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Schwarze Witwen "Menschen töten ist wie Vögel abschießen"

Sie sind Allahs mörderische Amazonen, sind Racheengel oder Rebellin, rechtgläubige Witwe oder betäubte Braut. In keinem Land der Erde haben Kamikaze-Frauen so gewütet wie in Russland. Doch was treibt tschetschenische Frauen dazu, sich selbst und Hunderte unschuldiger Opfer in die Luft zu sprengen?


(Aus dem SPIEGEL-ONLINE-Archiv: Artikel vom 07.03.2005)


Im Juli 2001 wird Aisa Gasujewa in die Militärkommandantur von Ursus Martan, südwestlich von Grozny, bestellt. Sie hofft, ihren Mann Alichan mit nach Hause nehmen zu können, der während einer Säuberungsaktion russischer Soldaten festgenommen wurde. Bezirkskommandant Geidar Gadschijew empfängt die junge Tschetschenin. Neben ihm steht Alichan, von zahlreichen Misshandlungen entstellt und kaum noch bei Bewusstsein. Aisa fleht um die Freilassung ihres Mannes, doch Gadschijew klärt den Fall auf seine Weise: Er schlitzt dem Gefangenen den Bauch auf, packt Aisa bei den Haaren und stößt ihren Kopf in dessen Eingeweide. Alichan stirbt vor den Augen seiner Frau.

Unter Berufung auf eine Quelle im Innenministerium der tschetschenischen Republik hat die Moskauer Journalistin Julia Jusik diese grausige Episode in ihrem Buch "Die Bräute Allahs" wiedergegeben. Akribisch hat die 23-Jährige das Leben von mehr als zwei Dutzend tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen rekonstruiert. Aisa Gasujewa war eine der ersten so genannten schwarzen Witwen. Vier Monate nach dem Mord an ihrem Mann nahm sie Rache: Am 29. November stürzte sich die mit Sprengstoff beladene Frau auf Geidar Gadschijew. Bei der anschließenden Explosion kamen mehrere Wachleute ums Leben, der gehasste Kommandant starb zwei Tage später im Krankenhaus. Von Aisa blieben nur der Kopf, eine Schulter und ein Finger - "fünf bis sechs Kilogramm", zitiert Jusik den Vater der Attentäterin.

Gerechte Strafe für den Peiniger?

"Das Schicksal von Aisa Gasujewa hat uns alle sehr bewegt", berichtet die tschetschenische Menschenrechtlerin Libkan Bassajewa, zurzeit selbst akut von Verhaftung bedroht und auf Einladung des Vereins für politisch Verfolgte in Hamburg. Sie habe niemanden gekannt, der nicht mit Aisa gefühlt hätte, denn Geidar Gadschijew sei bekannt gewesen für seinen extrem brutalen Umgang mit Gefangenen: "Augenzeugen haben mir erzählt, dass er die Männer eigenhändig verprügelte oder erschoss, weil es ihm offenbar Freude bereitete", so Bassajewa. Viele Bewohner der Hauptstadt hätten den Anschlag als gerechte Strafe betrachtet. Den Berichten zufolge soll Aisa die Kleinhändlerinnen auf dem Platz vor der Kommandatur gewarnt haben: "Bitte geht weg von hier. Heute werde ich ihn (Gadschijew) nicht einfach ziehen lassen."

Die blutige Spur der Selbstmordkommandos

In den vergangenen vier Jahren wurden etwa 25 größere Selbstmordattentate von Tschetschenen verübt - mehr als die Hälfte davon ging auf das Konto von Frauen. Schamil Bassajews Rebellen und die rechtgläubigen Witwen, "Bojewiki" und "Schachidki", sind die Arbeiter und Bäuerinnen des tschetschenischen Terrorismus. Hunderte von Menschen kamen bei den Anschlägen ums Leben, ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht.

Der große Bluff

Was treibt in der Mehrzahl gläubige, muslimische Frauen wie Aisa dazu, sich selbst und andere hinzuschlachten - obwohl gewöhnlichen Selbstmördern dem Koran zufolge das Tor zum Paradies verschlossen bleibt? Sind sie moderne Vollstreckerinnen der traditionellen Blutrache, die neben der islamischen Scharia noch immer eine wesentliche Rolle in der von Sippenstrukturen geprägten Republik spielt? Autorin Jusik hat ein Jahr lang Tschetschenien bereist und Verwandte der Attentäterinnen sowie Mitarbeiter der Geheimdienste befragt. Sie behauptet: "Von zehn Schahidinnen handelt nur eine aus Überzeugung, will um jeden Preis Rache üben und dafür sterben."

