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Jetzt lassen sich Locken auf der Glatze drehen

Weltneuheit: Berliner Forscher haben erstmals ein Haarfollikel aus Stammzellen gezüchtet

Statt Haare zu transplantieren ermöglicht die neue Methode, körpereigene Haare aus den Follikeln wachsen zu lassen

Manche Tierversuche werden überflüssig. Haarprodukte können künftig einfach an den Zellen getestet werden

Weltweit sind mehrere Hundert Millionen Menschen vom Haarausfall betroffen. Aus Kostengründen sind besonders Kliniken in Osteuropa und in der Türkei voll mit Männern aus Westeuropa, die sich Haare auf die kahlen Stellen ihres Kopfes transplantieren lassen. Biotechnologen der TU Berlin haben jetzt das weltweit erste Haarfollikel samt Haar im Labor gezüchtet. Als Haarfollikel wird das Organ bezeichnet, an dessen unterem Ende das Haar gebildet wird. Der aus körpereigenen Stammzellen im Labor gezüchtete Follikel ist zwar noch etwas dünner als ein normales Kopfhaar, wird in Zukunft aber nicht nur zur Implantation von neuem Haupthaar und der Erforschung des Haarausfalls dienen, sondern er wird auch Millionen von Tierversuchen überflüssig machen.

So werden bei der häufigsten Methode, der sogenannten Eigenhaartransplantation, Anteile der noch vorhandenen Haare so versetzt, dass sich eine gleichmäßigere Verteilung auf dem Kopf ergibt. Dabei wird die eigentliche Problematik, nämlich die genetische Veranlagung zum Haarausfall, letztlich nicht verändert, sondern die vorhandenen Haare werden nur regelmäßiger verteilt. Der programmierte Haarverlust lässt sich so nicht langfristig aufhalten.

Einem Team von Biotechnologen und Medizinern um Professor Roland Lauster ist es gelungen, künstliche Haarfollikel im Labor zu züchten. Diese Haarfollikel können schon jetzt als Testsysteme für die Erforschung der Ursachen des Haarausfalls zur Verfügung gestellt werden. Doch Lauster sieht in naher Zukunft auch sehr gute Chancen, die aus dem Eigenhaar gezüchteten Follikel in kahlen Schädeln der vom Haarausfall geplagten Männer zu implantieren. Dazu müssen aber, wie bei allen medizinischen Neuentwicklungen, zuerst noch klinische Studien durchgeführt werden, die eine Gefährdung des Menschen ausschließen und eine Wirksamkeit der Haarverpflanzung beweisen. "Die Vorbereitungen dazu sind schon im Gange", sagt Lauster.

Neben der Untersuchung von Haarwachstum, Haarstruktur- und Pigmentierung können an diesen Haarfollikeln auch die Wirksamkeit von Substanzen sowie deren toxische Nebenwirkungen getestet werden. Denn die Haut ist für Nanopartikel eigentlich fast undurchlässig - mit einer Ausnahme: dem Weg über die Haarfollikel. Deshalb bedient die neue Erfindung auch einen gigantischen Markt: die Untersuchung von neuen Kosmetika, Cremes und Salben. Denn die rasante Entwicklung von immer neuen pharmazeutischen Wirkstoffen ließ die Anzahl der Tierversuche in den letzten Jahren exponentiell ansteigen. "Seit 1950 ist die Entwicklung von neuen Chemikalien um das 500-Fache gestiegen, ebenso wie die Tierversuche zur Zulassung derselben", berichtet Lauster.

Um diese enorme Anzahl an Leid schaffenden Tierversuchen einzudämmen, ist eine künstliche Haut samt den Haarfollikeln ideal, da sie in einer Vorphase schon die meisten Tierversuche überflüssig macht. Denn wenn der Haarfollikel mit einer toxischen Substanz in Kontakt kommt, würde er einfach eingehen. Man brauchte sie also nicht mehr an Tieren auszuprobieren. Die Kosmetische Industrie darf in der EU sowieso seit 2009 Wirkstoffe, die einmalig angewendet werden, nicht mehr durch Tierversuche testen, und ab 2013 werden die Tierversuche auch für alle Wirkstoffe, die mehrfach am Menschen angewendet werden, verboten sein. "Da wäre eine im Labor gezüchtete Haut samt Follikel natürlich ideal", sagt Lauster.

Doch der Professor, der mit einem der schillerndsten Figuren der Biotechnologieszene, dem Mediziner Uwe Marx, zusammenarbeitet, will noch weiter hinaus: Die beiden Forscher wollen bis 2013 nicht nur den Haarfollikel als Testsystem etablieren, sondern auch andere Miniorgane wie eine kleine Leber, eine Mininiere und etwas Knochenmark züchten. Diese werden dann in einen Multiorgan-Biochip gesetzt und sollen so eine schnelle und sichere Methode darstellen, Kosmetika und pharmazeutische Wirkstoffe auf ihrem Weg zur Zulassung zu prüfen.

Dieser vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik entwickelte Chip ermöglicht die Versorgung von Zellen und Organoiden in einem geschlossenen Mikrokreislauf. "Große Systeme, wie eine komplette Leber oder eine Niere, nachzubauen hat bis jetzt noch nie richtig funktioniert, Miniorgane aber schon", erklärt Lauster. "Denn kleine Organe kann man relativ einfach über das umgebende Medium mit Nährstoffen versorgen, wogegen man für große Organe ein ganzes Blutsystem aufbauen muss." In den Kammern des Chips schaffen die Forscher ein Milieu, wie es auch in kleinen Organeinheiten herrscht. Dafür haben sie die Kammern mit einem Röhrensystem verbunden, das die Blutstrom simuliert. In diesem Ambiente sollen sich die jeweiligen Stammzellen so wohlfühlen, dass sie das machen, was sie in der Organogenese des normalen Organismus sowieso tun: nämlich auf bestimmte Weise zu kommunizieren, sich zu organisieren und so dann ein Organ aufzubauen. "In Zukunft wäre dann eine Großdurchsatztechnik, also bis zu hundert solcher Mikrochips aneinandergereiht, ideal, um die toxischen Wirkungen von Hunderten von Substanzen schnell und sicher abzuschätzen", erklärt Lauster.

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