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Debatte Land stiller Abschiede

Von Gabor Steingart

Die Wahl von Barack Obama ist das Schlimmste, was den deutschen Politikern passieren konnte. Der amerikanische Präsident greift sie nicht an. Er überzieht sie nicht mit Forderungen. Er beschämt sie.

Spricht im deutschen Fernsehen die Kanzlerin, wird rundum geschnattert. Erhebt im amerikanischen Fernsehen Barack Obama das Wort, wird geschwiegen wie im Gottesdienst.


Die Worte des Präsidenten werden als Bereicherung, nicht als Belästigung empfunden. Das Volk hört sich in ihm. Es spricht gewissermaßen zu sich selbst.

Obama macht nicht nur Politik, sondern erklärt sie auch. Eine zunehmend als bedrohlich empfundene Welt wird dadurch für viele erst verstehbar. Die Finanzkrise bekämpft man mit Tonnen von Geld. Der Angst, in ihr unterzugehen, begegnet man mit Worten und Mitgefühl.

Von überall schaut man derzeit nach Amerika - und von dort auf die eigenen Verhältnisse. Die Globalisierung hat nach Tomaten, T-Shirts und Flachbildschirmen auch die Politik erreicht. Die Menschen vergleichen nicht mehr nur die CDU mit der SPD, die Grünen mit der FDP. Sie vergleichen das heimische Sortiment mit dem, was in Übersee geboten wird.

Obamas Sachpolitik kann noch keiner beurteilen. Erst sieben Wochen ist er im Amt. Aber sein Politikstil ist schon heute der neue Goldstandard.

Die direkte Demokratie hat einmal mehr Wundersames hervorgebracht. Die Amerikaner wählten keinen von der Partei auf den Schild gehobenen Spitzenkandidaten, sondern hoben selbst einen auf den Schild. Politik mit Volk, Demokratie getragen von Leidenschaft, wen das in diesen Tagen nicht fasziniert, der ist Zyniker oder Vorstandsmitglied einer deutschen Partei.

Im globalen Dorf liegen Bundeskanzleramt und Weißes Haus dicht beieinander. Der Blick über den Zaun lohnt allemal.

Es ist, als habe unser bester Freund sein Leben neu sortiert und lässt das unsere im alten Trott zurück. In seinem Wohnzimmer wird debattiert, bei uns läuft der Fernseher. Wir sehen, wie er alle Räume lüftet, wir halten die Fenster geschlossen. In seinem Garten wachsen Orchideen, derweil bei uns der Löwenzahn sprießt.

Die deutschen Verhältnisse sind nicht neu, sie werden derzeit nur neu beleuchtet. Plötzlich fällt auf, was vorher schon hätte auffallen können. Es sieht alles so grau aus.

Die demokratische Leidenschaft der siebziger Jahre hat sich irgendwo zwischen Helmut Kohl und der Föderalismusreform verflüchtigt. Der Schwung des Neuanfangs nach Mauerfall und Wiedervereinigung hielt auch nicht lange. Der Parteienstaat wirkt wie erstarrt.

Das politische Deutschland ist ein Land der stillen Abschiede geworden. Die SPD, einst die Partei der Jugend und danach für einige Jahre noch die der Junggebliebenen, hat seit den siebziger Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Kürzlich stellte die Partei einen Rentner als Vorsitzenden ein. Den "roten Franz" nennen sie ihn. Selten sah die Revolution so verwittert aus.

Die Legitimation für die Regierenden schrumpft schneller als die Börsenkurse. Die Aktien des Dax sind auf den Stand des Jahres 1997 abgestürzt, was allgemein als schrecklich gilt.

Die Wertschätzung der Parteien aber befindet sich unter Einstandskurs. Die Wahlbeteiligung der letzten Bundestagswahl hat noch die des Jahres 1949 unterboten. Es gab 2005 erstmals mehr Nichtwähler als CDU-Wähler.

Obama ist nicht die Ursache der deutschen Probleme, aber der Grund, dass sie jetzt so ins Auge springen. Das bundesdeutsche Haus wurde errichtet vor nunmehr 60 Jahren, Zeit für eine Inspektion also.

Beginnen wir die Hausbegehung am besten in der Beletage, bei Angela Merkel. Die Frau regiert tapfer vor sich hin. Sie ist auffällig unauffällig, eine Gelegenheitskonservative mit scharfem Verstand. Nur ihre Sprache klingt merkwürdig. Die Frau findet auch im vierten Jahr ihrer Kanzlerschaft nicht den richtigen Ton.

