Frankreichs Manifest zum Volkszorn:Empört euch!

Das meistverkaufte Buch des Jahres im unzufriedensten Land der Welt: Widerstandskämpfer Stéphane Hessel bewegt seine Landsleute mit dem Aufruf, sich gegen die Verhältnisse aufzulehnen.

Alex Rühle

Das Buch ist in etwa so dick wie eine Broschüre der Zeugen Jehovas, dreißig Seiten, wobei der eigentliche Text gerade mal neunzehn Seiten davon in Anspruch nimmt. Es kostet drei Euro und ist bei dem winzigen Verlag Indigène erschienen, der betrieben wird von ehemaligen Maoisten der "Gauche prolétarienne". Bis zum Jahreswechsel wurden 900.000 Exemplare gedruckt, wodurch Indignez-vous in Frankreich das mit Abstand meistverkaufte Buch des Jahres ist. Es liest sich wie eine Mischung aus mahnendem Leitartikel, protestantischer Predigt eines politisch bewegten Agnostikers und Brief an die Nachfahren.

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Stéphane Hessel, 93-jährig und Mitverfasser der UN-Menschenrechtscharta, umgibt ein unerhörter Nimbus. In seinem Buch Indignez-vouz ruft er seine Landsleute zur Empörung über den Zustand der Welt auf.

(Foto: ddp)

Stéphane Hessel ruft seine Landsleute darin auf, sich zu empören über den Zustand der Welt. Darüber, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgeht; dass der Sozialstaat ausgehöhlt wird; dass Ausländer in Frankreich stigmatisiert und die Palästinenser von den Israelis kujoniert werden. Darüber, dass in der Mitte unserer Konsumgesellschaft ein schwarzes Loch des Nihilismus klafft, dass die Gier der Banker eine einzige Schande sei. Und dass wir unseren Planeten zerstören. Wobei: "Es wurden seit 1948 auch wichtige Verbesserungen erreicht: die Dekolonisierung, das Ende der Apartheid, der Fall der Mauer. Leider war das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dann wieder ein Rückschritt."

Noch befremdlicher als dieses kursorische Abschreiten der Weltgeschichte wirkt auf den deutschen Leser zunächst, dass Hessel die Empörung über all diese Missstände kurzschließt mit seinem eigenen Wirken in der Résistance im Zweiten Weltkrieg. Vielleicht liegt aber genau darin der Schlüssel des erstaunlichen Erfolgs dieses winzigen Büchleins. In dieser Zeit rasender Umbrüche und großer Ratlosigkeit wirft da einer seinen Anker weit, weit nach hinten aus, in die ruhmreichen Jahre 1941 bis 1944.

Man muss dazu sagen, dass den Autor dieses Pamphlets ein unerhörter Nimbus umgibt: Der 93-jährige, stets eine souverän-soignierte Noblesse ausstrahlende Stéphane Hessel kommt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Seine Eltern sind der Schriftsteller Franz Hessel und die Journalistin Helen Grund, deren Ménage-à-trois mit dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché von François Truffaut in Jules et Jim verewigt wurde. Stéphane Hessel war vor dem Krieg Sartre-Schüler, trat der Résistance bei und arbeitete mit am Programm des Nationalen Widerstandsrates. Er wurde von der Gestapo gefoltert und kam ins KZ. Eugen Kogon verhalf ihm in Buchenwald zu Papieren eines Toten, der dann als Stéphane Hessel verbrannt wurde; die Geschichte wird in Jorge Sempruns Der Tote in meinem Namen erzählt. So leben sowohl Hessel selbst als auch seine Eltern ohnehin schon im Pantheon der Nachkriegskultur fort.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die Franzosen das unzufriedenste Volk der Welt sind.

