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WELT am SONNTAG

Glücksgefühl im leeren Bauch

Neue Fakten zum Fasten: Der Stoffwechsel wird umgekrempelt, die Stimmung euphorisch. Doch nur bei denen, die ohne Druck aufs Essen verzichten

Seine Knie schlottern, die Wangen sind eingefallen, er lächelt müde und wankt aus seinem Glaskäfig. Kein strahlender Sieger. Aber ein neuer Weltmeister: 49 Tage hatte der chinesische Heilpraktiker Chen Jianmin öffentlich gehungert. Kein Chop Suey, kein Reis, keine Bratnudeln. Nur Wasser. "Sieben Wochen ohne" à la chinoise. Der 50jährige übertrumpfte mit seiner rabiaten Diät sogar den US-Magier David Blaine. Der hatte wenige Monate zuvor 44 Tage lang in einer Plexiglaskiste über der Themse gebaumelt und war medienwirksam ausgemergelt.

Jetzt sind die Deutschen dran. Seit Aschermittwoch wird gefastet. "Sieben Wochen ohne" verordnet die Evangelische Kirche. An der Aktion beteiligen sich zwei Millionen Männer und Frauen. 30 Prozent wollen bis Ostern auf Alkohol verzichten, 25 Prozent nicht naschen, 17 Prozent kein Fleisch essen, das ergaben Umfragen.

Doch der deutsche Ramadan ist vielen zu light. Sie bevorzugen die Radikalkur: nichts essen, viel trinken, wie der Herr Jianmin aus China, nur nicht so lange. Kein Problem, meint Professor Susanne Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke bei Berlin. "Fasten nützt zwar nicht besonders, schadet aber auch nicht. In der Evolution ist schließlich vorgesehen, daß der Mensch längere Fastenphasen übersteht." Wer fasten will, sollte jedoch gesund sein und die Kur nicht länger als eine Woche ohne ärztlichen Rat durchführen. Kinder und Schwangere sollten verschont bleiben.

Eine Entschlackung, wie sich manche Laien vorstellen, finde beim Fasten nicht statt, betont Expertin Klaus. "Es gibt im Körper keine Schlacken." Denkbar sei allerdings, daß fettlösliche Substanzen wie z. B. Pflanzengifte, die, über die Nahrung aufgenommen, sich im Fettgewebe anlagern, im Laufe des Fastens durch den Fettabbau freigesetzt werden.

Sicher ist: Der vorübergehende Verzicht auf feste Nahrung setzt umfangreiche Umstellungsprozesse in Gang. Nur etwa einen Tag reichen die Zuckerreserven in Leber und Muskeln, um den Energiebedarf eines erwachsenen Menschen zu decken. Besonders viel Energie benötigt das Gehirn: ein Fünftel des gesamten Ruhe-Energiebedarfs. Nach dem ersten Fastentag muß der Körper seinen Glukosebedarf komplett selbst produzieren. Dafür knabbert er als erstes die Proteinspeicher in der Muskulatur an. Bizeps und Waschbrettbauch schrumpfen, der Hüftspeck aber haftet weiter.

Erst nach zwei bis drei Tagen geht es ans Eingemachte: Nun wird Fett abgebaut. Dabei entstehen als Zwischenprodukt die sogenannten Ketonkörper, winzige Nährstoffe, die vom Gehirn als Energiequelle benutzt werden können. Bei ihrer Verwertung bildet sich Aceton, das abgeatmet wird, Ursache für Mundgeruch bei Fastenden.

Die Ketonkörper sorgen aber auch dafür, daß das Hungergefühl nachläßt. Nach etwa einer Woche übersteigt die Fettverbrennung den Proteinabbau in den Muskeln, Fettdepots schmelzen wie Butter in der Sonne. Doch niemand muß befürchten, während einer zweiwöchigen Nulldiät vom Fleisch zu fallen. "Ein Normalgewichtiger besitzt Fettspeicher für zwei bis drei Monate", erklärt Professorin Klaus. Der Amerikaner David Blaine brachte für seinen Hunger-Stunt reichlich Speckreserven mit. Er war mit einem Body-Mass-Index von 29 angetreten - ein Körpermassewert an der Grenze zur Adipositas. Mit einem BMI von 21,6, das ist Normalgewicht, stieg er aus dem Käfig.

Fasten macht vorübergehend schlanker, doch vor allem lockert es die Seele, schafft klare Gedanken, schärft den Blick für das Wesentliche, macht selbstbewußt. Das sagen alle, die sich darauf einlassen. Hinter den guten Gefühlen steckt nichts als Chemie. Hungern verändert den Hirnstoffwechsel, und dabei insbesondere das "serotonerge System", ein dichtes Netz aus Zellen, deren Fortsätze in alle Bereiche des Gehirns ziehen und den ganzen Tag lang das "Glückshormon" Serotonin abfeuern. Drei- bis fünfmal pro Sekunde je einen winzigen Schuß.

"Es wirkt auf das gesamte Gehirn harmonisierend, dämpft die überschießende Erregung einzelner Hirnareale", erklärt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. Serotonin mindert dadurch Angstgefühle, Depressionen, Unruhe. Nachts ruht die Serotoninausschüttung - vermutlich sei dies "der Grund, warum man im Traumschlaf Gefühle und Phantasien produziert, die sonst unter der Decke gehalten werden."

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Nahrungsentzug wirkt direkt auf das serotonerge System, wie Tierversuche ergaben. Bei Ratten, deren tägliche Futterration auf die Hälfte reduziert wurde, ging die Anzahl der so genannten Serotonin-Transporter in der Hirnrinde um ein Drittel zurück. Die Transporter wirken wie Staubsauger, sie nehmen den Botenstoff wieder auf. Je weniger Staubsauger aber vorhanden sind, desto größer ist die Wirksamkeit des Serotonins.

Die Beobachtungen an den Ratten seien auf den Menschen übertragbar, vermutet der Hirnforscher. Fasten bewirkt über das Serotonin eine Harmonisierung der Hirnaktivität. Mit spürbarer Wirkung: Das Hungergefühl geht zurück; an seine Stelle tritt ein Hochgefühl, "ähnlich wie nach der Einnahme von Ecstasy", so Hüther.

Eine solche Wirkung trete jedoch nur ein, wenn freiwillig auf Nahrung verzichtet wird. "Wer aus Not hungert, produziert große Mengen Streßhormone, entwickelt Angst- und Panikgefühle." Doch auch beim saturierten Bundesbürger ist der Wohlfühleffekt nicht garantiert. Das zeigt eine Studie an der Kurparkklinik in Überlingen am Bodensee, in der Professor Hüther den Fastenverlauf von 30 Patienten untersuchte.

Sie unterzogen sich einem zweiwöchigen Heilfasten. Regelmäßig wurden die Streßhormone gemessen - mit verblüffendem Resultat. "Bei einigen gingen die Streßhormone herunter, das waren die Freiwilligen", so Hüther. Bei der anderen Gruppe stiegen die Streßhormonpegel. "Es waren diejenigen, die von der AOK zum Abspecken geschickt worden waren."

Übrigens: Ernährungsexpertin Susanne Klaus hat noch nie gefastet, Hirnforscher Hüther auch nicht, würde es aber gern probieren, "doch nur im Urlaub, ohne Streß, verbunden mit Wandern." David Blaine ist mit dem Thema durch. Kein Wunder. Wenige Wochen nach seinem Auftritt wurde er von den Briten zum "Verlierer des Jahres" gekürt.

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