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Moderne Lernstätten Mit der Pizza in die Bib

Der Weg ins digitale Zeitalter ist auch für ehrwürdige Bibliotheken unvermeidlich. Weil die Konstanzer Uni-Bib besonders fortschrittlich ist, wurde sie nun zum Primus des Jahres gekürt. Das Hochschulmagazin "duz" zeigt, was Bibliotheken tun müssen, um fit für die Zukunft zu sein.
Anna-Amalia-Bibliothek: Alte Bücherhallen sind schon hübsch, aber nicht mehr zeitgemäß

Anna-Amalia-Bibliothek: Alte Bücherhallen sind schon hübsch, aber nicht mehr zeitgemäß

Foto: Z1020 Martin Schutt/ dpa

Bitte Ruhe! Darauf hinzuweisen war bis vor wenigen Jahren die erste Pflicht im Leben eines Bibliothekars. Als der frühere Direktor der Konstanzer Universitätsbibliothek , Dr. Klaus Franken, vor neun Jahren Getränke an den Arbeitsplätzen zwischen den Regalreihen erlaubte, reagierten manche Kollegen angesichts dieses Sittenverfalls natürlich mit Unverständnis. Denn wer schlürft, der quatscht auch.

Einige Wochen zuvor hatte die Unibibliothek am Bodensee den 24-Stunden-Betrieb eingeführt. Am Eingang stellte sie ein Telefon auf, mit dem Leser nachts das Pizzataxi rufen konnten. Zum Auftakt aßen Rektor und Bibliotheksdirektor um Mitternacht Pizzastücke. Plakative Werbung für einen Ort, an dem so selbstverständlich geflüstert wurde wie sonst nur in der Kirche.

Der Mut, alte Gewohnheiten hinter sich zu lassen, hat sich gelohnt. In diesem Jahr führen die Konstanzer zum dritten Mal in Folge den Bibliotheksindex (BIX) an. Und am Wochenende nahm die Direktorin Petra Hätscher die Auszeichnung "Bibliothek des Jahres" am "Tag der Bibliotheken 2010" in Empfang.

Die Jury der Zeit-Stiftung zeigte sich begeistert von der "konsequenten Dienstleistungsorientierung". Das ist neben der Rund-um-die-Uhr-Öffnung der freie Zugang zu allen Büchern. Zudem punkteten die Konstanzer mit ihrer digitalen Bibliothek, ihrem eigenen Online-Publikationssystem sowie Schulung und Beratung für Forscher - kurz: ihrer Zukunftsorientierung.

Große Schritte in die digitale Welt

Das ist die wichtigste Botschaft: Die wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland haben fünf Jahrhunderte nach dem Tod des Buchdruck-Erfinders Johannes Gutenberg eine Zukunft. Die Unibibliotheken stecken in einem Wandel wie nie zuvor. Was Forscher und Studenten schon immer unter dem Arm aus der Bücherkammer trugen, ist heute mit einem Mausklick von jedem Ort der Welt abrufbar. Es gibt eine ständige Flut neuer Daten. Die Unibibliotheken investieren inzwischen ein Drittel ihres 244 Millionen EuroEtats für Neuerwerbungen in elektronische Publikationen.

Damit schreiten sie mit großen Schritten von der analogen in die digitale Welt. Das bleibt natürlich nicht unbeobachtet. Dutzende Experten passen auf, ob die Bibliotheken in Deutschland die richtige Richtung einschlagen. Der Wissenschaftsrat wird im Januar Empfehlungen zur Forschungsinfrastruktur und den bibliothekarischen Verbundsystemen vorlegen. Und im März wollen 130 Experten der Kommission "Zukunft der Informationsstruktur" ein Gesamtkonzept für die Fachinformationsstruktur in Deutschland vorlegen.

Aus Sicht der Experten ist der erste Schritt in die digitale Welt schon gemacht. In einer ihrer Vorlagen nannte die Kommission "Google & Co" in einem Atemzug mit gedruckter Literatur. Die Experten erklärten, Wikis, Blogs und neue Dienste wie Twitter würden massiv in die Arbeit wissenschaftlicher Gemeinschaften integriert.

