DIE ZEIT: Herr Kühnert, Sie nennen sich einen Sozialisten. Was verstehen Sie darunter?

Kevin Kühnert: Das ist erst mal ein Nicht-Einverständnis mit der Wirtschafts- und teilweise auch Gesellschaftsordnung, die wir haben. Es markiert den Anspruch, dass eine bessere Welt nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar ist. Sprich: Eine Welt freier Menschen, die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht Profitstreben.

ZEIT: Das klingt etwas blumig. Die klassische Definition heißt: Vergesellschaftung von Produktionsmitteln. Unterschreiben Sie das?

Kühnert: Wenn wir Sozialismus sagen, haben wir oft Bilder aus der Marx´schen Zeit vor uns: Große Fabriken mit großen Maschinen, die nicht denen gehören, die daran arbeiten. In unsere heutige Zeit übersetzt, reden wir über den Umgang mit Internetgiganten, den Zugang zu großen Datenmengen, und ob das wirklich in privatwirtschaftlicher Hand sein sollte. Der Grundsatz ist unverändert: Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden. Eine Welt, in der Menschen ihren Bedürfnissen nachgehen können. Eine Demokratisierung aller Lebensbereiche.

ZEIT: Man könnte das soziale Marktwirtschaft nennen…

Kühnert:  Das ist nicht das gleiche. Für eine gewisse Zahl von Menschen mag sich verwirklichen lassen, was als Verheißung sozialer Marktwirtschaft proklamiert wird.. Aber ganz offenkundig nicht für alle. Wir haben es mit millionenfach niedrigen Löhnen zu tun, mit Hunger und Armut auf der Welt, Dingen also, die dem Streben nach persönlicher Entfaltung entgegenstehen. Die weit überwiegende Zahl der Menschen auf unserer Welt arbeitet nicht, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das Bedürfnis anderer nach Profitstreben.

ZEIT: Die einen haben mehr Stress und schlechtere Möglichkeiten als die anderen, und das ist ungerecht. Haben wir das richtig verstanden?

Kühnert: Ja, aber es geht nicht nur um Stress. Es gibt Leute, die Kapital besitzen und Leute, die dieses Kapital erarbeiten. Die Kapitalbesitzer sind in unserer Gesellschaft nicht zwangsläufig Fabrikbesitzer. Es sind auch Leute, die großen Immobilienbesitz haben, große Aktienpakete oder Fondsanteile. Die müssen nicht selbst produktiv tätig sein, sondern können ihr Kapital für sich arbeiten lassen. Über diese Freiheit verfügt in unserer Gesellschaft ein sehr kleiner Teil, der Zugang zu Vermögen ist für die meisten faktisch nicht gegeben.

ZEIT: Was wollen Sie unternehmen, um diese Ungleichgewichte zu beseitigen? Dürfte es im Sozialismus BMW geben, die Deutsche Bank, Siemens?

Kühnert: Auch der Sozialismus wird und muss mit Marktmechanismen arbeiten. Das Ziel ist vielmehr demokratische Kontrolle darüber, wie wir arbeiten und was wir produzieren.

ZEIT: Und das heißt konkret?

Kühnert: Dass wir uns zunächst über unsere Bedürfnisse verständigen. Ein aktuelles Beispiel: Braucht unsere Gesellschaft Waffen? Oder widerspricht es unserem demokratischen Mehrheitsinteresse, wenn wir berücksichtigen, welches Elend Waffen verursachen? Wir könnten uns dafür entscheiden, unseren Wohlstand nicht auf die Produktion von Waffen aufzubauen, sondern unsere Produktivkraft einzusetzen für Dinge, die uns nutzen, Wohnungen zu bauen oder Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen.

ZEIT: Wo ist da der Sozialismus? Das wäre eine soziale Marktwirtschaft, die keine Waffen produziert.

Kühnert: Es wären erste Schritte, denn für viele Millionen Menschen bietet die sogenannte soziale Marktwirtschaft solche Freiheiten heute nicht. Und die kapitalistische Gesellschaftsordnung zeichnet sich vor allem durch die vermeintliche Alternativlosigkeit zu diesem Zustand aus.

ZEIT: Das wiederum ist nicht die Definition von Kapitalismus.

