Russland ist ein Muss für global tätige Unternehmen

W er zurzeit die Berichterstattung über Russland verfolgt, wird beinahe täglich mit Nachrichten über ein angeblich instabiles Umfeld, neue Formen von Staatskapitalismus oder wachsende Rechtsunsicherheit konfrontiert. Auf diese Weise entsteht ein einseitiges Russlandbild, das sich noch immer vorwiegend aus Klischees

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W er zurzeit die Berichterstattung über Russland verfolgt, wird beinahe täglich mit Nachrichten über ein angeblich instabiles Umfeld, neue Formen von Staatskapitalismus oder wachsende Rechtsunsicherheit konfrontiert. Auf diese Weise entsteht ein einseitiges Russlandbild, das sich noch immer vorwiegend aus Klischees speist. Positive Entwicklungen finden kaum Eingang in das öffentliche Bewusstsein.

Das ist bedauerlich; denn wer sich unvoreingenommen über Russland informiert, kann die Erfolge der vergangenen Jahre gar nicht übersehen. Schaut man sich etwa die Weltbörsen in den vergangenen Jahren an, so fällt auf, dass der russische Markt regelmässig die beste Wertentwicklung verzeichnen konnte. Im laufenden Jahr legte der Aktienindex RTX (Russian Traded Index) bereits um mehr als 50 Prozent zu, in den letzten fünf Jahren hat er sich gar verfünffacht.

Dieser Aufwärtstrend ist in keiner Weise eine Spekulationsblase, sondern spiegelt die fundamentale Veränderung der russischen Wirtschaft wider. Acht Jahre schon wächst die Ökonomie des Landes in Folge: im vergangenen und in diesem Jahr mit rund 7 Prozent, nachdem das Bruttoinlandprodukt schon von 1999 bis 2005 um 57 Prozent zugenommen hatte. War es am Anfang noch die zu erwartende Erholung nach dem politischen und ökonomischen Zusammenbruch des Landes, so hat heute ein nachhaltiger Aufschwung eingesetzt. Dieser beruht sowohl auf dem Reichtum an Ressourcen als auch auf einem gefestigten regulatorischen, marktwirtschaftlichen Rahmen.

Vielversprechend ist nun, dass die Administration unter Präsident Putin viel daran setzt, auf der Grundlage finanzwirtschaftlicher Stabilität dank hohen Deviseneinnahmen eine industrielle Eigendynamik zu entfachen. Und auch den Hochtechnologiesektor hat der russische Staat entdeckt und will ihn ausbauen. Gerade erst hat die russische Regierung angekündigt, eine Art «Technologieoffensive» starten zu wollen - inklusive der nötigen finanziellen Ausstattung des Programms.

Freilich ist die Wegstrecke zu einer breit aufgestellten, modernen und innovativen Industrie noch weit. Vor allem Technologie- und Hochtechnologieunternehmen sind heute in Russland kaum verbreitet, das wissenschaftliche Know-how liegt seit dem Ende des Kalten Krieges brach. Ohne externe unternehmerische Expertise wird diese Aufholjagd kaum zu gewinnen sein.

Und genau das ist die Chance des Westens, das heisst insbesondere derjenigen Technologie- und Industriekonzerne, die bereit sind, sich auf den russischen Markt einzulassen. Der Einstieg der Renova-Gruppe des russischen Industriellen Viktor Vekselberg bei Oerlikon hat denn auch genau diesen strategischen Hintergrund. Zusammen wollen wir Russland (und Osteuropa) sowohl als Absatzmarkt als auch als Produktionsstandort für unsere Gruppe entwickeln.

Die Möglichkeiten für Oerlikon wie für andere Unternehmen sind faszinierend. Ein Beispiel aus der Automobilindustrie: Zurzeit drängen viele Hersteller auf den russischen Markt und wollen Produktionsstätten errichten. Damit entsteht für unsere Beschichtungs-Produkte und Services ein ganz neuer Markt. Oder das Beispiel Konsumgüter: Hier wächst die Nachfrage im zweistelligen Prozentbereich. Auch dort benötigen viele Produkte Dünnfilmbeschichtungen. Oder das Beispiel Ausrüstungsgüterbranche, in der in vielen Anwendungen Vakuumpumpen - etwa in der Prozessindustrie - eine Kernkomponente darstellen. In einer internen Übersicht haben wir die für Russland potenziell interessanten Produkte identifiziert - in der entsprechenden Tabelle finden sich mehr russische Flaggen als Leerstellen.

S o gross die Möglichkeiten sind, so gut und umsichtig sollte der Markteintritt vorbereitet sein. Der russische Markt gehorcht zwar grundsätzlich denselben Marktgesetzen. Die mitunter abweichenden regulatorischen Rahmenbedingungen, die sprachlichen Barrieren und die im Westen weitgehend unbekannten Akteure im Markt benötigen aber eine spezielle Herangehensweise. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der russische Markt aus einer rein externen Perspektive und Kenntnis nicht zu beherrschen ist. Ohne Türöffner ist man schnell verloren. Die Einschätzung von Geschäftspartnern oder das Einholen behördlicher Genehmigungen benötigt spezielles Know-how. Noch stärker als in der Schweiz spielen zudem persönliche Netzwerke eine besonders wichtige Rolle.

Diese Markteintrittsbarrieren müssen keine unüberwindbaren Hürden bleiben, wenn man einen Partner gewinnt, der diese Marktkenntnis mitbringt. Wichtig ist dabei, dass beide Seiten dieselbe «Sprache» sprechen, denselben Managementprinzipien verpflichtet sind und das gemeinsame Ziel vor Augen haben.

Das Résumé? Will man Märkte erobern, sind Klischees ein schlechter Ratgeber. Russland ist trotz aller Negativberichterstattung ein «Riesenmarkt mit Riesenchancen». Wenn man heute die Standorte und Regionen dieser Welt identifiziert, in denen ein global tätiges Unternehmen präsent sein muss, dann darf Russland nicht fehlen.

Schweizer Unternehmen haben zwar keinen besonderen Startvorteil beim «Going East»; aber das Jahr 2006 eignet sich als «Jahr der Jubiläen» in den politischen Beziehungen zwischen Russland und der Schweiz als idealer Startschuss.