In dieser neuen Welt suchen die Unibibliotheken nach ihrem Platz. In Passau antwortet der Direktor der Unibibliothek, Dr. Steffen Wawra, auf die Zukunftsfrage mit dem Begriff der "embedded library". Die Bibliothek müsse viel mehr in die Lebens-, Lern- und Lehrgewohnheiten eingebettet werden, vom Angebot elektronischer Medien bis hin zur Architektur.

Lernen in der "Hybriden Bibliothek"

Die Bibliothek der Uni Konstanz hat deshalb verschiedenen Buchbereichen von Geistes- bis Naturwissenschaften eigene Gruppen im sozialen Netzwerk Facebook gegeben. Die Kollegen der Ludwig-Maximilians-Universität in München erklären den Nutzern ihrer Bibliothek ihre Serviceangebote mit Filmen auf dem Video-Portal "You Tube". Solche Trends zu verschlafen, davor warnt Dr. Frank Simon-Ritz, Direktor der Unibibliothek Weimar: "Es ist für die Bibliotheken die größte Gefahr, dass diese Dinge ohne sie stattfinden." Und damit meint er nicht nur populäre Trends, sondern vor allem das gesamte Angebot an digitaler Information. Ein anderer Trend bringt Simon-Ritz und seine Kollegen allerdings langsam um den Schlaf: Leser strömen in die Unibibliotheken wie lange nicht mehr.

Wegen der intensiven Lernarbeit in den Bachelor-Studiengängen sind Gruppenarbeitsräume gefragt wie nie. Statt Bücher hinaus, tragen Studenten Laptops in die Bibliotheken hinein. Deshalb werden etliche Häuser ausgebaut. Beispiel Freiburg: Hier entsteht bis 2014 für 44 Millionen Euro ein Palast aus Glas und Aluminium.

Und das ist keine Fehlinvestition. Denn als Schnittstelle zwischen den Technologien und den Informationen wird die Unibibliothek weiterhin Menschen anziehen. Bibliothekare werden überall zu "Personal Librarians", zu individuellen Lotsen im Informationsozean. Die Chefin der Unibibliothek Bochum, Dr. Erda Lapp, nennt ihr Haus den "gateway" zum globalen Wissen. "Die Bibliothek muss der Grund sein, warum junge Leute an dem Ort studieren und Wissenschaftler dort lehren und forschen wollen."

Die Datenwelt für Forscher und Studenten im Netz erschließen und zugleich beliebter Arbeitsplatz sein, diese Idee bündelt der Begriff der "Hybriden Bibliothek". Es ist die Idee vom zweiten Leben der Bibliothek nach dem Ende der Vorherrschaft des gedruckten Wortes in der Wissenschaft. "Die moderne Bibliothek als moderner Dienstleister kann und macht (fast) alles", sagt der Direktor der Unibibliothek Wuppertal, Uwe Stadler.

Das zeigt sich schon jetzt an den vielen Baustellen, die sie gleichzeitig bearbeiten muss, um den Weg ins digitale Zeitalter zu schaffen.

Das Magazin "duz" zeigt sieben entscheidende Punkte, an denen Bibliotheken arbeiten müssen, um fit für die Zukunft zu sein:

Neue Lernräume

Nicht nur in Wuppertal und Freiburg schaffen die Unibibliotheken Platz für mehr Besucher. Die Uni Tübingen, die 2002 neue Leseplätze einrichtete, stockte nach fünf Jahren um hundert weitere Plätze auf. Der Grund: Häufig war die Bibliothek so überfüllt, dass es keine freien Arbeitsplätze gab. Bis ins vergangene Jahr wurde die Unibibliothek Münster für 15 Millionen Euro saniert und erweitert. Mit inzwischen bis zu 7000 Besuchern täglich sieht sie sich als "das Zentrum des universitären Lebens".