Normalerweise ist es ja so: Der Bauarbeiter baut, der Lehrer lehrt, der Kellner kellnert, und der Politiker wirkt durch das Wort. Für ihn gilt: Sprich, damit ich dich erkennen kann.

Angela Merkel aber hält sich nicht daran. Sie spricht, sie spricht sogar viel, wie es das Amt von ihr verlangt, aber sie gibt sich nicht zu erkennen. Man kann sogar sagen, die Kanzlerin ist mit dem Herzeigen ihres Dekolletés zuweilen freizügiger als mit dem Vorzeigen ihrer Überzeugungen.

Tagelang schwieg sie zu staatlichen Garantien für Spareinlagen, bevor sie aus heiterem Himmel eine Garantie aussprach. Ein europäisches Vorgehen gegen die Krise fand sie unnötig, bevor sie es richtig fand. Sie lehnte ein Konjunkturprogramm ab, um dann gleich zwei davon zu verabschieden.

Die richtigen Worte können Zauberkraft entfalten, zumal in Krisenzeiten. Sie vermögen ein Volk zu beruhigen und die Verzagten mit Hoffnung zu erfüllen.

Nichts davon ist Angela Merkel in den vergangenen Monaten gelungen. Ihre Regierungserklärung, gehalten im Januar dieses Jahres, war durchsetzt mit Kunstworten, die womöglich den Experten, aber nicht den Bürger beeindrucken: Innovationscluster, Stabilisierungsmaßnahme, Handlungsoption, Nachfrageimpuls.

Ihre Lieblingsvokabel war der Sprache der Bürokraten entliehen: "Maßnahmen". Beim zwölften Mal hört man zu zählen auf.

"Die Menschen in Deutschland"


Erkennbar sprach sie nicht mit dem Volk, sondern übers Volk. "Die Menschen in Deutschland" nannte sie uns. Sie sagte viele Male "wir", aber nur aus Höflichkeit, um das dauernde "ich" zu vermeiden: "Wir sind entschlossen" - "Wir haben uns entschieden" - "Wir handeln gut überlegt" - "Dafür stehen wir ein".


Gerade in jenen Redepassagen, in denen Merkel Zuversicht ausstrahlen wollte, setzte das Frösteln ein. Ihr Optimismus wirkte nicht ansteckend, sondern bedrohlich, weil er dem eigenen Erleben so energisch widerspricht. "Unsere Wirtschaft ist stark. Unsere Produkte sind weltweit wettbewerbsfähig. Das soziale Netz ist stabil", rief sie den "Menschen in Deutschland" zu.

Kurz zuvor hatte der deutsche Maschinenbau gerade einen Auftragseinbruch von 30 Prozent gemeldet. Von Opel, Mercedes und dem labilen Gesundheitszustand der Bankenwelt gar nicht zu reden. Die Krise macht eben auch die Starken schwach.

Im Nachbarhaus ging es nicht weniger turbulent, aber zumindest wahrhaftiger zu. Obamas Rede vor dem amerikanischen Kongress, als er sein Konjunkturprogramm vorstellte, klang so:

"Ihr braucht nicht noch eine Statistik, um zu wissen, dass unsere Wirtschaft in der Krise steckt. Ihr erlebt es jeden Tag. Das sind die Sorgen, mit denen ihr aufwacht. Das ist der Grund eurer schlaflosen Nächte. Die Wirkungen der Rezession sind real, und sie sind überall."

Merkel benutzt Sprache anders. Sie will nicht wärmen, sie will sich verstecken. Ihre "Fahnenworte", wie Erhard Eppler die Erkennungsvokabeln eines jeden Politikers nennt, sind kaum zu entziffern. Kraftlos baumeln sie an ihrem Mast. Sie hält das für klug.

Wo Obama Klarheit bietet, setzt sie auf Unschärfe. Er geht auf die Bürger zu, sie tritt lieber einen Schritt zurück. Je weniger sie von sich zu erkennen gibt, desto höher wird die Zustimmung sein, die sich am Wahltag im Herbst dieses Jahres erzielen lässt, glaubt sie.

Merkel hat sich verschleiert. Sie will diesmal in beiden politischen Lagern abkassieren. Die einen sollen jene Merkel wählen, welche die anderen nicht mal grüßen würden - und umgekehrt. Sie nennt das "Erneuerung der Union". In Wahrheit kommt es einer Selbstauflösung gleich.