Kühnert: Sollten Sie auf den Aufruf zum bewaffneten Umsturz gehofft haben, muss ich Sie enttäuschen. Ich versuche hingegen klarzumachen, dass sich alles in Schritten vollzieht. Fortschritte aus dem bisherigen System werden mitgenommen und das, was uns hindert, ein gutes Leben zu führen, wird überwunden. Ich verstehe unter Sozialismus kein Modell, das sich alle vorab im Detail anschauen und entscheiden können, ob sie darin leben wollen oder nicht. Sozialismus ist das Ergebnis von demokratischen Prozessen, orientiert an unumstößlichen Grundwerten. Das heißt: Ich kann das Ergebnis nicht vorwegnehmen.

ZEIT: Sozialismus ist eine Methode?

Kühnert: Es ist der Versuch, dem Ideal einer freien, gleichen und solidarischen Gesellschaft andauernd ein Stück näher zu kommen.

"Wir Menschen sind unterschiedlich"

ZEIT: Müssten Sie nicht eigentlich das Geld abschaffen, weil das die Möglichkeit eröffnet, Profit über den eigentlichen Bedarf zu erwirtschaften?

Kühnert: Nein, wir wollen nicht zurück auf den Markt des Mittelalters, wo Leute Brot gegen Schweinehälften tauschen. Es ist auch nichts gegen die Marke BMW einzuwenden. Die Frage ist nur, warum es wenige Menschen geben soll, denen BMW exklusiv gehört und die das weitgehend alleinige Recht haben, über Gewinne zu verfügen.

ZEIT: Gegründet hat in der Regel nicht der Staat oder die Mehrheit so ein Unternehmen, sondern einer, der die Idee hatte, der Kosten und das Risiko des Scheiterns getragen hat. Das soll nicht belohnt werden?

Kühnert: Schon das erste Auto wurde in der Regel nicht vom Gründer zusammengeschraubt. Sobald es in Massenproduktion geht, geht es nur noch mit Beschäftigten. Ich sehe das als gleichwertig an: Weder ohne den, der es erdacht hat, noch die, die es umsetzen, kommt am Ende ein Auto heraus, das man auf einem Markt anbieten und verkaufen kann. Warum sollen die Zehntausenden, die den Wert schaffen, mit einer aus Abhängigkeit heraus verhandelten Lohnsumme abgespeist werden? Warum gehört ihnen nicht zu gleichen Anteilen dieses Unternehmen: Würden wir dann keine Autos mehr erfinden und produzieren? Das würde ja jeglichen inneren Antrieb des Menschen zum Fortschritt negieren. Was für ein trauriges Selbstbild!

ZEIT: Sie wollen also keine Verstaatlichung, sondern eine Kollektivierung von Unternehmen wie BMW?

Kühnert: Auf demokratischem Wege, ja. Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW "staatlicher Automobilbetrieb" steht oder "genossenschaftlicher Automobilbetrieb", oder ob das Kollektiv entscheidet, BMW braucht es in dieser Form nicht mehr. Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden. Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer an diesem Betrieb gibt. Ohne eine Form der Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus überhaupt nicht denkbar.

ZEIT: Wäre der Idealfall, dass alle dasselbe verdienen?

Kühnert: Nein.

ZEIT: Warum nicht?

Kühnert: Weil ich auch hier von den Bedürfnissen her denke. Es haben gar nicht alle den Anspruch, dass die Wertschätzung ihrer Arbeit in einer bestimmten Summe ausgedrückt wird, solange Grundbedürfnisse befriedigt werden. Für mich ist eine Utopie reizvoll, in der Menschen selbstbestimmt unterschiedlich viel arbeiten und dann gegebenenfalls auch unterschiedlich viel verdienen. Die Frage ist: Können wir darüber selbst bestimmen und gibt es eine existentielle Absicherung in der Gesellschaft? Kann ich mir Freiheiten nehmen, ohne mir darüber Gedanken machen zu müssen, ob ich morgen noch existieren kann?

ZEIT: Sie halten es also für möglich, dass jemand sagt: Ich mache zwar dasselbe wie mein Kollege, bin aber damit einverstanden, dass ich weniger verdiene, weil ich weniger brauche?