Das gilt auch in Berlin. Das im Herbst 2009 eröffnete Grimm-Zentrum der Humboldt-Uni stieß mit 3000 Nutzern pro Tag an die Grenzen seiner Kapazität. Die Unibibliothek Göttingen schafft bis 2011 weitere 750 Arbeitsplätze, darunter schallgedämmte Zimmer und Räume für Studenten, die ihre Kinder beim Lernen dabei haben möchten.

Kompetenz vermitteln

Als das Bundesforschungsministerium 2001 die Fähigkeit von Hochschullehrern und Studenten untersuchen ließ, elektronisch verfügbare Informationen zu nutzen, lautete das Ergebnis: mangelnde Kenntnis und Halbwissen (www.stefi.de). Neun Jahre später haben die Hochschulbibliotheken nach Ansicht von Dr. Wilfried Sühl-Strohmenger, Leiter des Infodienste-Dezernats an der Unibibliothek Freiburg, erkannt, dass die Vermittlung solcher Kompetenzen "zu ihren neuen Kernaufgaben gehört". Nachdem sich die Bibliotheken im ausgehenden Jahrzehnt vor allem um die Studenten kümmerten, werden sie nach Ansicht mancher Experten in den kommenden Jahren zunehmend Forschern unter die Arme greifen müssen. Denn die aktuellste und vor allem maßgebende Forschungsliteratur zu finden, wird immer komplizierter.

Langzeitarchivierung

Früher sorgten sich Bibliothekare um alte Folianten. Die elektronische Datenverarbeitung hat ihren Kummer vervielfacht. Denn obwohl die 3,5-Zoll-Diskette noch immer als Speichersymbol in Programmen wie Word gilt, ist sie ein kaum noch lesbares Speichermedium. Das EU-Projekt "Planets" beziffert den Wert vom Verfall bedrohter Dateien auf drei Milliarden Euro.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Suche nach neuen Verfahren. In dem durch die Stanford University organisierten Projekt "Clockss"  wird jedes Dokument an sieben verschiedenen Orten gespeichert. Doch der Prozess stockt. Laut Experten sind noch viele rechtliche, technische und finanzielle Fragen zu beantworten. Bereits 1993 hatte die Kultusministerkonferenz angeregt, ein bis drei Prozent des Erwerbungsetats zusätzlich für Bestandserhaltung auszugeben. Die Empfehlungen wurden aber kaum beachtet, klagt das "Forum Bestandserhaltung".

Digitalisierung und Sicherung von Primärdaten

Der Scanner ist seit Jahren eines der wichtigsten Geräte in den Unibibliotheken - und wird es bleiben. Er knackt Tag für Tag neue Tresortüren zur Vergangenheit. So hat die Unibibliothek Heidelberg in ihrem Digitalisierungszentrum 270.000 Seiten mittelalterlicher Handschriften gescannt.

Die britische Uni Cambridge will dank einer 1,7-Millionen-Euro-Spende ihren gesamten Bestand digitalisieren und damit zur "Bibliothek der Welt" werden. Was früher nur in gesicherten Räumen und mit weißen Handschuhen einsehbar war, können sich Wissenschaftler mit einem Klick nach Hause holen. Die Nachfrage steigt. Das Digitalisieren ist ein Hauptgeschäft der Bibliotheken geworden.

Eine Baustelle, die abgesteckt ist, aber noch brach liegt, ist das Sichern von Forschungsrohdaten. Seit 1998 ist durch die Regeln der DFG zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis klar: Primärdaten sollen für zehn Jahre aufbewahrt werden, zumindest wenn sie Grundlage einer Veröffentlichung sind. Knapp zehn Jahre später wurde auf einer DFG-Tagung konstatiert, die Vorschrift sei kaum bekannt, die Daten würden meist nicht publiziert und ihre Sicherung sei oft nicht geregelt.

