Gegen die Diktatur der Best-Ager

Vom echten Leben im falschen: Katja Kullmann erhebt ihre Stimme gegen junge Alte und alte Junge

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Wenn Historiker dereinst den sich gerade ereignenden Untergang des Westens beschreiben werden, werden sie nicht nur von den ziellosen Kriegen der Amerikaner erzählen und ihrer Unfähigkeit, diese wenigstens zu gewinnen. Sie werden nicht nur den Gesundheitsfetischismus der Oberschichten beschreiben, den Atomausstieg und die Wendung in die Innerlichkeit, die diese Oberschichten zunehmend lähmt.

Und sie werden auch nicht allein die verwehten Spuren der Europäer in Afrika rekonstruieren, bevor die Chinesen die Afrikaner einfach cleverer ausbeuteten. Sondern sie werden auch davon erzählen, wie im Westen plötzlich Bildung immer unwichtiger wurde, immer weniger zählte, und die Menschen, je ungebildeter sie waren, um so mächtiger wurden.

Davon - von der Auflösung des einst selbstverständlichen Zusammengangs zwischen Bildung und Geld, also Macht, handelt Katja Kullmanns Buch Echtleben, um das sich jetzt ein paar merkwürdige, aber vielsagende Debatten entzünden.

Unterversichert

"Wenn Du willst Speck, Du musst schlachten Schwein." Manche Zusammenhänge sind einfach, und sie werden auch nicht komplizierter, wenn man sie ignoriert. Dass alle Wechsel, die man ausstellt, einmal eingelöst werden müssen, das ist auch so eine Wahrheit, die so einfach ist wie unbequem.

In den letzten zehn Jahren, und dazu muss man gar nicht einmal die sogenannte "Finanzkrise" bemühen, werden allerlei Wechsel eingelöst und weitere uneingelöste Wechsel ausgestellt. Das Ergebnis ist nicht sehr schmeichelhaft für den Westen.

Wir kennen sie alle, aus den Cafés in Berlin, Hamburg und München, vor allem aber Berlin: Am späten Vormittag beim Frühstück oder am frühen Abend bei der Arbeit. Ihr Werkzeug ist der Laptop, ihre Dienstkleidung T-Shirt, Jeans und modische Turnschuhe, ihr Arbeitsplatz die Küche zuhause oder eine Bar mit W-Lan-Anschluss und nicht zu lauter Musik. Sie sind jung, kommen finanziell gerade so über die Runden, eine Festanstellung liegt in weiter Ferne, sie sind unterversichert und ihre Zukunft ist generell unklar. So kann man es sehen. Und so sieht es Katja Kullmann.

Konstante Selbstoptimierung ist Bürgerpflicht

Katja Kullmann schreibt über Innenansichten. Sie schreibt, was mit den Jungen passiert, in einer Welt, in der die Alten jene Rente kassieren, die die Jungen nie bekommen werden, aber trotzdem weiterarbeiten, weil sie sich ja jetzt "best ager" nennen, und weil sie von der hervorragenden Gesundheitsversorgung, in die die Jungen einzahlen, so gut leben, dass sie als 90 Jahre alt werden.

Kullmann schreibt, wie die vielgelobte und von allen propagierte Flexibilisierung zu einer permanenten Vorläufigkeit wird, sie schreibt, wie nominelle Freiheit de facto mehr Zwang bedeutet, wie das, was einst als Lebenskunst gedacht war, längst zur Überlebenskunst verkommen ist:

Die eigene Biographie: ein knallhartes Geschäft. Der eigene Standort: anhaltend unbestimmt. ... Konstante Selbsterfindung, -optimierung und -überarbeitung ist kein freiwilliges Vergnügen für Wagemutige mehr, sondern Staatsbürgerpflicht.

Das Leiden der Anderen

Das aber will die Gesellschaft, um die es geht, nicht gern hören. Der einzige lobende Text, der über Kullmanns-Buch bislang erschien, wurde gleich doppelt auseinandergenommen. Nils Minkmar schrieb in der FAS über "die Ausrichtung der Wirtschaft auf den Export und die Niedrighaltung der Löhne, die Vernachlässigung der Binnenkonjunktur" und erwähnte, dass hier "rein politische Entscheidungen, die sich bis in die Personalabteilungen der Medienkonzerne auswirken".

