Kommentar

Die russische Wirtschaft taumelt, und die Bürokraten und Apparatschiks wollen es nicht wahrhaben. Doch das Scheitern des Putin-Modells ist eine gute Nachricht

Die Sanktionen und das Kriegsregime sind ein weiterer Meilenstein auf dem langen Abstieg Russlands.

Christian Steiner 136 Kommentare
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«Lecker und Punkt (Wkusno i totschka)» heisst die McDonald’s-Nachfolgefirma in Russland. Doch ob die neuen Eigentümer die Erfolgsgeschichte der Amerikaner fortsetzen können, ist mehr als fraglich.

«Lecker und Punkt (Wkusno i totschka)» heisst die McDonald’s-Nachfolgefirma in Russland. Doch ob die neuen Eigentümer die Erfolgsgeschichte der Amerikaner fortsetzen können, ist mehr als fraglich.

Nanna Heitmann / NYT / Laif

Wer schadet hier eigentlich wem? Für Wladimir Putin ist klar: Die Europäer begehen mit ihren Sanktionen regelrecht «wirtschaftlichen Selbstmord». Nun ja. Nach mehr als einem halben Jahr Krieg mit Sanktionen und Gegensanktionen kann man konstatieren, dass sich der Schaden in Europa wohl in Grenzen hält. Die Wirtschaft wächst, und man wird den Winter auch ohne russisches Erdgas überstehen.

In Russland hingegen kann man gerade beobachten, wie sich ein vormals in die globalen Wertschöpfungsketten eingebundenes Land abkapselt. Im Kleinen ist das in den Bars zu spüren: Whiskey-Importe sind um die Hälfte zurückgegangen. Derzeit versuchen Händler in Kneipen und Klubs leere Flaschen von ausländischen Spirituosen aufzukaufen, um diese wieder zu befüllen und an den Mann zu bringen. Man könne sich glücklich schätzen, wenn einen diese Produkte nicht krank machten oder töteten, heisst es in der Boulevardzeitung «Moskowski Komsomolez».

Wenn ausländische Unternehmen Russland verlassen, schmerzt das doppelt

Doch es fehlt nicht nur an importierten Gütern. Hunderte von ausländischen Firmen haben das Land verlassen und ihr Russlandgeschäft aufgegeben. Mit ihnen verschwinden nicht bloss die Markennamen und Produkte, sondern auch viel Wissen darüber, wie man Geschäfte führt. Die ausländischen Besitzer brachten moderne Managementtechniken ins Land und haben für mehr Kontrolle gesorgt. Die nun eher schlecht als recht zusammengezimmerten Nachfolgefirmen können das so nicht.

Zu den bekanntesten Unternehmen, die gehen, zählt Ikea. Der schwedische Möbelbauer war mehr als nur ein Geschäft. Mit seinen Produkten wurde die sowjetische Wohnung «entrümpelt», sie galten im Land als Statussymbol und Zeichen des neuen Wohlstands Anfang der 2000er Jahre. Der Weggang der Schweden stellt für Russland eine Zäsur dar, die die Menschen in ihrem Alltag merken.

Ikea in Russland: Das war einmal.

Ikea in Russland: Das war einmal.

Anton Waganow / Reuters

Alles kein Problem? Das meint zumindest die russische Strafvollzugsbehörde. Die Gefängnisse kündigten grossspurig an, dass sie der Bevölkerung ihre geliebten Billy-Regale zurückgeben würden. Die Behörde meint im vollen Ernst, Ikea ersetzen zu können: «Die Möbel, die wir herstellen, sind von besserer Qualität und billiger», so lassen sich die Gefängniswärter in einem Zeitungsartikel zitieren. Doch mehr als ein frommer Wunsch ist das nicht.

Was wie ein Scherz klingt, ist derzeit die schöne neue Welt der russischen Wirtschaft. Je stärker die ausländischen Sanktionen wirken, desto verkrampfter klingen die Durchhalteparolen der Bürokraten und Günstlinge im Kreml. Wie die Papageien wiederholen sie, wenn ein westliches Unternehmen das Land verlässt: «Sollen sie doch! Wir können das selber sowieso besser, günstiger und schöner.»

Doch anders als die grossen Worte vermuten lassen, ist Russland nicht auf dem Weg in eine glorreiche Zukunft, sondern zurück ins 20. Jahrhundert mit Autos ohne Airbags, Flugzeugmodellen, die schon längst ausgemustert wurden, und anderen Scheinlösungen. Dafür aber aus russischer Produktion. Es ist gerade die Zeit der Grossmäuler und des Sichdurchwurstelns. Doch wer es wagt, dies auszusprechen, befindet sich schon längst im Ausland, muss schnellstens dorthin flüchten oder stürzt, wie der Chef des Konzerns Lukoil, der sich erdreistete, den Krieg zu kritisieren, unter mysteriösen Umständen aus einem Fenster.

