dass sie auch andere Gegenstände in den Mund steckt. Sie läuft ziellos im Haus umher, sobald irgendwo eine Tür offen steht (Brief des Hausarztes Dr. L. vom 24.02.2011, Anlage K7). Daher muss sie ständig beaufsichtigt und betreut werden. Der Neurologe Dr. H. bestätigte bereits mit Arztbrief vom 29.11.2011 ein schwerstes hirnorganisches Psychosyndrom mit ganz erheblicher Beeinträchtigung aller höheren kognitiven Funktionen. Eine Funktionsverbesserung hielt er bereits damals für unwahrscheinlich (Anlage K8).
93
Die Anhörungen des Klägers zu 2) vom 18.05.2017 durch das Landgericht (Prot. S. 2 = Bl. 223 d. A.) und den Senat vom 16.07.2020 (Prot. S. 8 = Bl. 430 d. A.) bestätigen, dass seither keine Besserung eingetreten ist. Die Klägerin ist harn- und stuhlinkontinent und muss gewickelt werden. Sie ist orientierungslos und würde ohne Beaufsichtigung weglaufen. Sie ist am Tag und in der Nacht aktiv. Da die Betreuung in einer Pflegeeinrichtung nicht ohne Ruhigstellung zu leisten wäre, wird sie von ihrem Mann, den drei inzwischen erwachsenen Kindern und tagsüber dem 91-jähriger Schwiegervater beaufsichtigt und betreut. Der Ehemann kommt tagsüber von seiner nahe gelegenen Arbeitsstelle, um das Wickeln zu übernehmen.
94
Die Schwerbehinderung der Klägerin ist schon seit 17.02.2009 mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen B, G, H und RF anerkannt. Sie ist in Pflegestufe III, nach der Umstellung durch das 3. Pflegestärkungsgesetz in Pflegegrad 5 eingestuft. Mit einer Besserung ist nicht zu rechnen.
95
b) Der Senat hält das von der Klägerin als Mindestbetrag geforderte Schmerzensgeld von 225.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend. In vergleichbaren Fällen haben das OLG Oldenburg (Urteil vom 30.05.2000 - 5 U 218/99, Schmerzensgeldbeträge Nr. 38.2607) bei einer mit 26 Jahren deutlich jüngeren Geschädigten ein Schmerzensgeld von 400.000,00 DM (umgerechnet und indexiert ca. 267.000,00 €) und das OLG Düsseldorf (Urteil vom 15.03.2012 - I-8 U 161/10, Schmerzensgeldbeträge 38.2440) bei einem 33-jährigen Mann, der zusätzlich wegen einer Tetraspastik dauerhaft bettlägerig ist, ein Schmerzensgeld von 200.000,00 € mit immateriellen Vorbehalt ausgesprochen (indexiert ca. 219.000,00 €). Die Haftpflichtversicherung hat auf den Anspruch bereits vorprozessual 150.000,00 € geleistet, die nach § 362 Abs. 1 BGB anzurechnen sind.
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c) Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 BGB.
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10. Aufgrund des schweren Dauerschadens der Klägerin, der laufend zu materiellen Schäden führen kann, ist die Ersatzpflicht zukünftig noch entstehender Schäden festzustellen.
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11. Hinsichtlich der Berufungsanträge III., IV. und VIII. ist das Bestehen der Schadensersatzansprüche dem Grunde nach festzustellen.
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Die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 304 Abs. 1 ZPO liegen vor. Hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens und des Erwerbsschadens ist der Anspruch der Klägerin nach Grund und Betrag streitig. Entscheidungsreif ist der Rechtsstreit insoweit aber nur hinsichtlich des Anspruchsgrundes.
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a) Beim Haushaltsführungsschaden ist der Umfang des Haushalts und der dazu erforderliche Aufwand streitig, den die Klage anhand der Tabellen 5 und 8 in einer früheren Auflage des Tabellenwerks von Schultz-Borck/Hofmann beziffert hat. Da die Klägerin bis zu dem Herz-Kreislauf-Stillstand den Haushalt mit drei minderjährigen Kindern (Zwillinge mit damals 10 Jahren und eine Tochter mit damals 13 Jahren) geführt hat, steht außer Zweifel, dass ein Anspruch auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens besteht. Für die Festlegung der Höhe ist aber zu berücksichtigen, dass die Kinder mit zunehmendem Alter und dem Wiedereintreten der Klägerin in das Arbeitsleben auch ohne das Schadensereignis stärker an der Haushaltsführung beteiligt worden wären.
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b) Auch ein Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens ist dem Grunde nach festzustellen. Zwar war die Klägerin im Jahr 2008 nicht berufstätig. Aufgrund der Anhörung des Klägers zu 2) geht der Senat jedoch davon aus, dass sie im Herbst 2009, nachdem die Zwillinge die Grundschule abgeschlossen haben, eine Berufstätigkeit im beschränkten Umfang - etwa, wie vorgetragen, halbtags - aufgenommen hätte. Was die Klägerin, etwa in ihrem erlernten Beruf als technische Zeichnerin, verdient hätte, ist zwischen den Parteien streitig und bedarf sowohl weiteren Vortrags der Parteien als auch weiterer Aufklärung.