Daraufhin traf ihn die zweifelhafte Ehre eines Leserbriefes der ausgerechnet von "Dr. Thilo Sarrazin, Berlin" verfasst war:

In diesem Weltbild wird unterstellt, das System enthalte den tüchtigen Germanisten und Historikern, den Politologen und Soziologen, den Schriftstellern und Journalisten quasi willkürlich den gerechten Lohn für die Arbeit ihrer kreativen Köpfe vor, und es sei empörend, dass der Realschulabschluss eines Provinzlers sich mitunter besser auszahlt als das Studium eines Geisteswissenschaftlers. Rührend naiv mutet die Klage an ...

Wäre ich als Abiturient 1965 meinen damaligen Neigungen gefolgt, wäre ich Fotograf geworden oder hätte Geschichte und Germanistik studiert. Ich wollte aber weder Lehrer werden noch als Hungerleider in einer Provinzredaktion enden, und darum wählte ich einen Brotberuf. Wer mit wachen Augen in die Welt schaut, weiß auch schon als Abiturient, dass das Geld dort verdient wird, wo kaufkräftige Nachfrage auf ein knappes Angebot stößt.

Thema erledigt.

In der SZ wiederum hielt es der neoliberale Jan Füchtjohann, für originell, zu fragen:

Sind Kullmann und ihre Bekannten auch ein bisschen selber Schuld? Na klar. Niemand hat ihre arbeitslose Freundin gezwungen, den befristeten Vertrag sausen zu lassen, niemand die Modeschuldnerin, sich sündhaft teure Schuhe zu kaufen. Und warum macht die 'Natur-Designerin' nicht einfach einen Job, den es wirklich gibt?

Wie zum Beispiel der SZ-Rezensent. Der verteidigt, nachdem er früher schon als Gentrifizierungsversteher auffiel, nun "die Ulf Poschardts, Jan Fleischhauers und wie sie alle heißen, die Leuten wie ihr und ihren Freunden den Vorwurf der 'Entscheidungsunwilligkeit' und der 'Warteschleifenexistenz' machen."

Und weiter: So entstand ein visionäres Unternehmertum mit unerschütterlichen Fünf-Jahres-Plänen, die direkt ins Reich der Freiheit führen sollten. Oder anders gesagt: Es entstand das neue Berlin.

Da ist es heraus. Der Münchner Rezensent würde gern in Berlin wohnen und ist neidisch auf die, die es tun. Darüber sollen sie nicht mehr jammern. Nur er darf jammern über "die Beschwerde einer Bohème, die am Ende eben doch nicht alles haben konnte: Das freie Leben von Künstlern, die Gewinnmöglichkeiten von Unternehmern und die Sicherheit von Postbeamten." Dabei geht es ja Kullmann eigentlich darum, dass der Realschulabschluss sich heute mehr lohnt als Abitur und Hochschulabschluss.

"Die Richtung stimmt schon"

Man kann alles natürlich auch einmal ganz anders betrachten: Dann handelt es sich nicht mehr um die Pop- und Akademiker-Version der Unterschicht, sondern um die Avantgarde einer neuen Lebensform: freie, glückliche Menschen zwischen 25 und 40, die keinen Chef haben, der sie knechtet und sich keine Depressionen einreden lassen vom dauernden deutschen Krisengerede. Alles nur eine Frage der Betrachtungsweise? Oder gibt es tatsächlich einen neuen Trend, die neue Klasse der "Digitalen Bohème"?

"Das sind Menschen, die mithilfe des Internet so leben und vor allem so arbeiten, wie sie Lust haben", behaupten Holm Friebe, studierter Volkswirt, und Sascha Lobo, gelernter Werbetexter. In ihrem fünf Jahre alten Buch "Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung." verknüpfen die beiden Autoren, die unter anderem in Berlin die "Zentrale Intelligenzagentur" betreiben, eine Art Büro für Trendforschung und Zeitdiagnose, die Beobachtungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Gegenwart des Post-New-Economy-Boom mit soziologischen Befunden und viel Kenntnis der Möglichkeiten, die durch Internet und Digitalisierung geschaffen wurden.