Kühnert: Wenn das auf freiem Willen passiert - warum nicht? Wir Menschen sind unterschiedlich. Schon heute bieten manche Tarifverträge Wahlmöglichkeiten zwischen mehr Gehalt und mehr Freizeit.

ZEIT: Unterschiedlich heißt auch unterschiedliche Fähigkeiten, oder? Ist es nicht gerecht, wenn der Staat auch denen Raum zur Entfaltung gibt, die viel leisten können oder wollen?

Kühnert: Ach ja, das ist dieser American-Dream-Gedanke. Ich finde es lächerlich, wenn jemand als erfolgreicher Unternehmer auf der Bühne steht und sagt: Seht her, jeder kann es schaffen! Es können eben nicht alle gleichzeitig schaffen. Was ist die Verheißung eines Gesellschaftsmodells, in dem Millionen zusammen losrennen, und ein paar wenige schaffen es am Ende und rufen den anderen zu: Ihr hättet das auch schaffen können!

ZEIT: Wir leben allerdings nicht im amerikanischen System, sondern in einem, in dem Profite qua Steuern und Abgaben in einem erheblichen Maße umverteilt werden, in dem zum Beispiel Universitäten kostenlos sind.

Kühnert: Hart erkämpft! Und selbst heute gibt es noch Semestergebühren. Auf der anderen Seite haben wir 1,5 Millionen, die regelmäßig bei den Tafeln Schlange stehen. Wir haben gut 150 kindbezogene Leistungen des Staates und gleichzeitig Millionen Kinder unterhalb oder knapp oberhalb der Armutsgrenze.

ZEIT: Der Sozialstaat erzeugt also Armut anstatt sie zu verhindern?

Kühnert: Nein, aber der Sozialstaat steht am Ende einer Verkettung von Umständen. Zu diesen Umständen gehört, dass der Markt nicht für alle Menschen eine auskömmliche Arbeit hat. Der Staat muss dann die Folgen des Marktversagens ausbessern.

ZEIT: Sie plädieren für eine bessere Gewinnbeteiligungen von Belegschaften, für eine bessere Armutsbekämpfung, für Daseinsvorsorge -  das ist klassische Sozialdemokratie. Wir sind immer noch nicht überzeugt, dass Sie ein richtiger Sozialist sind.

Kühnert: Ich kann ja nichts dafür, wenn die Leute bei Sozialismus immer an brennende Barrikaden denken. Im Übrigen geht es mir nicht um eine bessere Gewinnbeteiligung, sondern um die Vergemeinschaftung von Gewinnen.

"Der Zeitgeist ist wirklich kein altruistischer"

ZEIT: Beim Sozialismuskongress der Jusos in Berlin vor einigen Wochen haben Sie gesagt: "Warum sollte jemand mehr als 20 Wohnungen in seinem Besitz haben?" Sagen Sie es uns. Warum nicht?

Kühnert: Weil Wohnen ein Grundbedürfnis ist. Jeder muss wohnen. Besonders in Städten steigen durch Profitstreben die Mieten stark an. Damit ist das Recht auf Wohnen noch nicht für alle in Frage gestellt, aber für immer mehr Menschen eben doch. Da ist doch die sehr moderate Frage berechtigt, warum eigentlich Leute Rendite erwirtschaften müssen mit etwas, das andere zum Leben brauchen? Ich finde nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Konsequent zu Ende gedacht sollte jeder maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt.

ZEIT: Müssten Sie dann nicht das private Wohneigentum stärken?

Kühnert: Es spricht vieles gegen die These, dass Individualeigentum die Lösung ist. Besser wären genossenschaftliche Lösungen. Man könnte zum Beispiel erwägen, ob man Leuten Angebote macht, mit ihrem privaten Wohnungsbesitz in Genossenschaften reinzugehen. Wenn private Bauherren erklären, dass sie keinen Wohnraum für eine Miete von 5,50 Euro kalt pro Quadratmeter schaffen können, und ich glaube ihnen das, dann gibt es hier offenbar eine Kluft zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen und den Möglichkeiten des kapitalistischen Marktes. Dann kann die Antwort doch nur sein, dass es eine gesellschaftliche Aufgabe ist, diesen Wohnraum bezahlbar zur Verfügung zu stellen.

ZEIT: Das Ziel wäre, dass es gar keine privaten Vermietungen mehr gibt?

