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Marina Weisband in Kiew "Viele sind frustriert von Europa"

Marina Weisband ist auf den Maidan zurückgekehrt. Im Interview berichtet die gebürtige Ukrainerin über die Stimmung in Kiew, Neonazis unter den Demonstranten - und von den Enttäuschungen der Aktivisten über die Europäer.
Weisband am Sonntag auf dem Maidan: "Stimmung kann jederzeit kippen"

Weisband am Sonntag auf dem Maidan: "Stimmung kann jederzeit kippen"

Foto: Marina Weisband/ CC by-sa 2.0

SPIEGEL ONLINE: Frau Weisband, am Donnerstag sagten Sie, es sei zu gefährlich, nach Kiew zurückzukehren. Jetzt erreichen wir Sie auf dem Maidan. Wie kommt's?

Weisband: Ich bin in den Flieger gestiegen, sobald klar war, dass der Maidan nicht aufgelöst wurde und dass es nicht zu Massenverhaftungen kommt. Die Regierung war so sehr in der Defensive, dass ich keine Angst mehr von ihr hatte.

SPIEGEL ONLINE: Was wollen Sie in Kiew?

Weisband: Es ist wichtig, jetzt hier zu sein. Ich kann dabei helfen, die Augen des Westens auf die Ukraine zu richten. Ich will nicht, dass das Land in dieser entscheidenden Phase alleingelassen wird und sich hier wieder jemand selbst ermächtigt.

SPIEGEL ONLINE: Wie war es für Sie als gebürtige Ukrainerin in einem veränderten Land anzukommen?

Weisband: Es war großartig. Auf dem Flughafen, im Taxi wird man begrüßt mit Sprüchen wie "Herzlichen Glückwunsch!" oder "Glückwunsch zur Revolution!" Ich bin in Kiew auf demselben Flughafen wie Julija Timoschenko gelandet, und dann direkt zum Maidan, um sie zu erwischen.

SPIEGEL ONLINE: Wie ist jetzt die Stimmung dort?

Weisband: Die Massen waren enorm, ein riesiges Gequetsche, die Leute waren aber sehr friedlich und konstruktiv. Es herrscht Feierstimmung, gleichzeitig ist man vorsichtig, dass niemand jetzt neue Eskalationen vorantreibt. Die Stimmung kann nach diesen schrecklichen Tagen jederzeit kippen. Aber man spürt die Zuversicht. An einer Barrikade habe ich zwei Maskierte in Tarnkleidung gefragt, wie es jetzt weitergeht. Die sagten: "Jetzt müssen wir aufräumen, die Barrikaden abtragen, und weiter Wache halten bis zu den Neuwahlen."

Zur Person
Foto: Sean Gallup/ Getty Images

Marina Weisband, 26, wurde als Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei bekannt und hat das Buch "Wir nennen es Politik" geschrieben. Sie ist in Kiew geboren.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie Timoschenkos Rede erlebt?

Weisband: Ich habe gar nicht so viel hören können, sie nur auf der Leinwand gesehen. Mein Eindruck ist: Ein Großteil der Bevölkerung steht hinter ihr, aber sie hat auch viele Gegner auf dem Maidan. Als nach ihr die Anführer der Gruppen auf dem Maidan geredet haben, waren die Leute viel enthusiastischer. Das Gefühl hier ist: Man möchte die eigene Macht, die man als Volk gewonnen hat, nicht wieder abgeben an einen Politiker, der sie absolutistisch missbraucht.

SPIEGEL ONLINE: Timoschenko scheint an die Macht zurückzuwollen.

Weisband: Ja, viele rechnen hier damit, dass sie Präsidentin wird. Das ist nicht die allerschlimmste Variante. Mein Favorit wäre allerdings: Vitali Klitschko als Präsident, auch wenn ich seine Zusammenarbeit mit der nationalistischen Swoboda-Partei ablehne.

SPIEGEL ONLINE: Vor ein paar Tagen sagten Sie noch, kaum jemand nehme Klitschko ernst.

Weisband: Er ist als Politiker nicht beliebt. Das hat sich bestätigt, als er ausgebuht wurde und den Maidan verlassen hat, weil er Janukowitsch die Hand geschüttelt hatte. Er ist auch nicht charismatisch. Trotzdem ist er für mich verlässlich, weil er die Ukraine nach Europa führen könnte, und das Amt des Präsidenten sollte ja eigentlich ein repräsentatives Amt sein.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, die Opposition kann sich einigen?

Weisband: Es wird schwer, eine richtige Demokratie zu bauen, die Ukrainer sind daran nicht gewöhnt. Aber der wichtigste Grundstein ist hier auf dem Maidan gelegt worden. Die Menschen wollen, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Und sie wollen nicht wieder umsonst gekämpft haben wie 2004.

SPIEGEL ONLINE: Wichtige Teile der Opposition sind alles andere als lupenreine Demokraten.

Weisband: Ja, es besteht die Gefahr, dass rechte Kräfte die Macht bekommen. Aber die meisten halten das für unwahrscheinlich. Sie sehen sie als wichtig im Kampf gegen Janukowitsch an, wollen ihnen aber nicht die Macht in Friedenszeiten geben. Und die Neonazis, von denen man so viel hört, sind ein verschwindend kleiner Teil. Ich habe sie auf dem Maidan so gut wie nicht gesehen. Heute werde ich viele Gespräche führen, um einen Eindruck zu gewinnen, wie Wahlen ausgehen könnten und wie viel Macht der Rechte Sektor (ein Zusammenschluss aus neofaschistischen und rechtsradikalen Gruppen - d. Red.) hier hat. Es ist immer noch etwas unübersichtlich.

SPIEGEL ONLINE: Es gab am Samstag gar Berichte, dass wegen der Neonazis ein Rabbi aus Kiew Juden aufgefordert habe, den Maidan zu verlassen. Dabei handelte es sich aber offenbar um einen Kreml-treuen Geistlichen.

Weisband: Ja, das war Kreml-gesteuerte Panikmache. Natürlich sind hier die Juden verunsichert, wie alle anderen Ukrainer auch. Aber ich habe heute noch mit einem Rabbi gesprochen, der ganz siegestrunken sagte, es sei sehr gut, was hier passiert. Seine Gemeinde sei fast komplett auf dem Maidan. Ich selbst fühle mich hier auch sicher.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es jetzt weiter?

Weisband: Wir müssen sicherstellen, dass der Westen nicht die Aufmerksamkeit verliert, jetzt wo kein Blut mehr fließt. Viele sind frustriert von Europa. Zwei Monate lang haben sie friedlich in der Kälte demonstriert, niemand hat sie beachtet. Man gewann den Eindruck: Erst wenn Blut fließt, übt Europa wahren Druck aus. Und jetzt heißt es gleich wieder, die Lage habe sich beruhigt. Dabei sind wir politisch gesehen gerade am empfindlichsten Punkt. Ich höre hier oft: Wir brauchen die Aufmerksamkeit Europas, auch wenn wir friedlich sind.