Die ehemaligen Grünenpolitiker Ralf Fücks und Marieluise Beck sind der Ukraine über ihr Thinktank Liberale Moderne seit Jahren eng verbunden. Nun sind sie erneut nach Kiew gereist. Das deutsche Zögern gegenüber Waffenlieferungen sei den Menschen dort noch sehr präsent, berichtet Fücks. Die deutsche Politik wiederum sei zu stark von Furcht gegenüber Wladimir Putin geprägt – und der Westen müsse sich jetzt der Frage stellen: Will man der Ukraine zu einem militärischen Sieg verhelfen oder nicht? Wir erreichen Fücks auf der Rückfahrt im Zug von Kiew nach Lwiw, die Verbindung reißt immer wieder ab.

ZEIT ONLINE: Herr Fücks, Sie und Marieluise Beck waren jetzt mehrere Tage in der Ukraine – als erste Vertreter einer der deutschen Regierungsparteien. Wie ist man Ihnen dort begegnet?

Ralf Fücks: Wir kamen ja nicht als Unbekannte, wir haben seit Langem Partner und Freunde in der Ukraine und gute Kontakte in Politik und Zivilgesellschaft. Wir hatten kein offizielles Mandat, wir sind keine aktiven Politiker mehr. Aber natürlich wurde unser Besuch als Signal verstanden: Die Ukraine wird nicht vergessen. Und der Mitteilungsbedarf der Ukrainerinnen an die deutsche Politik ist riesig.

ZEIT ONLINE: Was haben sie Ihnen mit auf den Weg gegeben?

Fücks: Die zentrale Botschaft ist: Wir können diesen Krieg gewinnen, wenn ihr uns stärker unterstützt. Es ist nicht eure Entscheidung, ob wir weiterkämpfen oder nicht. Aber ihr könnt uns helfen, dass es nicht noch mehr Opfer gibt.

ZEIT ONLINE: Und wie?

Fücks: Es braucht jetzt schnellere, kontinuierliche Waffenlieferungen, auch Distanzwaffen, Luftabwehr und gepanzerte Fahrzeuge. Die bisherige Unterscheidung zwischen Defensivwaffen und Offensivwaffen ist komplett irreal. Es ist ja nicht zu befürchten, dass die Ukraine morgen Moskau angreift. Sie muss aber möglichst ebenbürtig ausgerüstet werden, um die Bevölkerung zu schützen und die russischen Truppen zurückzudrängen. 

ZEIT ONLINE: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat gerade bekannt gegeben, man werde der Ukraine Panzer liefern. Aber der Forderung nach Kampfflugzeugen kommt der Westen vorerst nicht nach.

Fücks: Da wird die Ukraine hartnäckig bleiben. Die Logik dahinter: Wenn ihr nicht bereit seid, eine Flugverbotszone mit der Nato durchzusetzen, müsst ihr uns zumindest in die Lage versetzen, die Dominanz der russischen Luftwaffe zu brechen.

ZEIT ONLINE: Die Panzer sollen erst in einigen Wochen lieferbereit sein. Auch die bisherigen Waffenlieferungen kamen nur zögerlich. Was haben Sie zur deutschen Hilfsbereitschaft bei Ihrem Besuch in Kiew gehört?

Fücks: Die Ukrainer erkennen durchaus an, dass sich die Bundesregierung in den letzten Wochen sehr bewegt hat. Aber in den ersten Tagen des Krieges war aus Deutschland noch zu hören: Ihr habt sowieso keine Chance, es hat keinen Sinn, euch Waffen zu liefern. Dazu der deutsche Widerstand gegen den Ausschluss russischer Banken vom Swift-Zahlungsverkehr. Der vorherrschende Eindruck ist: Von Deutschland kommt zu wenig, zu spät. Es scheint, dass es in Teilen der Koalition immer noch Vorbehalte gibt, eine andere Qualität von Waffen zu liefern, um den Krieg nicht zu eskalieren. Das geht zulasten der Ukraine.

ZEIT ONLINE: Aber hat man da nicht einen Punkt? Russland ist im Besitz von Atomwaffen und Putin hat mehrfach angedeutet, dass er sie auch einzusetzen bereit ist. Niemand kann wirklich einen Krieg zwischen Nato und Russland wollen.

Fücks: Ich bin überzeugt, dass man diese Gefahr nur abwenden kann, wenn man Russland mit entschlossener Stärke begegnet. Das Narrativ, dass Putin ein Wahnsinniger sei, der eher die Welt in Brand setzt, als zu verlieren, ist irreführend. Die russische Führung ist keine Bande von Selbstmordattentätern. Die Drohung mit einem Atomkrieg ist eine Waffe der psychologischen Kriegsführung. Das ist Teil der offiziellen russischen Militärdoktrin. Solange unsere Politik von Furcht geprägt ist, überlassen wir Putin die Entscheidung über eine Ausweitung des Krieges. Die Nato muss ihm klare Grenzen ziehen. Das nennt man Abschreckung.

ZEIT ONLINE: Aber wie?

Fücks: Wenn wir der Ukraine entscheidend helfen wollen, müssen wir dazu beitragen, dass sich die militärischen Kräfteverhältnisse wenden. Und wir müssen klare Forderungen an den Kreml stellen: eine sofortige Waffenruhe für Mariupol und humanitäre Fluchtkorridore, sonst kommen weitere, schärfere Sanktionen. Jede weitere Eskalation mit Massenvernichtungswaffen wird eine massive Antwort nach sich ziehen. Gleichzeitig muss der Westen klarmachen, dass die russischen Kriegsverbrechen juristisch verfolgt werden. Tempo und Entschlossenheit sind in der aktuellen Situation extrem wichtig. Wir lassen uns immer noch zu viel Zeit mit den notwendigen Entscheidungen.