Kühnert: Das wäre der Optimalfall, natürlich.

ZEIT: Ok. So langsam glauben wir Ihnen, dass Sie Sozialist sind. Was ist mit privaten Pkw? Die nehmen in Städten viel öffentlichen Raum ein. Wie sähe eine sozialistische Verkehrspolitik aus?

Kühnert: Auch hier geht es um Bedürfnisorientierung. Das Bedürfnis ist, mobil sein zu können, denn das bedeutet teilhaben zu können. Dafür brauche ich nicht zwingend ein eigenes Auto. Für viele ist es sogar eine Belastung. Aber wenn die Alternative ist, sich in eine völlig überfüllte U-Bahn zu setzen, oder wenn bei der ersten Schneeflocke die S-Bahn nicht fährt, dann vielen Dank.

ZEIT: Ein staatlich subventionierter ÖPNV hat nun auch wieder nichts mit Sozialismus zu tun.

Kühnert: Aber ein weiterer Schritt wäre es, wegzukommen von gebührenfinanzierten Systemen. Wir nehmen Gebühren für den öffentlichen Nahverkehr, für die Bibliothek, fürs Schwimmbad, aber anders als bei der Steuererhebung fragen wir dabei nicht nach den Einkommensverhältnissen der Nutzer. Für ein Tagesticket zahlt der Manager genauso viel wie sein Arbeitnehmer. Das finde ich nicht gerecht.

ZEIT: Wenn das Allgemeinwohl so wichtig ist: Wäre dann nicht ein System gut, wie es gerade in China eingeführt wird, wo für sozial erwünschtes Verhalten Bonuspunkte vergeben werden?

Kühnert: Nein. Ich würde mich in einem politischen Prozess für meine Idee einsetzen. Aber ich würde entschieden gegen ein chinesisches Modell eintreten, weil mir individuelle Freiheiten wichtig sind.

ZEIT: Wenn ich durch meine Arbeit Lohn bekommen und damit etwas erworben habe: Gehört es dann nicht zu meinen individuellen Freiheiten, dass ich das nutzen kann?

Kühnert: Bei der Transformation von einer kapitalistischen hin zu einer wie auch immer gearteten sozialistischen Gesellschaft sollte es klugerweise keinen Schnitt geben, nach dem Motto: Die Monopoly-Runde ist beendet, alle starten jetzt noch mal bei Null. Was tatsächlich selbst erarbeitet wurde, sollte geschützt sein. Alles andere würde gesellschaftliche Verwerfungen produzieren, die ich für destruktiv halte.

ZEIT: Warum? Würden die Menschen die Wende hin zum Gemeinwohl und zum Guten nicht erkennen?

Kühnert: Unsere Gesellschaft diskutiert leider schon lange nicht mehr systemisch. Es wird nicht diskutiert, ob der Kapitalismus menschengerecht ist, sondern wie man über die Runden kommt. Der Zeitgeist ist wirklich kein altruistischer.

ZEIT: Weil die Frage, ob "der Kapitalismus" in Deutschland zeitgemäß ist, Mitte des letzten Jahrhunderts beantwortet worden ist. Die soziale Marktwirtschaft, auf die Bundesrepublik setzte, hat die Macht der Eigentümer in vielfältiger Weise beschränkt, durch das Arbeitsrecht, den Kündigungsschutz, das Baurecht, außerdem liegt die Staatsquote bei über 50 Prozent…

Kühnert: … Sie können doch nicht bestreiten, dass es Kapitalismus ist, in dem wir leben.

ZEIT:  Aber in keinem ungezügelten.

Kühnert: Natürlich ginge es deutlich ungezügelter. Aber soziale Marktwirtschaft ist eine Spielart von Kapitalismus. Sie war auch eine Antwort auf die real existierende Systemkonkurrenz. Es ist doch kein Zufall, dass in der historischen Sekunde, in der die Systemkonkurrenz mit dem eisernen Vorhang gefallen ist, die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft infrage gestellt wurden und Mitte der 1990er Jahre dieser neoliberale Zeitgeist Einzug gehalten hat.

"Es geht nie um ein bloßes Zurück"

ZEIT:  Geht es also in Wahrheit darum, die Exzesse dieser Ära zu korrigieren, also zurückzukehren in eine für Arbeiter angenehmere Zeit?