Das Ergebnis: Es gibt eine gar nicht einmal kleine neue gesellschaftliche Gruppe, die aufs Angestelltendasein pfeift und ebenso nonkonformistisch, wie selbstständig aus dem, was sie sowieso gerne tun, einen Beruf macht. Diese "digitale Bohème" habe den eigentlich bedrohlichen Arbeitsplatzkiller Nummer eins, die Digitalisierung "soweit umarmt, dass sich daraus ein bisschen Geld verdienen lässt. Noch nicht viel, aber die Richtung stimmt schon."

Es seien längst nicht nur Webdesigner und Techniker, sondern Menschen, die sich über das Internet einen weltweiten Markt und über Blogs ein Publikum erschließen, um ihre Kreationen zu vertreiben. Zumindest mittelfristig lasse sich dies auch in bare Einkommen ummünzen.

Freiflottierendes Unbehagen

Natürlich steckt hinter der schmissigen Titelthese auch eine gehörige Portion Marketing und wohl auch viel Selbstbeschreibung der Autoren, doch enthält das Buch mehr als nur ein paar flott geschriebene Gedanken vom Stammtisch arbeitsloser Akademiker. Erster Befund: Selbstständigkeit ist kein Umweg zum eigentlichen Berufsziel, endlich irgendwo angestellt zu werden, und kein Privileg einiger Ärzte, Rechtsanwälte und anderer Hochgebildeter, sondern eine Chance und "echte Alternative für eine breite Masse von Menschen."

Aber nur knapp zehn Prozent aller Arbeitenden in Deutschland sind selbstständig. Diesen Kult der Angestelltenexistenz kontern die Autoren mit einem zweiten Befund: Angestellten geht es auch nicht besser. Heute, wo die alten Institutionen des Staates, des "rheinischen Kapitalismus" der alten Bundesrepublik und der traditionellen Familie im Sturm von Globalisierung und Individiualisierung aller Lebensverhältnisse erodieren, lebt man als Angestellter genauso unsicher, aber weniger glücklich als im Modus "Selbstständiger". Das vielleicht etwas höhere Gehalt, so die Autoren, sei allenfalls ein "Schmerzensgeld" für das "freiflottierende Unbehagen" und wunschlose Unglück im Angestelltenalltag, "eine Unsicherheit, die als Alternativlosigkeit daherkommt."

Dritter Befund: Wo rechtskonservative Soziologen wie der Berliner Paul Nolte gegen "Hedonismus" wettern und das Hohelied einer neuen Bürgerlichkeit singen, die Gesellschaft mit traditionellen Werten und neuer Strenge disziplinieren wollen, ist das Gegenteil richtig. Dies würde nur "Alternativen ausblenden". Weil Kompromisse und Anpassung an soziale Zwänge erwiesenermaßen weder Arbeitsplätze schaffen, noch Kreativität freisetzen, verteidigen Friebe/Lobo das Arbeiten nach dem Lustprinzip: Der Digitalen Bohème geht es "darum, nicht nur so zu leben, wie man will, sondern auch so zu arbeiten, wie man will, und dabei keine Kompromisse einzugehen, und dabei keinen Aufschub zu dulden."

Als Hohelied auf Neoliberalismus und Abbau sozialer Sicherheiten möchten die Autoren ihre Thesen allerdings nicht verstanden wissen. "Wir zahlen gern 50 Prozent Steuern", sie wollen, dass ein starker Staat "seine Rolle wahrnimmt." Ihr Buch soll dagegen zeigen, dass es Berufsalternativen "jenseits von Prekariat und Einzelkämpfertum" gibt.

Im Kontext eines zutiefst miesepetrigen Deutschland besticht diese Botschaft durch Frische und Optimismus, mit dem die Autoren die Perspektiven umdrehen und Bekanntes mit neuen Augen betrachten. Das hat aber auch einiges vom Pfeifen im Wald. Aber immerhin eignet sich ihr Buch ganz gut noch für etwas anderes:

Man kann es seinen Eltern schenken, wenn die schon immer mal kapieren wollen, was man da eigentlich den ganzen Tag macht. Man nennt es Arbeit.

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