Deutschstunde in der fünften Klasse einer Berliner Schule. Der zwölfjährige Tobias* soll in einem Text Satzglieder bunt markieren. Doch der kräftige Junge fängt an zu summen, wirft Stifte auf den Boden, springt immer wieder auf. Bevor er den Rest der Klasse anstecken kann, stellt sich die Klassenlehrerin Delaney Becker-Sell hinter ihn und legt ihm die Hand auf die Schulter, mit einem Finger streicht sie über den Nacken. Tobias hält inne und entspannt seine Schultern. Sein Atem wird ruhiger. Für eine Weile fährt die Lehrerin mit dem Kraulen fort, dann wendet sie sich anderen Schülern zu, während der Junge nun leise an seiner Aufgabe arbeitet.

Kaum zu glauben, sagt die Musiklehrerin, wie ihre Kollegin die schwierige Klasse in so kurzer Zeit in den Griff bekommen habe. Selbst die wildesten Rabauken würden in ihrer Obhut plötzlich zahm. Nach ihrem pädagogischen Erfolgsgeheimnis befragt, sagt Delaney Becker-Sell: "Die Kinder immer mal wieder anfassen." Sie hat an Berliner Schulen viel Erfahrung in sozialen Brennpunkten gesammelt und dabei gelernt, dass körperlicher Kontakt mitunter mehr hilft als tausend Worte. "Die meisten Kinder sind wie ausgedürstet, wenn es um Berührungen geht." Sie weiß, dass Körperkontakte zwischen Lehrern und Schülern ein heikles Thema sind: "Es geht hier um Berührungen an Schulter und Rücken oder auch Umarmungen. Man muss natürlich sehr darauf achten, ob ein Kind angefasst werden will. Männlichen Lehrern wird von jedem körperlichen Kontakt abgeraten. Ich halte das für einen Fehler."

Was die Berliner Lehrerin aus Erfahrung kennt, weiß der Psychologe Martin Grunwald aus jahrelanger Forschung. An der Universität Leipzig erkundet er mithilfe von Experimenten, wie taktile Reize auf den Menschen wirken. "Berührungen haben für Lebewesen einen Stellenwert wie die Luft zum Atmen", sagt Grunwald. "Unsere Kultur will das oft nicht wahrhaben, aber alle sozialen Berührungsreize lösen ganze Kaskaden biochemischer und neurophysiologischer Prozesse aus – und Menschen sind wie alle Säugetiere in ihrer Entwicklung von taktilen Reizen abhängig."

Inzwischen rücken die Sinne der Haut zunehmend in den Fokus von Psychologen und Medizinern. Dank neuer Methoden der Bildgebung und Biotechnologie können sie die Haut bis in kleinste Details erforschen. Ihnen offenbart sich ein von der Evolution perfektionierter Schutzmantel, eng verwoben mit Immunsystem, Nerven und Psyche, bei dem sich schon kleinste Fehlfunktionen gravierend auf das Wohlbefinden auswirken können. In der Haut treffen Innen- und Außenwelt aufeinander, an dieser Schnittstelle wird der Menschen seiner Existenz als körperliches Wesen gewahr.

Eine Reihe faszinierender Studien hat gezeigt, wie Berührungen und haptische Wahrnehmung unsere Stimmung und unser Denken beeinflussen. Eine Kellnerin wird eher Trinkgeld bekommen, wenn sie ihre Kunden einmal leicht berührt hat; Patienten, die vom Arzt berührt wurden, überschätzen die Zeit, die der Arzt ihnen gewidmet hat; Testpersonen, die sich berühren, kooperieren während eines Spiels mehr. Dennoch haben sich Sinnesforscher für den Tast- und Berührungssinn lange Zeit wenig interessiert, traditionell gilt er gegenüber Auge und Ohr als primitiv und weniger bedeutsam. Physiologisch ist er schwierig zu erforschen: Das Organ des menschlichen Tastsinns ist die gesamte, knapp zwei Quadratmeter große Haut, über die ein Geflecht aus vielen Millionen feiner Nerven und Rezeptoren verstreut ist. Das erscheint unübersichtlicher als ein Auge oder Ohr.

Dieser Text stammt aus dem Magazin ZEIT WISSEN Nr. 4/2015, das online oder am Kiosk erhältlich ist.

Dabei hat der Tastsinn eine existenzielle Bedeutung. "Wir kennen inzwischen über 500 verschiedene Mutationen, die Taubheit oder Schwerhörigkeit verursachen", sagt der Tastsinn-Forscher Gary Lewin vom Max-Delbrück-Zentrum in Berlin, "dagegen wird niemand ohne Tastsinn geboren." Ohne den Tastsinn, davon gehen die Wissenschaftler inzwischen aus, wäre ein Fötus schlicht nicht überlebensfähig.

Unsere Säugetierhaut hat sich über viele Millionen Jahre entwickelt. Einfache wirbellose Meerestiere wie Schwämme oder Quallen besitzen eine Hülle aus nur einer Zellschicht. Schon die zweischichtige Haut von Fischen ist von Nerven und Sinneszellen durchzogen und produziert schützenden Schleim. Doch erst als die Wirbeltiere das feste Land betraten, entstand eine dritte Hautschicht. Sie produzierte Keratin-Proteine und brachte schließlich das hervor, was die Anthropologin Nina Jablonski als den bedeutsamsten Schritt in der Evolution der Wirbeltierhaut bezeichnet: Das Stratum corneum, besser bekannt als Schuppen, Federn, Haare oder Hornhaut.

Durch ihre harten Hornplatten waren Reptilien nun hervorragend vor Verletzungen und Austrocknung geschützt. Die Keratinzellen der warmblütigen Säugetiere wiederum brachten das isolierende Haarkleid hervor und sind zudem von einer dünnen Hornschicht bedeckt – damit entstand die uns vertraute trockene und so wunderbar feinfühlige Oberfläche.