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c) Der Klägerin steht auch ein Anspruch auf Ersatz ihrer Rechtsverfolgungskosten zu, deren Höhe aber erst festgestellt werden kann, wenn die Höhe des zuzusprechenden materiellen Schadensersatzanspruchs feststeht.
B.
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Anspruch des Klägers zu 2)
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Dem Kläger zu 2) steht aus rechtlichen Gründen kein eigener Schadensersatzanspruch zu
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1. Der zwischen der Klägerin und der Beklagten bestehende Behandlungsvertrag umfasst keine Schutzwirkung zugunsten des Klägers zu 2), ihrem Ehemann.
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a) Ein Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte liegt vor, wenn der Anspruch auf die geschuldete Hauptleistung allein dem Vertragspartner zusteht, der Dritte jedoch in der Weise in die vertraglichen Sorgfalts- und Obhutspflichten, aber auch Hauptleistungspflichten einbezogen ist, dass er bei deren Verletzung vertragliche Schadensersatzansprüche geltend machen kann. Der Vertragsschuldner muss die Leistung nach dem Vertrag so zu erbringen haben, dass bestimmbare Dritte nicht geschädigt werden. Die Einbeziehung eines Dritten in die Schutzwirkungen eines Vertrags setzt voraus, dass Sinn und Zweck des Vertrags und die erkennbaren Auswirkungen der vertragsgemäßen Leistung auf den Dritten seine Einbeziehung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben erfordern und eine Vertragspartei, für den Vertragsgegner erkennbar, redlicherweise damit rechnen kann, dass die ihr geschuldete Obhut und Fürsorge in gleichem Maße auch dem Dritten entgegengebracht wird. Um die vom Gesetzgeber gewollte unterschiedliche Ausgestaltung von vertraglicher und deliktischer Haftung nicht aufzugeben, ist bei Vermögensschäden eine Beschränkung auf eng begrenzte Fälle geboten (BGH, Urteil vom 6. 5. 2008 - XI ZR 56/07, BGHZ 176, 281 = NJW 2008, 2245 Rn. 27 mwN). Der Kreis der in den Vertragsschutz einbezogenen Dritten ist daher unter Beachtung einer sachgerechten Abwägung der Interessen der Beteiligten dahin zu begrenzen, dass der Dritte mit der Hauptleistung bestimmungsgemäß in Berührung kommt, ein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers an der Einbeziehung des Dritten besteht, den Interessen des Schuldners durch Erkennbarkeit und Zumutbarkeit der Haftungserweiterung Rechnung getragen wird und der Dritte schutzbedürftig ist (BGH, Urteil vom 6. 5. 2008 - XI ZR 56/07, NJW 2016, 2204 Rn. 17).
Der Behandlungsvertrag entfaltet nur in besonderen Konstellationen eine Schutzwirkung zugunsten Dritter, etwa bei der Entbindung und Behandlung von Kleinkindern und bei der Behandlung von Patienten, die an einer ansteckenden Krankheit leiden - z. B. kann sie bei HIVpositiven Patienten die Geschlechtspartner erfassen (Laufs/Kern/Rehborn ArztR-HdB, 5. Auflage 2019, § 43 Die Parteien des Arztvertrages Rn. 51). Einen solchen besonderen Bezug auf den Ehepartner der Klägerin zu 1) wies der anlässlich der Behandlung ihrer hypertensiven Krise geschlossene Behandlungsvertrag nicht auf (vgl. OLG Köln Hinweisbeschluss v. 22.12.2015 - 5 U 135/15, BeckRS 2016, 6006 Rn. 3).
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b) Deliktische Ansprüche stehen nur der Klägerin als der Verletzten zu; sie umfassen auch Ansprüche wegen des Ausfalls ihrer Arbeitskraft im Haushalt. Auch ein Anspruch des Klägers zu 2) nach § 845 BGB kommt nicht in Betracht. Mit der Realisierung der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Familienrecht ist die Dienstpflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Mann in Wegfall gekommen, und die Führung des Familienhaushalts wird in § 1360 BGB als eigenständiger Beitrag zum Familienunterhalt anerkannt. Bei Verletzung einer Hausfrau richtet sich der Schadensausgleich folgerichtig nach den §§ 842, 843 BGB, die die oben genannten Anspruch der Verletzten selbst vorsehen (MüKoBGB/Wagner, 7. Aufl. 2017 Rn. 3, BGB § 845 Rn. 3). Nur im Fall der Tötung sieht § 844 Abs. 2 BGB Ansprüche des Ehegatten vor, die sich aber auch nicht auf den vom Kläger zu 2) geltenden Schaden durch den Ausfall seines Mehrverdiensts durch die Schichtarbeit, die ihm aufgrund der Schädigung seiner Frau nicht mehr möglich ist, richten würde.
C.
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Die Kostenentscheidung muss der abschließenden Entscheidung vorbehalten bleiben. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Verkündet am 06.08.2020