Wenn Franziska, Dave und Hinnerk mit den Kindern auftauchen – beim Kinderarzt, in der Kita oder im Zoo –, legen sich die Leute, die sie sehen, ihre eigene Wirklichkeit zurecht: Einer der beiden jungen Männer ist dann ein Kumpel. Oder der Bruder. Oder der Patenonkel.

Erfahren sie später, dass Dave und Hinnerk beide eine feste Beziehung mit der 26-jährigen Franziska führen, dass beide Kinder mit ihr haben und dass die drei sogar zusammen leben, reagieren fast alle mit freundlicher Ablehnung. Ach, ist ja interessant, heißt es bestenfalls. Und, unvermeidlich: Also für mich wär das ja nichts! Franziska, Dave und Hinnerk – in den Augen der meisten Menschen sind sie seltsame Exoten.

Wer die drei Studenten nachmittags in ihrer Wohnung in Lichterfelde besucht, hat allerdings den Eindruck, in einen äußerst normalen Familienalltag geraten zu sein. Im Flur versuchen die Eltern gerade, ihre vier Kinder für einen Spaziergang in Mützen und Jacken zu verpacken: Die einjährige Johanna muss erst mal von der Kellogg’s-Packung getrennt werden, während die zwei Ältesten, drei und fünf Jahre alt, schon kreischend voraus in den Garten rennen. Dave, 31, ist der biologische Vater von dreien der Kinder, Hinnerk, 28, der Vater von Emil, der vor vier Monaten auf die Welt kam.

Das Modell, das die Familie lebt, heißt "Polyamorie". Das bedeutet, mit mehreren Menschen eine Beziehung zu führen – alle Beteiligten sind informiert und einverstanden. Polyamorie ist etwas anderes als eine offene Beziehung, bei der Sex mit anderen zwar erlaubt ist, die "Primärbeziehung" aber immer Vorrang hat. In polyamoren Beziehungen gelten jene Regeln, die im Idealfall auch für eine Zweierbeziehung gelten sollten: Man respektiert den anderen, lässt ihm Freiräume, ist ehrlich zueinander.

Kann das funktionieren? Und wenn ja, ist es ein Modell für viele Menschen?

"Ich bin überzeugt, dass es Leute gibt, die ein Leben lang monoamor fühlen, denen also ein Partner genügt", sagt Simone Maresch. "Aber die große Mehrheit unterwirft sich nur den Normen unserer Gesellschaft." Maresch hat zusammen mit Co-Autorin Cornelia Jönsson vor kurzem ein Buch herausgebracht. Es heißt 111 Gründe, offen zu lieben (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf), und beim Lesen kann man glatt das Gefühl bekommen, schön blöd zu sein, sich noch freiwillig die Zwänge einer Zweierbeziehung anzutun. Erzählt wird die fiktive Geschichte einer polyamoren Wohngemeinschaft; das Leben der Beteiligten dieses Liebesnetzwerks ist nicht nur abwechslungsreich, frei, zwanglos und natürlich sexuell befriedigend. Sondern auch noch sicherer, gemütlicher und geborgener als das der monoamor lebenden Masse.

Während des Gesprächs in einem Café in Neukölln streiten sich Maresch – 52, schwarzer Rollkragenpulli, graue Locken – und Jönsson – 30, schwarze Strumpfhosen und Stulpen in Netzoptik – gut gelaunt über ein Stück Schokoladenkuchen. Als sie ihr Buch schrieben, waren die beiden ein Paar, mittlerweile haben sie sich wieder getrennt. Beide leben polyamor: Simone Maresch, seit elf Jahren in einer nicht monoamoren Beziehung mit einem Mann, hat aus einer früheren Ehe vier erwachsene Kinder. Cornelia Jönsson ist seit zwei Jahren verheiratet, hat nebenbei immer wieder Beziehungen mit Frauen, auch ihr Mann führt neben der Ehe eine weitere Beziehung mit einer Frau.