Es fehlt an allen Ecken und Enden

Die Produktion im Land ist stark zurückgegangen, weil die Unternehmen keine Komponenten importieren können. Dies zeigt beispielhaft die Automobilindustrie, die 80 Prozent weniger Fahrzeuge als noch vor einem Jahr herstellt. Die Firmen werden derzeit noch angehalten, nicht zu viele Menschen zu entlassen, weil dies zu sozialen Spannungen führe.

Doch auch der Export harzt. Die metallurgische Industrie läuft mit halber Kraft. Zwar könnten die Werke mehr produzieren, doch da sie den Stahl nur in Russland verkaufen können, fehlen ihnen die Abnehmer. Die Europäer kaufen nichts mehr, und der Schwenk nach Osten verläuft sehr langsam. In der Metallurgie sind über eine halbe Million Menschen tätig. Viele von ihnen arbeiten in Monostädten, die nur einen einzigen grossen Arbeitgeber kennen. Verlieren viele von diesen Arbeitern ihren Job, droht Ungemach.

In Murmansk laufen die Hochöfen noch. Doch die Branche produziert nicht so viel Stahl, wie sie könnte.

In Murmansk laufen die Hochöfen noch. Doch die Branche produziert nicht so viel Stahl, wie sie könnte.

Jewgenija Nowoschenja / Reuters

Die einzige Antwort, die man in Russland auf die Sanktionen hat, ist mehr Staat und mehr Dirigismus. Verlässt eine Firma das Land, springt fast immer Väterchen Staat ein. Dies schaltet auch noch das letzte bisschen an Innovationskraft aus. Diese Unsicherheit spüren auch die Konsumenten. Die Russen haben in den Überlebensmodus geschaltet. Es wird weniger eingekauft, und man versucht sich möglichst auf noch Schlimmeres vorzubereiten. Die Detailhandelsumsätze sind auf das Niveau von 2008 zurückgegangen.

Die Russen kaufen immer weniger ein

Veränderung der Umsätze im Einzelhandel, in realen Werten, saisonbereinigt, 2019 = 100
1
Krim-Annexion
2
Corona
3
Beginn des Ukraine-Kriegs

Was für Putin aber noch schlimmer sein muss, ist, dass der Westen endlich sieht, dass die russische Wirtschaft unter seiner Ägide zu einem Scheinriesen geworden ist. Von weitem betrachtet, wirkt die alte Supermacht mit all ihren Rohstoffen und 140 Millionen Konsumenten wie eine grosse Wirtschaftskraft. Doch wer näher hinschaut, erkennt nur den verblichenen Glanz der Vergangenheit, viel Korruption, Misswirtschaft und eine spezielle Art des Staatsdirigismus. Das grosse Russland hat in der Weltwirtschaft bloss das Gewicht Südkoreas, und es fehlt an einer Idee für die Zukunft.

Das grosse Problem ist, dass Putin auch keinen Plan braucht. Neben dem Ausgeben von Durchhalteparolen macht der Kreml das, was er muss, um an der Macht zu bleiben. Dies bedeutet, dass die sogenannten Silowiki bei der Stange gehalten werden. Diese Kaste aus hochrangigen Vertretern von Militär, Geheimdiensten und Polizei darf sich weiter am Staatseigentum bedienen, Bestechungsgelder kassieren und unliebsame Konkurrenz ausschalten. Solange das Geld für den Sicherheitsapparat reicht, wird sich die Putin-Regierung an der Macht halten können. Den Preis zahlen die einfachen Menschen.

Ebenfalls unter die Räder kommen die sogenannten Oligarchen. Diese werden von den Sanktionen des Westens hart getroffen, ihre Vermögenswerte im Ausland wurden konfisziert, und ihre Geschäfte leiden unter der Isolation. Und Putin? Er zuckt bei den Geschäftsmännern mit den Schultern. Denn diese sind das grösste Missverständnis in der ganzen Geschichte.

Der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss

Anders als die Silowiki sind die sogenannten Oligarchen blosse Mitläufer oder Profiteure. Schon allein der Begriff Oligarch ist ein Trugschluss. Wären sie wirklich Oligarchen, dann besässen die Reichen die Macht, den Präsidenten zu stoppen und seinen Krieg sofort zu beenden. Dass dies nicht geschieht, zeigt: Die Milliardäre sind bloss von Putin geduldete Marionetten. Ohne die Macht, auch nur das Geringste zu ändern.

