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Schiedsrichter-Pannen: Verpfiffen

Foto: Imago

Peinliche Schiedsrichter-Pannen Verpfiffen

Drin? Nicht drin! Oder doch drin? Im April 1994 erzielte Thomas Helmer das berühmteste Phantom-Tor der Bundesliga-Geschichte. Doch es geht noch schlimmer. einestages zeigt die peinlichsten Fehlpfiffe und schönsten Tore, die nie hätten fallen dürfen.

46.794 Tore sind in der Bundesliga seit ihrer Gründung gefallen. Spektakuläre Fallrückzieher, wuchtige Kopfbälle, fulminante Distanzschüsse, kuriose Eigentore oder schnöde Abstauber.

Und dann gibt es jene Treffer, die unvergesslich wurden, weil sie niemals hätten fallen dürfen, wie vor 20 Jahren im Münchner Olympiastadion.

Der 23. April 1994 ist ein sonniger Frühlingstag, die Stimmung auf den Rängen ist ausgelassen und gespannt, die Saison befindet sich in ihrer entscheidenden Phase. Der FC Bayern ist Tabellenführer und empfängt den Viertletzten 1. FC Nürnberg. Ein brisantes Bayern-Derby, denn an diesem drittletzten Spieltag geht es für beide Teams um besonders wichtige Punkte.

Slapstick an der Torlinie

Die Szene aus der 26. Spielminute, die später für so viel Wirbel sorgen wird, ist eigentlich ganz harmlos. Eher etwas zum Lachen, ein prima Stück für "Pleiten, Pech und Pannen": Beim Stand von 0:0 segelt ein Eckball von der rechten Seite in den Nürnberger Strafraum. Bayerns Oliver Kreuzer verlängert per Kopf direkt zu seinem ebenfalls aufgerückten Verteidiger-Kollegen Thomas Helmer, der am langen Pfosten lauert. Der ist sichtlich überrascht, dass er plötzlich völlig allein mit dem Ball zwischen den Beinen nur einen halben Meter vor dem Nürnberger Tor steht. Hektisch versucht er, den Ball irgendwie über die Linie zu bugsieren. Doch der Ball springt Helmer von der rechten an die linke Wade, dann gegen die Hacke und von dort ins Tor-Aus.

Ein reichlich ungelenkes Gestocher. Slapstick pur. Das Publikum stöhnt, und Helmer kann es nicht fassen. Er starrt, den Pfosten umklammernd, noch einen kurzen Moment ins Leere und hilft dann dem vor ihm ins Netz gepurzelten Nationalmannschafts-Kollegen Andreas Köpke auf die Beine. Der Nürnberger Torwart gibt ihm noch einen tröstenden Klaps mit auf den Weg, als plötzlich ein Raunen das Stadion erfüllt, das sich zum Torjubel steigert. Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers aus Bremen hat gepfiffen und deutet Richtung Anstoßpunkt. Seine Körpersprache ist eindeutig: Tor!

Wie kann das sein? Premiere-Kommentator Fritz von Thurn und Taxis brüllt ins Mikro: "Das ist eine furchtbare Fehlentscheidung!"

"Mach dir keine Sorgen. Der Ball war drin!"

Die Bayern drehen jubelnd ab, "Torschütze" Helmer nimmt Glückwünsche entgegen, während die Nürnberger zum Schiedsrichter rennen und ihn gesten- und wortreich bedrängen. Doch Osmers lässt sich nicht beirren. Zwar hat auch er gesehen, dass die Kugel neben dem Kasten ins Aus trudelte. Doch könnte der Ball nicht schon drin gewesen sein, als Helmer - praktisch auf der Torlinie stehend - mit ihm herum hampelte?

Gerade als diese Zweifel aufkommen, winkt Jörg Jablonski, Osmers' Assistent an der rechten Außenbahn, mit seiner Fahne. Er signalisiert Tor und macht sich auf den Weg zur Mittellinie. Wer sich Videos der Szene anschaut, kann in einer Einstellung erkennen, dass zahlreiche direkt hinter Jablonski auf der Tribüne sitzende Zuschauer jubelnd die Arme hochreißen. Auch sie sehen, wie der Ball vermeintlich über die Torlinie kullert. Dass dies allerdings außerhalb des Tores geschieht und der Ball danach noch gegen die seitlich postierte Werbebande rollt, nehmen sie genau wie der Linienrichter nicht mehr wahr.

Noch in der Halbzeitpause beruhigt Jablonski Osmers: "Mach dir keine Gedanken. Der Ball war eindeutig drin!" Doch als das Gespann von der Kabine wieder auf den Platz geht, sieht es auf einem TV-Monitor, was wirklich Sache ist: kein Tor! In der zweiten Spielhälfte erhöht zunächst Helmer auf 2:0 - diesmal regulär mit einem schönen Drehschuss von der Strafraumgrenze. Doch die Nürnberger kommen durch Alain Sutter wieder ran. Und kurz vor dem Abpfiff gibt es einen Strafstoß für die Gäste. Eine eindeutige Angelegenheit. Verursacher ist Helmer. Ausgerechnet.