Die übrigen neun werden Jusik zufolge nach allen Regeln der Kunst hereingelegt. Ob skrupellose Geschäftemacher oder gläubige Wahhabiten, separatistische Rebellen oder die eigenen Väter, Brüder und Ehemänner - fast immer sind es Männer, die junge Frauen oder Witwen für die tödlichen Einsätze rekrutieren. Weil die zukünftigen Attentäterinnen häufig mit ihren Anwerbern verwandt oder emotional verstrickt sind, ziehen sie es in der Regel noch nicht einmal in Erwägung, sich zu verweigern - und das, obwohl auch das mündlich überlieferte kaukasische Sittengesetz, das "Adat", eine Rolle der Frau als Dschihad-Kämpferin oder Racheausübende nicht vorsieht.

Fotostrecke

Tschetschenien: Die blutige Spur der Schwarzen Witwen

Foto: DPA

Manche "Bräute Allahs" werden zwangsverheiratet oder gekidnappt, aus ihrem vertrauten Umfeld gerissen und komplett isoliert. Im Vakuum von Einsamkeit und religiöser Indoktrination werden die Frauen dann auf ihre Aufgabe vorbereitet. Dabei kommen offenbar auch Drogen zum Einsatz. Laut Jusik behaupten Vertreter der russischen Geheimdienste, dass fast alle Selbstmordattentäterinnen mit Rauschmitteln voll gepumpt werden. Rückstände von Psychopharmaka seien unter anderem in den Überresten der beiden Frauen gefunden worden, die sich im Juli 2003 während eines Rockkonzertes im Moskauer Stadtteil Tuschino in die Luft sprengten. Auch bei zahlreichen Terroristinnen, die Anschläge auf russische Militärposten und Polizeireviere in Tschetschenien verübt hatten, habe man Drogen nachweisen können. Als sicher gilt, dass während lang andauernder Geiselnahmen wie im Moskauer Musical-Theater oder der Schule in Beslan die Attentäter auf Grund von Schlafentzug Aufputschmittel nehmen, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.

"Überhaupt nicht verzweifelt"

Die inzwischen fast vollständig auf Regierungskurs gebrachten russischen Medien schließen sich mehrheitlich der Theorie der instrumentalisierten schwarzen Witwen an. "Schahidinnen - das sind vor allem Selbstmörderinnen", heißt es in einer Analyse der Agentur für politische Nachrichten (APN). Deshalb sei ihre Vorbereitung nichts weiter als "eine Hinführung zum Selbstmord, die auf Überredungskunst basiert und technisch umgesetzt wird", so die lakonische Erklärung. Jene schwarzen Witwen, die vor der Ausübung eines Anschlages gefasst werden konnten, machten überhaupt keinen heldenhaften Eindruck: "In der Regel scharwenzeln sie herum, winden sich und versuchen, sich auf irgendeine Art zu retten. Vor Gericht hoffen sie auf Gnade und eine herabgesetzte Haftstrafe. Sie sind überhaupt nicht verzweifelt."

Uwe Halbach, Kaukasus-Experte der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin, bestätigt, dass Attentäterinnen instrumentalisiert und von Dschihad-Aktivisten rekrutiert würden. Die Mehrheit der Frauen handle allerdings aus persönlichen Motiven heraus - in Reaktion auf eigene leidvolle Erfahrungen mit der Gewalt der Anti-Terror-Operationen. Außerdem gelte: "Weil so viele Männer im Laufe der Kriege ums Leben gekommen oder verschwunden sind, schlüpfen die Frauen zusehends in männliche Rollen und übernehmen dabei auch die Verpflichtung zur Rache." Letzteres bestätigt auch Journalistin Jusik: "Das Leben einer Frau hat in der tschetschenischen Gesellschaft keinen besonderen Wert. Ein Jahrzehnt der Kriege hat den Frauen jedoch eine aktivere Rolle zugewiesen. Nachdem sie ohne Väter, Brüder und Söhne zurückgeblieben waren, fingen sie an sich in gesellschaftspolitische Prozesse einzumischen. Die Frauen beteiligten sich an Spezial-Operationen und entwickelten dabei so etwas wie ein Selbstbewusstsein."