Das von der Technischen Informationsbibliothek (TIB) der Universität Hannover mit internationalen Partnern gegründete Konsortium "DataCite"  sucht nach Standards des Zugangs. Nach Ansicht von Experten wird das Sichern von Primärdaten künftig zu einer wichtigen Aufgabe der Hochschulbibliotheken.

Verlegerische Aufgaben

Manche Forscher meiden Verlage, andere finden keinen. Deutsche Unibibliotheken steigen in diesen Markt zunehmend mit eigenen Verlagen ein. Der Vorteil: Das Buch erhält eine ordentliche ISBN-Nummer und ist über Buchhandelsverzeichnisse recherchierbar. Trotzdem bleiben die Kosten überschaubar. Universitäten wie Bonn, Wien, oder Osnabrück arbeiten dabei wiederum mit Verlagshäusern zusammen, die technische Abläufe und Vertrieb schultern.

E-Books und Mobile Endgeräte

Die Münchner Unibibliothek nimmt für sich in Anspruch, vor sechs Jahren als erste in Deutschland E-Books angeboten zu haben. Heute hat sie 15.000 E-Books im Angebot. Leser-Generationen, die lieber mit dem Stift am Rand Notizen machen, weichen Nutzern, die Text und Leseprogramme nutzen. Zudem gibt es mit "PaperC"  eine Lösung für das Lesen, Bearbeiten und Kopieren von Fachbüchern im Internet.

E-Books sind überall und jederzeit verfügbar, zumindest so lange die Bibliothek die Lizenz hält. Bei einer Umfrage unter den Nutzern der Frankfurter Unibibliothek zeigte sich, dass die Leser die Möglichkeit schätzen, das Buch nach Stichworten zu durchsuchen. Der Direktor der Mainzer Unibibliothek, Dr. Andreas Anderhub, nannte in einem Zeitungsinterview noch einen anderen Vorteil: Gedruckt hätten all die Bücher gar keinen Platz mehr, "das digitale Zeitalter war die Rettung".

Noch nutzen Studenten und Forscher für die Arbeit vor allem ihr Note oder Netbook. Doch geht der Hype um mobile Endgeräte, also Smartphones und Tablet-PC's, an der Hochschulwelt nicht vorbei. Die Uni Weimar probierte in einem Testlauf drei verschiedene Gerätetypen.

An der Uni Münster verleiht die Medizin-Bibliothek iPads an Ärzte, damit sie am Krankenbett Nachschlagewerke zur Hand haben. Die Bayerische Staatsbibliothek bietet historische Handschriften als "App" an. Viele Forschungsbibliotheken testen, wie man die Katalog-Recherche und das Ausleihen von Medien über das Smartphone abwickeln kann.

Open Access

Hinter diesem Thema verbirgt sich nicht nur eine Baustelle, sondern eine Schlacht. Open Access ist die Vision der Wissenschaftler, Texte frei zugänglich zu machen, ohne von Verlagen abhängig zu sein. Für die Unibibliotheken steckt hinter dem Modell die Hoffnung, das Zeitschriften-Monopol von Verlagen wie Springer oder Elsevier zu knacken und Unsummen für Zeitschriften-Abos zu sparen. Die einen betonen die Bedeutung des freien Zugangs zu Wissen und die bereits öffentliche Finanzierung der Forschung, die anderen rücken die zusätzlichen Leistungen der Verlage in den Vordergrund. Viele Bibliotheken bieten inzwischen eigene Open-Access-Portale an. Die "Bielefeld Academic Search Engine", eine der größten Suchmaschinen für frei zugängliche wissenschaftliche Dokumente, hat 25 Millionen Dokumente auf 1700 Servern erfasst. Unibibliotheken in Saarbrücken, Berlin, Göttingen und Stuttgart arbeiten DFG-gefördert an einer "Open Access Statistik", die den umstrittenen Impact Factor ergänzen soll. Die Experten treffen sich am 13. und 14. Dezember in Köln: www.oaod2010.de  

Frank van Bebber ist Journalist in Frankfurt/Main.

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