Der Ohnmacht nahe

Nürnbergs Manfred Schwabl legt sich den Ball zurecht. Für Osmers ist der Elfer "ein Geschenk des Himmels". Der Schiedsrichter macht keinen Hehl daraus, dass er beim Schuss des Nürnbergers alles andere als unparteiisch dachte: "Ich habe inständig gehofft, dass er den Ball reinhaut." Bei einem 2:2 nämlich wäre das Phantom-Tor für die Franken sicher zu verkraften und ein Protest eher unwahrscheinlich gewesen. Doch Bayern-Keeper Raimond Aumann pariert den schwach und unplatziert geschossenen Elfer. Osmers ist "der Ohnmacht nahe".

Denn nun kommt eine Lawine ins Rollen. Für die Schiedsrichter beginnt ein wahrer Spießrutenlauf. "Es gab Morddrohungen", berichtet Osmers: "Bei uns zu Hause fuhr mehrmals täglich ein Streifenwagen vorbei." Der Schiedsrichter wird zum Medienstar wider Willen. Sein Wohnhaus wird von Journalisten belagert. Die ARD sendet einen "Brennpunkt" zum Thema, dazu gibt es eine Live-Schalte zu Sabine Christiansen in die "Tagesthemen". Es sind die immer gleichen Fragen zu der Szene aus der 26. Spielminute, auf die es keine neuen Antworten geben kann. "Hab' ich denn jemanden umgebracht?", empört sich Osmers.

Nur drei Tage nach dem falschen Pfiff entscheidet das DFB-Sportgericht in Frankfurt trotz heftigen Insistierens des Weltverbands Fifa zum ersten und bis heute einzigen Mal, dass ein Bundesliga-Spiel wegen einer falschen Tatsachenentscheidung wiederholt werden muss. So treffen der FC Bayern und der 1. FC Nürnberg am 3. Mai erneut im Olympiastadion aufeinander. Diesmal gewinnen die Münchner klar mit 5:0 und feiern weitere vier Tage später die deutsche Meisterschaft - mit einem Punkt und drei Toren Vorsprung vor Kaiserslautern. Nürnberg hingegen steigt aufgrund des schlechteren Torverhältnisses gegenüber Freiburg ab. Ohne das Phantom-Tor hätte die Saison womöglich ganz anders ausgehen können.

Häme, jedes Wochenende

Auch für die Hauptbeteiligten war nichts mehr wie zuvor. Thomas Helmer, der zur Aufklärung des Sachverhalts nichts beigetragen hatte, arbeitet heute als Sportjournalist fürs Fernsehen. Zu seinem legendären Treffer möchte er sich heute nicht mehr äußern. "Es ist alles gesagt." Er, der mehrfach Deutscher Meister und Pokalsieger war, den Uefa-Pokal gewann, im Champions-League-Finale stand und mit der DFB-Auswahl den EM-Titel holte, ergänzt dann aber doch noch: "Bei allem, was ich in meinen 17 Profijahren geleistet habe, ist es sehr bitter, dass ich oft auf dieses Tor begrenzt werde."

Für Jörg Jablonski markiert die Fehlentscheidung vom 23. April 1994 das Ende seiner Schiedsrichter-Laufbahn. Er steht zwar in der nachfolgenden Zweitliga-Saison noch einige Male an der Linie, doch seine Einsätze als Hauptschiedsrichter in der Dritten Liga rauben ihm den letzten Nerv, so dass er bald aufhört. "Die Zuschauer haben mich zermürbt: Jede meiner Entscheidungen wurde lautstark kommentiert und oft in Zweifel gezogen. Das wollte ich mir nicht mehr antun."

Sein Kollege Hans-Joachim Osmers dagegen leitete nach dem Wirbel von München weiter wie vorgesehen bis zum Erreichen der Altersgrenze im Jahr 1995 Bundesliga-Spiele. Er hat gelernt, mit seinem Fehler zu leben. Der Groß- und Außenhandelskaufmann, der lange für eine große Sportvermarktungsagentur tätig war, musste bei Geschäftsterminen zwar zahlreiche Frotzeleien über sich ergehen lassen. Doch er fand einen ganz eigenen, selbstironischen Weg, damit umzugehen. Bis er in den Ruhestand ging, hing in seinem Büro hinter seinem Schreibtisch ein Foto des Phantomtors - im XXL-Format.

Tore per Hand, drei Gelbe Karten für einen Spieler und eine Halbzeit, die nur 32 Minuten dauerte: Küren Sie in der großen einestages-Fotogalerie Ihre persönliche Lieblings-Panne oder wählen Sie das schlimmste Tor, das keines war.