Leichtfertig hatten westliche Staaten an eine regelgebundene Weltpolitik geglaubt. Der russische Machthaber hat dieses Vertrauen ohne Erbarmen ausgenutzt.
Wirtschaftliche und militärische Macht, das lernen wir gerade, entfalten ihre Wirkung nicht nur in unterschiedlicher Weise, sondern auch in unterschiedlichen Zeitstrecken: Militärische Macht, zum Gewalteinsatz verdichtet, wirkt schnell und unmittelbar, sie zerstört in kürzester Zeit, was über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden ist, nicht nur die materielle Infrastruktur, sondern auch das politische Vertrauen und die ökonomischen Austauschbeziehungen.
Wirtschaftliche Macht dagegen braucht, selbst wenn es nicht um konstruktive Effekte, sondern, wie bei Sanktionen ja der Fall, um den Abbruch von Beziehungen geht, sehr viel mehr Zeit, um Wirkung zu erzielen. Das haben Europäer wie Amerikaner übersehen, als sie in einer zuletzt seltenen Einmütigkeit durch die Androhung von Wirtschaftssanktionen versucht haben, Putin von dem absehbaren Angriff auf die Ukraine abzuhalten und ihn zum Abbau seiner militärischen Drohkulisse an der ukrainischen Grenze zu bringen.
Putins Kalkül, das wird jetzt mehr und mehr erkennbar, lief darauf hinaus, in einer schnellen Operation Kiew zu besetzen, den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten abzusetzen oder verschwinden zu lassen und eine prorussische Marionettenregierung einzusetzen. Es ging darum, vollendete Tatsachen zu schaffen, bei denen Putin erwartete, dass die ukrainische Bevölkerung sie hinnehmen und nach einer kurzen Zeit missmutigen Grollens auch der Westen sie akzeptieren werde, weil daran nun einmal nichts mehr zu ändern sei.
Der Westen, so Putins Rechnung, würde dann einige Sanktionen gegen Russland verhängen, aber die würden vor allem symbolischer Art sein und nicht auf einen Ausschluss Russlands von den globalen Wirtschaftskreisläufen abzielen. Und nach einiger Zeit würde alles wieder so sein wie früher, nur dass dann die Ukraine fest zur russischen Einflusssphäre gehören würde oder gar zum integralen Bestandteil Russlands geworden wäre. Die Europäer, zumal die Deutschen, würden sich unter diesen Umständen nicht auf eine fundamentale Umstrukturierung ihrer Energieversorgung einlassen und auch sonst nicht die attraktiven Geschäfte mit Russland beenden. Und die Oligarchen in Russland würden ebenfalls ruhig und gelassen bleiben und nicht darüber nachdenken, wie sie den Mann im Kreml loswerden könnten, um wieder ihre Geschäfte zu machen.
So ist es nicht gekommen. Die Militäroperationen haben nicht innerhalb weniger Stunden oder Tage zum vorgegebenen Ziel geführt. Russland hat sehr viel mehr militärische Gewalt eingesetzt, als es vorgehabt hatte. Die ukrainische Bevölkerung hat die russischen Truppen nicht als Befreier begrüsst, sondern ist zu ihrem Präsidenten gestanden und hat das eigene Militär unterstützt, das einen überraschend zähen Widerstand leistet. Der Westen schliesslich hat inzwischen Wirtschaftssanktionen beschlossen, die für Russland längerfristig weitreichende Folgen haben.
Auch wenn Putin schliesslich Herr über die Ukraine werden sollte – es wird ein stark zerstörtes Land sein, das er beherrscht, in dem die Herzen der grossen Bevölkerungsmehrheit ihm in tiefer Abneigung, wenn nicht Feindschaft zugewandt sind und aus dem die kreativsten Köpfe geflohen und in den Westen gegangen sind. Russland wird dann durch den Zugewinn der Ukraine, wenn es denn überhaupt dazu kommt, nicht stärker, sondern schwächer geworden sein. Vor allem wird ein vom Westen und von den demokratisch regierten Teilen der Welt entkoppeltes Russland von China abhängig sein, und Peking wird in allen entscheidenden Fragen gegenüber Moskau den Ton angeben.
Das Einzige, was Putin dann für seine Weltmachtansprüche noch bleibt, sind seine Atomwaffen, und mit denen wird er bei jeder Gelegenheit herumfuchteln. Aber auch das wird nach der Zäsur der zurückliegenden Wochen für den Westen nur ein weiterer Grund sein, verstärkt in seine eigenen militärischen Fähigkeiten zu investieren. Eine solche nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge abzusehende, wenig erfreuliche Entwicklung könnte wohl nur abgewendet werden, wenn es – wie auch immer – dazu käme, dass Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt und wegen des Führens eines Angriffskrieges abgeurteilt würde.
Nur so könnte das Vertrauen in eine regelgebundene und wertegestützte Weltordnung wiederhergestellt werden. Weil das sehr unwahrscheinlich ist, müssen wir davon ausgehen, dass wir es auf lange Zeit mit einer Welt der Blöcke zu tun haben werden, die politisch und militärisch stark integriert und auf ökonomische Selbständigkeit bedacht sind. Die Ära der Globalisierung ist vorerst an ihr Ende gekommen. Sie war schon vor Putins Überfall auf die Ukraine ins Stocken geraten. Doch seitdem ist Vertrauen naiv, und generalisiertes Misstrauen ist angezeigt.
