Bald ein Dutzend Jahre sind vergangen, seit dem großen Sprung von der Südhalbkugel ins Herz Europas – im Jahr 2001 wechselte ich als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung von Buenos Aires nach Wien. Ich hatte mir die Donaumetropole, wo meine Mutter auf die Welt gekommen war, wo meine Urgroßeltern und meine Großeltern ihr Leben verbracht hatten, als Standort gewünscht.

Ich hegte von vielen Besuchen kostbare Kindheitserinnerungen an Wien, verklärte Reminiszensen in Pastellfarben, versüßt von der Musik Mozarts und köstlichen Tortenstücken: die damals noch wirklich edle Konditorei Demel, der damals noch geheimnisvoll-heruntergekommene Prater, die paradiesischen Zuckerlgeschäfte (so etwas gab es in der Schweiz nicht), Staats- und Volksoper, die Oma, für die Pause ausgerüstet mit einer Packung rosaroter Mannerschnitten in der Kroko-Handtasche. Das graue, triste Wien der fünfziger Jahre – rüttelnde Straßenbahnen, die letzte Bombenruine bei der Ruprechtskirche, Einschusslöcher an Hauswänden, Kriegswitwen mit grünen Filzhüten und kläffenden Hündchen in den Kaffeehäusern, Schweigen und Verlogenheit, was die NS-Vergangenheit betraf.