Doch ohne die marktwirtschaftlichen Methoden der ausländischen Firmen und mit einer korrupten Staatswirtschaft entwickelt sich Russland zu einem zweiten Iran – abgeschnitten vom Westen, mit einer autarken Wirtschaft, einer ärmeren Bevölkerung und technologisch rückständig im Vergleich zu den führenden Ländern der Welt oder dem Potenzial, das Russland hätte, wenn es einen anderen Weg gewählt hätte.

Schon allein die «neuen» Freunde von Russland zeigen, wie schlecht es um die Wirtschaft steht. Wer sich mit den Herrschern von Nordkorea, Iran oder Venezuela oder den Taliban umgibt, ist nicht nur in schlechter Gesellschaft, sondern auch in einer schlechten Position für die Zukunft.

Da hilft es auch nicht, dass man in Russland auf Rettung aus China setzt. Die Machthaber in Peking sind zwar gerne beim Säbelrasseln gegen den Westen dabei. Wenn es aber um die eigene Kasse geht, dann sind die Chinesen kühle Rechner. Aus Russland werden zwar gerne Rohstoffe zu vergünstigten Preisen gekauft. Doch dafür allzu offensichtlich die Sanktionen zu brechen, sind auch die chinesischen Unternehmen nicht bereit.

Der Abstieg ist ein Mahnmal

Und dennoch ist der langsame Abstieg der russischen Wirtschaft eine gute Nachricht. Hier kann man sehen, was passiert, wenn man sich vom Westen abkapselt und auf Kleptokratie und Staatswirtschaft setzt. Das Land befindet sich seit langem auf diesem Weg. Die Sanktionen und das Kriegsregime sind eine Verstärkung. Russland wird noch schneller zu einer Rohstoffwirtschaft – und diesmal mit einer geringeren Anzahl an Abnehmern.

Der langsame Abstieg Russlands ist ein Mahnmal an alle, die nicht glauben, dass Werte wie Freiheit, Wettbewerb, Rechtssicherheit und Marktwirtschaft mehr als bloss hohle Phrasen sind. Diese Errungenschaften haben unseren Wohlstand erst möglich gemacht. Planwirtschaft, Korruption und Günstlingswirtschaft bringen einem bloss Leid und Stagnation. Russland lernt das gerade auf die harte Tour.

Abschied von der NZZ

Christian Steiner (cts.) ist vor neun Jahren zur NZZ gestossen. Auf ein einjähriges Volontariat in der Wirtschaftsredaktion folgte die Festanstellung des HSG-Absolventen. Von 2014 bis Ende 2017 arbeitete er als Nachrichten- und Produktionsredaktor in der Wirtschaftsredaktion. Danach berichtete cts. als Wirtschaftskorrespondent aus Moskau mit treffenden Analysen und anschaulichen Reportagen über Russland, den Kaukasus und Zentralasien. Ab Mitte 2019 arbeitete er als Tagesleiter im Newsroom in Zürich. Nun zieht es cts. weg vom Journalismus in Richtung Bern. Per Anfang Oktober tritt Janique Weder seine Nachfolge an.

Die dunklen Wolken über Moskau stehen sinnbildlich für die Probleme der russischen Wirtschaft.

Die dunklen Wolken über Moskau stehen sinnbildlich für die Probleme der russischen Wirtschaft.

Alexander Semljanitschenko / AP
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Karl Lukas

"Planwirtschaft, Korruption und Günstlingswirtschaft bringen einem bloss Leid und Stagnation. Russland lernt das gerade auf die harte Tour." Russland lernt dies nicht zum ersten Mal auf die harte Tour. Der Lerneffekt scheint nicht sehr nachhaltig zu sein.

Rekholder Scholtinos

Ich finde diesen Artikel gut, aber er beschreibt in keiner Art und Weise, was da noch auf Russland zukommen wird. Auf der ganzen Welt fehlen Halbleiter, aber trotzdem gibt es sie. In Russland werden bald keine Flugzeuge mehr fliegen, immer weniger Aufzüge in höheren Gebäuden werden funktionieren, die gesamte Elektronik des Landes fällt sukzessive aus. Dies alles wirkt erst mit einiger Verspätung. Es wird ein Grounding ohne Vergleich. Westeuropa fällt vermutlich vorübergehend in eine Rezession, aber gleichzeitig beschleunigt sich der Wandel weg von den fossilen Brennstoffen.

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