Im Rückblick stellen sich zwei Fragen: Warum hatte sich Putin so gründlich verkalkuliert? Und was hatte den Westen dazu gebracht, die Anzeichen für die zynische Ausnutzung der eigenen Regelbindung durch Putin und andere so lange zu ignorieren und an einer Weltordnungskonzeption festzuhalten, die, wie wir jetzt wissen, im Wesentlichen ein Wunschbild war?
Offensichtlich ist Putin in die Falle der Autokraten gegangen: Sie umgeben sich nämlich mit Personen, die ihnen lakaienhaft zustimmen, nie widersprechen, ja sich nicht einmal trauen, Zweifel an der Sicht ihres Herrn und Meisters anzumelden, weil sie fürchten, dass das ihren Sturz zur Folge hätte. So hört der Autokrat schliesslich nichts anderes mehr als seine eigene Auffassung, die ihm vielstimmig entgegenschallt.
Wir haben das bei der in alle Welt übertragenen zeremoniellen Befragung der Paladine durch Putin beobachten können, in der es um deren Zustimmung zur russischen Anerkennung der Gebiete Donezk und Luhansk als selbständige Staaten ging. Das dürfte im innersten Kreis bei geheimen Besprechungen nicht anders sein. Politiktheoretisch betrachtet, läuft das darauf hinaus, dass ein Autokrat mit der Zeit dumm wird. Selbst Geheimdienstinformationen, die seiner Sichtweise widersprechen, erreichen ihn nicht mehr. Nur so konnte Putin zu der Auffassung kommen, die Bevölkerung der Ukraine werde ihn und seine Truppen als Befreier begrüssen – was die Voraussetzung für einen schnellen Erfolg der Militäroperation gewesen wäre.
Aber warum hat der Westen, der ja über vielfältige Informationen verfügte, so lange an der Vorstellung einer Regelbindung und Werteorientierung festgehalten und infolge dieses Festhaltens dann auch Putin ein Vertrauen entgegengebracht, das er schon lange nicht mehr verdient hatte? Mit der Euphorie von 1989/1991 war das kaum zu erklären, denn die hatte sich spätestens in den 2010er Jahren weitgehend verflüchtigt.
Es war wohl die Vorstellung, die immer drängender gewordenen Menschheitsaufgaben, die Bekämpfung von Hunger und Elend im globalen Süden, die Begrenzung der sich abzeichnenden Migrationsbewegungen, vor allem aber die Beendigung des Klimawandels, liessen sich nur auf der Grundlage eines politisch organisierten «Wir» der Menschheit bewältigen. Und dieses «Wir» sei am ehesten auf der Grundlage unverbrüchlicher Regeln und gemeinsamer Werte zu erreichen, nicht dagegen in einem auf Konkurrenz und Konflikt ausgelegten Gegeneinander der Staaten und Staatengruppen.
Globale Herausforderungen lassen sich tatsächlich nur global angehen, und diese gemeinsame Handlungsperspektive wollte man sich nicht durch das irritierende Auftreten einzelner Politiker zerstören lassen. Im Gegenteil: Man musste sie in die Weltgemeinschaft nur umso stärker und fester einbinden, und die Herstellung wechselseitiger wirtschaftlicher Verflechtung und gegenseitiger Abhängigkeit schien dazu das am besten geeignete Mittel, weil es so etwas wie eine vertrauensbildende Massnahme war.
Die wenigsten hatten damit gerechnet, dass diese Abhängigkeit von einer Seite strategisch genutzt würde. Dass Putin das getan hat und weiterhin darauf setzt, lässt die Politik des Vertrauens als naiv und die des generalisierten Misstrauens jetzt als vorausschauend und verantwortungsvoll erscheinen. Das ist eine weitere Zäsur, die weitreichende Folgen haben wird: Diejenigen, die das grösste Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Regeln gehabt haben, sind jetzt am meisten desavouiert, während die notorisch Misstrauischen nun auf Jahre hinaus den politischen Ton angeben werden. Die Bearbeitung der Menschheitsaufgaben wird infolgedessen erst einmal hintangestellt werden – für lange Zeit.
Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin.
An anderer Stelle berichtet die NZZ von Protesten russischer Bürger und Institutionen gegen den Krieg. Diesen Menschen drücke ich meine Bewunderung aus. Denn dazu gehört Mut. Putins Gewaltapparat geht mit grosser Härte gegen sie vor. Das ist das einzige, was einem illegitimen Diktator zur Verfügung steht und um so deutlicher seine Schwäche zeigt. Hut ab vor diesen Menschen!
Die westliche Politik war im Kern inkohärent. Einerseits vernachlässigte die NATO geradezu systematisch die Glaubwürdigkeit ihrer militärischen Einsatzbereitschaft. Insbesondere der Zustand der deutschen Streitkräfte war hier symptomatisch. Andererseits - und gleichzeitig - vernachlässigte der Westen aber auch die Großmachtinteressen Russlands. Die NATO-Osterweiterung verstiess eklatant gegen den "Geist" von 1990, und mit der Einladung an die Ukraine war ein Höhepunkt der realpolitischen Unvernunft erreicht. Das Ganze war, kurz gesagt, eine toxische Kombination aus Schwäche und Provokation. Es war ein Verhalten, das man alltagssprachlich auf die vernichtende Kurzformel "Große Klappe, nichts dahinter" bringen kann.