Die Sozialdemokraten, die im deutschen Haus derzeit das Stockwerk unter der Kanzlerin bewohnen, sind zumindest farblich gut zu erkennen. Es hängt ein rotes Tuch aus dem Fenster. Franz Müntefering hat es aufgehängt. Der Mann kennt die Gefühle der Menschen und ihre Sprache. Das Geschehen auf den Finanzmärkten fasst er verständlich zusammen: "Das Haus brennt", sagt er. Wer auch immer es angesteckt habe, Halbstarke, Pyromanen oder Gangster, es müsse gelöscht werden. Da nickt man innerlich.

Dass seine Worte keine auch nur annähernd so große Wirkung entfalten wie die des Mannes aus Amerika, liegt auch an der Arbeitsteilung innerhalb der SPD: Franz Müntefering ist für die Worte zuständig, Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier für die Wirklichkeit. Obama erledigt beide Jobs in einem.

Nun wäre Steinmeier gern ein deutscher Obama. Keiner schaut so sehnsuchtsvoll in Richtung Amerika wie er. Aber Tante SPD gestattet ihm keine Ausschweifungen. Steinmeier hängt an ihrem Rockzipfel. Auch als Kanzlerkandidat ist er nur ein Scheinselbständiger.

Die Kandidatur hat er sich ohnehin nicht im Kampf geholt, sondern im Hinterzimmer der Partei gesichert. Hier ist der Unterschied zum amerikanischen Nachbarn besonders groß.

Allein an den Vorwahlen der Demokraten, die mit dem Sieg Obamas endeten, beteiligten sich rund 33 Millionen Menschen, bei Steinmeiers Nominierung keine 10. Selbst wenn man den in der Kulisse aktiven Altkanzler Gerhard Schröder dazuzählt.

Nun hat die SPD immerhin einen Spitzenkandidaten. Aber das Problem der Partei ist damit nicht gelöst. Es besteht, man traut es sich angesichts ihres reifen Lebensalters von 145 Jahren kaum zu sagen, im Folgenden: Die SPD weiß nicht recht, was sie will. Sie weiß, was sie nicht will. Aber das ist nicht dasselbe.

Es fängt schon mit ganz praktischen Fragen der Wahlkampfführung an: Soll die SPD im Wahlkampf über Reformen reden oder lieber nicht? Soll sie eher der Freund der Aufstiegswilligen oder der Anwalt der Ängstlichen sein? Will sie die Partei Die Linke angreifen, umarmen oder ausgrenzen?

Und selbst auf die Frage aller Fragen weiß sie keine ehrliche Antwort zu geben: Soll sie nach der Wahl wirklich weiterregieren, und wenn ja, mit wem?

Für Steinmeier und Müntefering wird es ungemütlich, wenn sie die Wahl verlieren, heißt es allenthalben. Aber das stimmt nicht. Ungemütlich wird es, wenn sie die Wahl gewinnen.

Die Partei ist am glücklichsten, wenn sie nicht regieren muss. Dann schnurrt sie wie eine Katze. Der Gefühlshaushalt ihrer Mitglieder ist ausgeglichen, wenn sie Programme schreiben oder Protestplakate malen dürfen. Die Worte "Nein" und "Niemals" lernt ein Sozialdemokrat schon in der Jugendorganisation. Die Worte "Ja" und "So machen wir es besser" kommen sehr viel später und bei vielen nie dazu.

Das Leiden an der Verantwortung hat eine interessante Nebenwirkung


Mit dem tatsächlichen Können der SPD als Regierungspartei hat dieser Hang zur Opposition nichts zu tun: Die SPD regiert, wenn sie denn regiert, nicht schlechter als die Union. Sie kann mit Geld umgehen. Ihre Außenpolitik ist solide und war unter Willy Brandt sogar wegweisend. Die SPD-Verteidigungsminister stehen zur Bundeswehr so treu wie der Hofhund zum Hof.


Das Problem ist ein mentales. Der deutsche Konservative, der regieren darf, sagt sich: Recht so. Der deutsche Sozialdemokrat, dem Gleiches widerfährt, denkt sich: Auweia!

Das Leiden an der Verantwortung hat eine interessante Nebenwirkung. Es sorgt dafür, dass in der SPD zwei unvereinbare Meinungen über Oskar Lafontaine existieren. Der ehemalige SPD-Chef und heutige Anführer der Partei Die Linke wohnt auf demselben Flur wie die SPD. Er besitzt das kleine Apartment gegenüber.

Die Spitzen der Partei in Berlin sagen pflichtschuldig, er sei vor der Verantwortung weggelaufen. Sie wollen mit ihm nichts zu tun haben. Viele einfache Mitglieder aber sind innerlich mit ihm gelaufen. Sie bewundern ihn für seinen Rücktritt von allen Ämtern. Freiwillig sprang er von Wolke sieben und landete im Vorruhestand. Der Oskar hat nur schlechte Nerven, das sei alles, sagt Schröder.