Vom Staat alleingelassen

Nach dem Krieg trat er in den diplomatischen Dienst ein, wirkte als Botschafter in verschiedenen Hauptstädten und setzte sich in späteren Jahren für die Unabhängigkeit Algeriens, die europäische Einigung, den Umweltschutz und für Immigranten ein. Kurzum, hier spricht nicht irgendein Idealist, sondern ein Zeitzeuge biblischen Alters, ein Befreier des eigenen Landes und späterer Spitzendiplomat, ja eine Art Demiurg unserer Weltverfassung: Hessel war 1948 einer der zwölf Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,

In seinem Pamphlet nun schließt er die aktuelle Situation gleich doppelt an sein Wirken in der Résistance an. Zum einen behauptet er implizit, der französische Sozialstaat sei aus den Idealen der Résistance erwachsen, wenn er schreibt: "Das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance ist heute in Gefahr." Vor allem aber schließt er über den Begriff der "Indignation" den Kampf gegen den Nationalsozialismus mit der Empörung über die politische Gesamtgemengelage kurz, ja er sagt: "Ich wünsche Ihnen allen, jedem von Ihnen, ein Motiv für die Empörung. Das ist wertvoll. Wenn Sie etwas derart empört, wie mich seinerzeit der Nazismus empört hat, dann wird man militant, stark und engagiert."

Die Empörung ist in diesem Text eine Art sittliche Wirbelsäule, ähnlich wie in Flauberts Sätzen: "Was mich aufrecht hält, ist einzig und allein die Empörung! Für mich ist die Empörung das, was der Stock bei den Puppen ist, der Stock, den sie im Hintern haben und der sie aufrecht hält. Wenn ich nicht mehr empört wäre, dann würde ich flach fallen!"Nun ist Empörung ein Gefühl, eine Art Gerechtigkeitszorn, das brennende und oft ja auch narzisstisch merkwürdig prickelnde Gefühl im Unrecht zu sein, meist verbunden mit dem drängenden Wunsch, etwas zu ändern, sich zu engagieren. Die Frage ist, ob ein Gefühl als Programm ausreicht.

Die panoramatische Allzuständigkeit, die fast schon diffuse Rundumempörung dieses Aufrufs spiegelt sich in einer ganz und gar wohlmeinenden Aktion von Le Monde wider. Die Zeitung räumte in ihrer Silvesterausgabe zwei ganze Seiten frei, auf denen bekannte Zeitgenossen jeweils kundtun sollten, worüber sie sich im vergangenen Jahr ganz besonders empört hatten.

Das ergab erwartungsgemäß ein buntes Potpourri: Die dreisten Lügen der Banker, das autistische Gebaren der Regierung Sarkozy, die Hetzjagd auf die Roma, Ungerechtigkeiten gegen Frauen. Nur der Neuropsychiater Boris Cyrulnik machte nicht mit bei dem Spiel, ja er entzog der ganzen Aktion den Boden in seiner Antwort: "Ich hege eine geradezu zärtliche Bewunderung für Stéphane Hessel, mit dem ich in vielen Punkten übereinstimme, aber ich empöre mich darüber, dass man uns bittet, uns zu empören, denn die Empörung ist der erste Schritt des blinden Engagements. Man sollte uns dazu auffordern nachzudenken, und nicht dazu, uns zu empören."

Wahrscheinlich ist es aber gerade das Passepartouthafte des Textes, das ihm zu dem riesigen Erfolg in Frankreich verhilft: Wenn es nur um den psychischen Aggregatszustand der Empörung geht, kann ab sofort jeder diesen Text als goldenen Rahmen um seine Unzufriedenheit hängen. Und unzufrieden sind die Franzosen länger schon. Es ist bekannt, dass in keinem anderen europäischen Land ähnlich viele Antidepressiva genommen werden wie hier. Als aber eine Gallup-Umfrage unter 64.000 Bürgern in 53 Ländern vor einigen Tagen zutage brachte, dass die Franzosen die pessimistischsten Menschen auf diesem Planeten sind, dass sie die Zukunft also noch schwärzer als die Menschen in Afghanistan, Pakistan oder Nigeria sehen, waren die Gallup-Forscher selbst überrascht.

Die Autoren der Studie erklärten sich die pessimistische Grundeinstellung ihrer Landsleute vor allem mit dem kollektiven Gefühl, vom Staat alleingelassen zu werden. Nirgends sonst sei der Gedanke des Wohlfahrtsstaates so wichtig wie hier, jetzt aber löse sich der Sozialstaat langsam auf. Hessels Text erschien justament an dem Tag, an dem die hochumstrittene Rentenreform beschlossen wurde.

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