Ferngesteuert ins Paradies

Trotz dieses neu entdeckten Selbstbewusstseins ändern einige Selbstmordattentäterinnen in letzter Sekunde ihre Meinung und wollen weder sich selbst noch jemand anders in die Luft sprengen. Dann werden sie laut Jusik nicht selten von ihren Trainern "ferngezündet", wie im Fall der 16-jährigen Sarema Inarkajewa. Das Mädchen sollte im Februar 2002 im Polizeirevier des Bezirks Staropromyslowki einen Sprengsatz aus sieben Kilogramm TNT zünden. Anstatt wie verabredet die Tasche mit der versteckten Bombe ins Zimmer des potenziellen Opfers zu tragen, setzte sie den Sprengsatz vorher ab. Ein Rebell, der die Aktion vom Auto aus überwachte, zündete die Bombe per Fernbedienung. Sarema, vollgestopft mit "irgendwelchen Tabletten, von denen man ganz ruhig wurde", überlebte und wurde zunächst dem Schutz des Innenministeriums unterstellt. Sie berichtete später von ihrer Entführung, nachfolgenden Vergewaltigungen und wie sie auf das Attentat vorbereitet wurde.

Eine weitere traurige Erkenntniss von Jusik: Häufig verkaufen die Eltern ihre Töchter für fünfstellige Dollarsummen und verschwinden nach dem Anschlag - und dem Tod ihres Kindes - ins Ausland. In einer erz-patriarchalischen Gesellschaft wie der tschetschenischen ist der Begriff Schande ein Fallbeil. Sex vor der Ehe - sei es auch mit dem zukünftigen Mann - ist für Musliminnen eine schwere Sünde. Selbst vergewaltigte Frauen werden von ihren Familien verstoßen, weil man sie nicht mehr verheiraten kann. Die Macht der Brüder ist groß, fast jede Frau auf die eine oder andere Weise erpressbar.

Die Zahl der geschändeten Frauen in Tschetschenien kann nur geschätzt werden, denn in den seltensten Fällen berichten die Betroffenen von dem Missbrauch. Vertreter des Europarates und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch bezeichnen die Situation in Tschetschenien als katastrophal. Neben ungezählten Vergewaltigungen gehören Mord, Folter, Geiselnahmen und das Verschwinden von Menschen zu alltäglichen Gewaltexzessen, die sowohl von den russischen Truppen als auch tschetschenischen Rebellen begangen werden.

Kaukasus-Experte Halbach erklärt: "Die Ordnungsmacht, die angetreten ist, in einem stark von Gewalt und Kriminalität geprägten Landesteil Russland Ordnung zu schaffen, ist selbst zu einem erheblichen Element der Unordnung geworden und hat sich verstrickt in Kriminalität, Korruption und Gewalt gegen Zivlisten." Es ist kein Geheimnis, dass russische Truppenangehörige an den zahlreichen Kontrollposten regelmäßig ihr Gehalt mit Bestechungsgeldern jeder Art aufbessern. Täglich kaufen Tschetschenen inhaftierte Familienangehörige aus den Gefängnissen frei. Selbst getötete Rebellen werden post mortem zum Handelsobjekt: Russische Soldaten verkaufen die Leichen an die Familien, damit diese sie standesgemäßes begraben können.

Lesen Sie im zweiten Teil: Die Attentäterin von Beslan: "Ihr habt mich betrogen"

"Wie einen Vogel abzuschießen"

Etwa 80.000 Soldaten schickte Russland in den vergangenen zehn Jahren nach Tschetschenien. 200.000 Zivilisten kamen bei den blutigen Auseinandersetzungen ums Leben - unter ihnen Zehntausende Kinder. Menschenrechtlerin Libkan Bassajewa ist sich sicher: "Frauen werden eben dort zu Selbstmordattentäterinnen, wo das Niveau an alltäglicher Gewalt extrem hoch ist und die Grausamkeiten sehr lange andauern." Jeden Tag würden die Leute beobachten, wie Menschen getötet oder gekidnappt werden und für immer verschwinden. "Einen Menschen umzubringen ist inzwischen so normal geworden, wie einen Vogel abzuschießen. Weil jeder permanent in einem Ausnahmezustand von Tod und Verlust, Elend und Angst lebt, folgt irgendwann der psychische Zusammenbruch und dann überschreiten solche Frauen die Grenze zu Selbstmord und Mord. Nicht im Namen irgendeiner Freiheit oder einem irdischen Ziel - sie gehen in den Tod weil sie das Leben nicht mehr ertragen."