Kühnert: Es geht nie um ein bloßes Zurück. Richtig ist aber, dass es in einem ersten Schritt auch um restaurative Maßnahmen geht. Die soziale Sicherheit muss wieder erhöht werden. Eine Wiederherstellung des Sozialstaatsversprechen der 70er, 80er Jahre in upgedateter Form, mit echter Gleichstellung, Home Office und Ähnlichem, wäre schon mal ein Anfang. Aber es wäre eben noch kein Sozialismus. Wenn ich Leute davon überzeugen will, dass eine bessere Welt vorstellbar ist als die, die sie vorfinden, dann mache ich nicht den zehnten Schritt vor dem ersten.

ZEIT: Sie glauben selbst nicht daran, dass Ihre Idee die Leute überzeugt.

Kühnert: Ob eine Idee wirkmächtig wird, hängt auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Wie viel Freiheit haben die Leute, sich mit einer solchen Utopie auseinanderzusetzen? Wo ist die Freiheit der alleinerziehenden Mutter, die mit drei 450-Euro-Jobs sich und ihr Kind durchbringen muss, sich mit der Veränderung der Gesellschaft zu beschäftigen?

ZEIT: Hat es eine sozialistische Ordnung, wie Sie ihnen vorschwebt, schon jemals gegeben?

Kühnert: In staatlich gegossene Form nicht.

ZEIT: Gibt Ihnen das zu denken?

Kühnert: Das ist ja erklärbar. Es hatte ja in den meisten Fällen mit dem eklatanten Mangel an demokratischer Mitbestimmung zu tun. Deswegen ist für mich "demokratischer Sozialismus" ein untrennbares Begriffspaar. Sozialismus ist kein autoritäres Konzept. Ein spannendes Positivbeispiel ist für mich die Kibbuz-Bewegung, die während der Gründungsphase Israels groß wurde, und wo Menschen ihren Zugewinn in einen Topf werfen, aus dem die Bedürfnisse aller befriedigt werden. Das gibt es auch heute noch.

ZEIT: Dabei wird dann auch festgelegt, was der Einzelne braucht. Was die Frage aufwirft: Ist Sozialismus ohne Planwirtschaft denkbar?

Kühnert: Denkbar schon. Gerade eine linke Gesellschaftsidee sollte sich niemals technologischem Fortschritt verweigern, der nun mal nicht ohne trial and error, ohne einen kreativen Überschuss denkbar ist. Planwirtschaftliche Elemente hätten in diesem Sinne eine bremsende Kraft auf alles Innovative.

ZEIT: War die DDR sozialistisch?

Kühnert: Nein. Was diesem Modell, neben allem Demokratischen, schon von Anfang gefehlt hat, war die intrinsische Motivation seiner Köpfe, dort wirklich die gerechte Gesellschaft zu schaffen. Es ist ja vielmehr der Antrieb einer politischen Administration gewesen, sich in einem unter anderen Bedingungen verlängerten Krieg durchsetzen zu wollen. So mache ich den Menschen doch keine Lust auf eine bessere Gesellschaft. Das ist Ellenbogengesellschaft auf andere Art.

ZEIT: Wenn Sie eine Million erben würden, würden Sie dann sagen, ich brauche gar nicht so viel, und die Million spenden?

Kühnert: Das ist so unrealistisch, darüber habe ich noch nie nachgedacht. (Denkt nach) Sicherlich würde ich einen erheblichen Teil davon spenden.

ZEIT: Sie würden sich auch keine Eigentumswohnung kaufen?

Kühnert: Nein.

ZEIT: Und mieten wollen Sie auch nicht, weil Sie damit die Eigentumswohnung eines anderen finanzieren?

Kühnert: Wenn Sie nach dem Wollen fragen, dann haben Sie recht.

ZEIT: Wie wollen Sie dann wohnen?

Kühnert: (lacht) Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Ich wohne zur Miete und verwende meine politische Energie lieber darauf, etwas an den Rahmenbedingungen zu verändern statt mich mit meinem Vermieter darüber auseinanderzusetzen, ob er mir und meiner WG nicht die Wohnung schenken sollte.

Ein kürzere Version dieses Interviews/Artikels erscheint in der ZEIT 19/2019.