Und wenn schon! Die Nerven des einfachen Genossen sind nicht besser.

Die Bewunderung der Sozialdemokraten für Lafontaine versteht nur, wer weiß, dass der brave Genosse den Flug auf Wolke sieben als Höllenritt empfindet. Die Verantwortung schmerzt ihn. Er klebt nicht am Sessel, ihm brennt der Hintern.

Eine Aussöhnung mit Lafontaine wäre für viele Genossen eine Aussöhnung mit sich selbst. Nur der Zwiespalt der SPD wäre dann der Zwiespalt des ganzen Landes. Bald würde man über Deutschland so reden, wie man heute über die SPD redet: Das Land weiß nicht, was es will.

Wenn Barack Obama diese Probleme kennen sollte, dann nur aus der Zeitung. Er ist in einer anderen politischen Welt aufgewachsen - und wahrscheinlich nur in dieser denkbar.

In Amerika gibt es zwar eine eher linke und eine eher rechte Partei, aber keine Oppositionspartei. Beide sehen sich als Regierungsparteien im Wartestand, weshalb man schon das Wort Oppositionsführer gar nicht erst benutzt.

Das Mehrheitswahlsystem lässt für kleine Parteien keine Luft zum Atmen. Die Kultur der Koalitionsbildung, das ständige Vor und Zurück, das Sichherantasten und Zurückweisen, bringt andere Charaktere hervor. Wer sich einen deutschen Obama wünscht, muss zum Kern der deutschen Probleme vordringen.

Haben wir bisher nur bei den Angestellten der Macht angeklopft, wird es Zeit, die Inhaber zu besuchen. Für Amerika gilt unverändert, was Alexis de Tocqueville vor rund 170 Jahren geschrieben hat: "Das Volk beherrscht die amerikanische Politik wie Gott das Universum." Deshalb schmiegt sich Obama so an die Menschen. Sie sind seine Götter.

Die deutschen Götter aber sind die Parteien. Alle Macht wird durch sie vermittelt. Sie haben das erste und das letzte Wort in Deutschland. Früh schon sprach Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz vom "Parteienstaat".

Am Tag nach der letzten Bayern-Wahl zeigte er seine stahlharten Muskeln. Ministerpräsident Günther Beckstein lag am Ende des Wahltages mit 43,4 Prozent der abgegebenen Stimmen vor der SPD mit 18,6 Prozent der Stimmen. Zu wenig, befand der CSU-Vorstand.

Beckstein wurde zum Rücktritt gezwungen, und ein Mann, der vorher gar nicht auf dem Wahlzettel stand, saß wenig später in der Staatskanzlei. In den USA hätte schon der Versuch, einen gewählten Spitzenkandidaten in die Knie zu zwingen, eine Verfassungskrise ausgelöst.

Die deutschen Verfassungsrechtler sprechen von der indirekten Demokratie, und das klingt nicht ganz zufällig wie indirekte Beleuchtung, so als würde man den Bürgern einen großen Gefallen tun, wenn man ihnen das harte Scheinwerferlicht der Demokratie vom Leibe hält. Ein paar Kerzen tun es auch.

Deutschland ist weltweit die einzige Demokratie, in der von den drei Gewalten - der gesetzgeberischen Gewalt des Parlaments, der ausführenden Gewalt der Regierung und der kontrollierenden Gewalt der Gerichte - keine einzige durch das Volk allein bestimmt werden darf.

Bundestag und Bundesrat bestellen die Verfassungsrichter. Die Regierung wird vom Parlament gewählt. Und der Deutsche Bundestag wird in großen Teilen von den Parteien und nicht vom Volk bestückt. Denn nur die eine Hälfte des Plenums gehört Abgeordneten mit Direktmandat. Das wird vom Wähler verliehen. Aber schon einen Sitz weiter stößt man auf die anderen, die Listenvertreter.

Viele von ihnen sind gerade erst beim Volk mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Sie gelangen nur in den Bundestag, weil es neben dem Haupteingang noch ein Hintertürchen gibt. Auf diesem Hintertürchen steht Listenplatz. Die "Liste" ist die Schatztruhe der Parteien, aus der sie ihre Günstlinge bedienen.