Angebot und Nachfrage

Das Phänomen Selbstmordattentäterinnen existiere, "weil russische und auch tschetschenische Kriegstreiber das Blutvergießen nicht stoppen wollen, denn daran verdient es sich trefflich. Weil arabische Fundamentalisten einen neuen Nährboden für ihre mörderischen Lehren gefunden haben", schreibt Rundfunk-Journalistin Sabine Adler im Nachwort ihres gerade erschienenen Buchs "Ich sollte als schwarze Witwe sterben".

Die langen Vorbereitungszeiten der Anschläge und der hohe Organisationsgrad der Gruppierungen sind vor allem aus Regierungssicht ein Zeichen dafür, dass der islamistische Extremismus in Tschetschenien teilweise ausländischer Herkunft ist. Uwe Halbach befürchtet, dass der Konflikt "dschihadisiert" wird. Die Kampfideologie im Untergrund trage zunehmend islamistische Züge: "Europa muss begreifen, dass es sich bei Tschetschenien nicht um einen eingekapselten Konflikt handelt, sondern um einen Krieg, dessen Folgen über die Kriegszone hinaus wirken." Russland habe zudem mit seinen Anti-Terror-Operationen seit 1999 ein Paradebeispiel dafür gesetzt, wie der Kampf gegen den Terror nicht auszusehen habe.

"Die größte Gefahr ist, dass jede beliebige Frau von der Polizei zur Schahidin und damit zur potenziellen Mörderin erklärt werden kann", betont Menschenrechtlerin Bassajewa und beruft sich auf den Fall der 21-jährigen Sara Murtasalijewa, die am 17. Januar zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Der Tschetschenin wurde angelastet, ein Bombenattentat in einem Moskauer Einkaufszentrum geplant zu haben. Außer dem Foto einer Rolltreppe der Shopping-Mall habe man Sprengstoff bei der Angeklagten gefunden, behaupteten die Behörden.

"Man wollte an ihr ein Exempel statuieren", widerspricht Bassajewa, die den Aussagen Murtasalijewas glaubt. Demnach habe man der jungen Frau während des Verhörs auf der Polizeiwache in Moskau heimlich ein Stück Plastiksprengstoff in die Handtasche gelegt und sie vor Verlassen der Wache noch einmal durchsucht. Zwei Freundinnen Murtasalijewas seien von den Polizisten gezwungen worden, den Sprengstoffbesitz zu bestätigen. Zwar hätten die Frauen später vor Gericht ihre Falschaussage widerrufen, Sara sei jedoch trotzdem verurteilt worden.

Funktion erfüllt?

Journalistin Julia Jusik wagt einen Ausblick in die Zukunft: "Ich glaube, die Terror-Strategen werden eine neue Form von Anschlägen wählen. Die Frauen habe ihre Funktion bereits erfüllt." Weibliche Dschihad-Kämpfer würden in Zukunft seltener bei Terrorakten eingesetzt. Grund sei die Katastrophe von Beslan, bei der die Geiselnehmer ihre Ziele nicht erreicht hätten: "Nordossetiens Präsident Alexander Dsassochow sitzt noch immer in seinem Sessel, die Beliebtheit Putins sank nur für kurze Zeit, einen Krieg zwischen Ossetien und Inguschien hat es nicht gegeben und die russische Gesellschaft hat erschüttert auf den Tod Hunderter Kinder reagiert."

Beslan habe gezeigt, dass Frauen in der Regel keine entscheidende Rolle bei Terroranschlägen spielen. Im Gegenteil: "Die weibliche Psyche hat es nicht vermocht, den Mord an Kindern hinzunehmen - bereits am ersten Tag wurde eine der beiden Schahidinnen vor Ort von Rebellen in die Luft gejagt, weil sie erkannt hatte, dass sie mit falschen Versprechungen zu dem Kommando abberufen worden war. Bevor sie starb schrie sie: 'Ihr habt mich betrogen.'"