Generationenkonflikt im Hörsaal – Seite 1

Kurz vor Ende des Seminars hat einer der weißhaarigen Gasthörer seinen großen Auftritt. Es geht um Konzepte der Gleichmut in der Stoa, um die Gelassenheit etwa im Bild von der Meeresstille. Zu der Frage, was denn nun das Individuum sei in diesem Bild: das Meer selbst, seine Oberfläche, oder ein Schiff, das von den Wellen bewegt wird, meldet sich der alte Herr: "Für alle, die wie ich den Krieg noch miterlebt haben, ist diese Frage nicht ganz so leicht zu beantworten." Um ihn herum wird genickt. Die Mitsenioren – sechs sitzen in dem Seminar – scheinen zu wissen, wovon er spricht. Die jungen Studierenden in den hinteren Reihen – zehn an der Zahl – rollen mit den Augen. Der Dozent lächelt gequält.

Die Zeit, als die Universität jungen Lernenden vorbehalten war, ist lange vorbei. Seit Jahren steigt die Zahl der Gasthörer und Studierenden im Pensionsalter. Längst führt das zu Konflikten: Die Jungen beschweren sich über das Diskussionsverhalten der Alten, die nur allzu oft den fachlichen Diskurs mit biografischen Anekdoten mischen. Die Alten beschweren sich über den mangelnden Respekt der Jungen, die zwischen Scheinerwerb und Leistungsdruck kaum Zeit haben, Rücksicht zu nehmen auf die wachsende Zahl ihrer älteren Kommilitonen. Mit den auf beiden Seiten stetig steigenden Studierendenzahlen stellt sich indes auch eine ganz praktische Frage: Wer bekommt im Hörsaal die besten Plätze?

Geht es nach Leonard Kuckart (79), sind die älteren Gasthörer dabei bisher zu kurz gekommen. Der Vorsitzende der Seniorenunion NRW fordert mehr "altengerechte Hörsäle": "Ein bestimmtes Kontingent an Sitzen in den vorderen Reihen sollte für ältere Gasthörer reserviert bleiben." Dies sei auch deshalb gerechtfertigt, weil Senioren zunehmend zur Sicherung der Hochschulfinanzen beitrügen. So zahle ein Senioren-Student mit durchschnittlich 100 Euro Gasthörergebühr pro Semester deutlich mehr als ein ,normaler’ Student. Geld, dass zunehmend wichtig werde, zumal die Zahl junger Studierender in Zeiten des demografischen Wandels nicht ewig wachsen werde. Dass dieser Vorstoß nicht überall auf Gegenliebe stoßen wird, tangiert Kuckart nicht: "Der Generationenkonflikt muss ausgetragen werden, auch an der Universität."

Die Großelterngeneration müsse in der Mitte der Gesellschaft angenommen werden. "Wir bestimmen die Richtung der Zukunft", sagt Kuckart und spricht von einer "besonderen" Verantwortung, die die Alten gegenüber den ganz Jungen spürten. Dass diese auf paternalistische Belehrungen und endlose Zeitzeugenmonologe im Seminarkontext nur bedingt gewartet haben, versteht Kuckart dabei durchaus: "Toleranz und Respekt muss man auch von älteren Menschen erwarten können", sagt Kuckart. Und ja, die Universitäten seien zunächst für die Jungen da. Nur müssten die Alten, wo sie nun einmal zum Studium zugelassen seien, auch altersgerecht behandelt werden.

Ausgrenzung als Best-Practice-Beispiel?

An den Berliner Universitäten gibt man sich angesichts solcher Forderungen reserviert: "Gerade im Hinblick auf die aktuelle Bewerbersituation hat die Erstausbildung junger Studierender Vorrang", sagt Goran Krstin, Sprecher des Präsidenten der FU Berlin. Ähnliche Töne auch aus der Humboldt-Universität: Es müsse bei der nachvollziehbaren Forderung Kuckarts nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass das Angebot der Gasthörerschaft leider immer nur ein Zusatzangebot sein könne, meint auch Michael Kämper-van den Boogaart, Vizepräsident für Studium und Lehre an der HU. Mehr noch: "Sollte sich die finanzielle und damit die personelle Ausstattung der Hochschulen in der Zukunft weiter verschlechtern, müsste leider geprüft werden, inwieweit das Angebot der Gasthörerschaft im bisherigen Umfang aufrechterhalten werden kann."

In Frankfurt am Main wurden die Gasthörer bereits im Jahr 2005 vom normalen Studienbetrieb abgegrenzt. Als erste und bis heute einzige große Alma Mater in Deutschland hat die Goethe-Universität eine angegliederte "Universität des dritten Lebensalters". Das Modell: Pro Semester zahlen die derzeit rund 3.000 Studierenden Geld an einen Verein, den die Uni 2005 gründete. Dieser verwendet das Geld auf ein eigenes Seminarprogramm, verpflichtet Dozenten, mietet Räume.

Dass dabei Synergien mit dem Raum- und Lehrangebot der Uni genutzt werden, ist für Uni-Sprecher Olaf Kaltenborn selbstverständlich. Dennoch betont er: "Mit der normalen Uni hat das dann nichts mehr zu tun. Das sind komplett auf die Bedürfnisse der Studierenden im Alter zugeschnittene Veranstaltungen." Speziell dieser Umstand werde sehr gut angenommen. Seit 2005 steige die Zahl der Gasthörer, die nun keine mehr sind. Die Ausgrenzung als Best-Practice-Beispiel? Olaf Kaltenborn findet das weder verwunderlich noch verwerflich: "Gerade seit der Bachelor-Masterisierung sind die Bedürfnisse von normalen Studierenden und Studierenden im Alter massiv auseinandergegangen." Das straffe und effiziente Programm der modularisierten Studiengänge sei nicht das, was Seniorstudierende suchten. "Sie wollen den reinen Erkenntnisgewinn." Zudem fänden Kontakte immer noch statt – einige Veranstaltungen besuchten Studierende des dritten Lebensalters und normale Studierende nach wie vor gemeinsam. "Aber die Älteren bestimmen nicht mehr den Takt und das Tempo der Veranstaltung", sagt Kaltenborn.

Die "Reibung", die sich Leonard Kuckart von der Präsenz der Senioren im Uni-Alltag erhofft, in Frankfurt scheint sie niemand zu vermissen.

Erschienen im Tagesspiegel