Wer die Entstehungsgeschichte des deutschen Hintertür-Abgeordneten bis zu den Anfängen zurückverfolgt, landet in den Archiven des Parlamentarischen Rates. So hieß das Gremium, das unser Grundgesetz erarbeitet hat. In dessen Protokollen findet sich der Anfangsverdacht bestätigt.

Der Typus Politiker, "der stark ist und direkt durchkommt"


Er würde es sehr begrüßen, so ein Mitglied des Rates, wenn die Möglichkeit vorhanden wäre, "auf Landesebene eine Reststimmenverrechnung zu haben". Die anderen waren sofort Feuer und Flamme für diese Idee. Natürlich gebe es den Typus Politiker, "der stark ist und direkt durchkommt", sagte einer, aber die Reststimmenverrechnung auf der Landesliste würde gebraucht, erläuterte ein anderes Ratsmitglied in schöner Offenheit, um "solchen, die mit großer Minderheit durchgefallen sind, noch das Einrücken ins Parlament zu erlauben".


Seither tummeln sich auf den Landeslisten viele graue Gesellen der Parteipolitik. Rund 150 Bundestagsabgeordnete von Union und SPD haben beim letzten Mal den Wahlkreis nicht gewinnen können. Trotzdem sitzen sie im Bundestag.

Der Bürger kennt diese Feinheiten oft nicht. Aber er fühlt mehr, als er weiß. Der Anstieg der Wahlenthaltung offenbart einen unerfüllt gebliebenen Anspruch der Wähler an das politische System.

So leben Bürger und Politiker zwar unter einem Dach und stehen sich doch zunehmend wie Fremde gegenüber. Vor allem das Wohnzimmer, der eine Raum, den alle gemeinsam bewohnen, der "öffentliche Raum", ist ein stiller Ort geworden.

Jeder fünfte Bürger, meldete das Umfrageinstitut Forsa in der vergangenen Woche, würde nicht mal mit einem der beiden Spitzenkandidaten Kaffee trinken wollen. Millionen Bürger wenden sich ab, weil sie das Gefühl haben, Parteien und Parlamentarier hätten ihnen zuvor schon den Rücken zugedreht. Wenn es derzeit ein politisches Projekt in Deutschland gibt, dann ist es nicht die Erneuerung des Parteienstaats, sondern seine Überwindung.

Undenkbar? Ein solcher Prozess ist nicht undenkbar. Er ist im Gange. Es sei zu einer inneren Emigration aus der Politik gekommen, sagt der Soziologe Heinz Bude.

Wer für eine Sekunde die Nebengeräusche, die unsere moderne Medienwelt ohne Unterlass produziert, ausblendet, hört die Stille: Im öffentlichen Raum wird nur noch geflüstert. Das leidenschaftliche Rufen und Skandieren dringt aus Amerika zu uns herüber. Es wirkt wie der Nachhall der eigenen Vergangenheit.

Viele glauben trotz alledem, es sei ihre Pflicht, bei der kommenden Bundestagswahl wieder zu wählen. Diesmal CDU! SPD stärken! FDP an die Macht! Oskar for President! Dies würde der Demokratie förderlich sein. Es würde die Parteien erfrischen.

Das Gegenteil ist heute richtig. Durch ihre Wiederwahl, auch wenn sich die Parteien nichts sehnlicher wünschen, tun wir ihnen keinen Gefallen. Sie sind am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Wir verlangen das Unmögliche von unseren Parteien, wenn wir dauernd rufen: Erneuert euch, seid lebendig und modern.

Mit dem gleichen Recht könnten wir auch unsere Großmutter ermuntern: Tanze, springe, sei wieder das junge Mädchen, das du mal warst. Sie würde ja gern. Aber sie kann nicht.

Die Parteien sind heute Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Ihre Mitgliedschaft schrumpft und altert, ihre geistigen Feuer sind erloschen, ihre Ortsvereinskultur isoliert sie von den Bürgern dieser Gesellschaft. Wir erleben den Zerfall eines Herrschaftssystems, der auch dann ein Zerfall bleibt, wenn er sich in Zeitlupe abspielt und von den Betroffenen bestritten wird.

Es geht nicht darum, am Wahltag die führenden Köpfe der Großen Koalition abzustrafen. Sie haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten regiert. Es geht um den Rahmen der Möglichkeiten.

Der Rahmen ist in die Jahre gekommen, und die Möglichkeiten, die er hervorbringt, sind unbefriedigend. Die Parteien müssen sich nicht erneuern. Sie müssen sich öffnen. Wenn das Gespräch darüber nicht jetzt stattfindet, wird es womöglich nie stattfinden. Oder unter deutlich verschlechterten Bedingungen.