Die Kritik an Fehlentwicklungen in migrantischen Parallelgesellschaften ist sicherlich oft berechtigt. Chauvinistische und Frauen verachtende Einstellungen müssen kritisiert werden ebenso ein totalitär-religiöses Weltbild, wenn es zu konsequenter Ablehnung aller liberalen Errungenschaften westlicher Zivilisationen führt.

Leider wird der Ausdruck "migrantische Parallelgesellschaft" jedoch derzeit fast nur negativ konnotiert – als gäbe es nicht auch vollkommen unauffällige, friedfertige migrantische Parallelgesellschaften, wie es sie seit jeher in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Ferner wird diese Kritik ungerechterweise selten an den nicht-migrantischen Parallelgesellschaften geübt, von denen es ebenfalls nicht wenige hierzulande gibt.  Schließlich leben wir in einer hoch individualisierten, äußerst heterogenen Gesellschaft, die sich aus vielen Parallelgesellschaften zusammensetzt – und diese verschiedenen nicht-migrantischen Parallelgesellschaften und gesellschaftlichen Randgruppen gehen ebenfalls keineswegs nur friedfertig miteinander um, wie auf Demonstrationen, in Fußballstadien und andernorts beinahe täglich sichtbar wird. Überhaupt: Wer definiert, was in einer Gesellschaft die vermeintliche "Haupt-Gesellschaft" und was eine Parallelgesellschaft ist?

Hört die Haupt-Gesellschaft wirklich noch auf Goethe und Gutenberg oder doch eher auf Dieter Bohlen und Eminem? Folgt man der aktuellen, geradezu hysterisch geführten Debatte, so könnte man glauben, eine unisono liberale, aufgeklärte, gebildete, gewaltfeindliche, friedfertige, frauen-, kinder- und umweltfreundliche, hochmoderne und doch sanft am Christentum orientierte, und vor allem: homogene Gesellschaft verteidige ihre Werte und ihr Wesen gegen eine fundamentalistisch-rückständige Bedrohung muslimisch-migrantischer Provenienz. Doch dieser Dualismus ist vollkommen wirklichkeitsfremd.

Nach dem die sogenannte Integrationsdebatte, befeuert von den populistischen und zum Teil sachlich schlicht falschen Äußerungen vom ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin, quer durch alle Lager diskutiert wurde, ist gerade eine bemerkenswerte Studie erschienen: Die Studie "Die Mitte in der Krise. Rechtsextremismus in Deutschland 2010" haben Leipziger Wissenschaftlicher im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt. Ihre Vorläufer hat sie in den Studien zu rechtsextremen, Gewalt verherrlichenden und menschenverachtenden Einstellungen in Deutschland – "Vom Rand zur Mitte“ (2006) und "Ein Blick in die Mitte“ (2008).

Der derzeitigen öffentlichen Debatte um die mangelnde Integrationsbereitschaft einiger Migranten und um die geistige Verfasstheit eines großen Teils der Nicht-Migranten, in deren Mitte erstgenannte sich bitteschön ordentlich hinein integrieren sollen, geben die Ergebnisse dieser Studie eine unerwartete Pointe: Ein paradoxer Befund der Studie ist, dass die Motive der schärfsten Migranten-und-Parallelgesellschaften-Kritiker oftmals selbst alles andere als fortschrittlich sind.

Demnach speist sich die Ablehnung vieler Deutscher vor allem gegen muslimische Migranten selbst aus zutiefst undemokratischen und oft menschenverachtenden Ressentiments. Sie singen nicht das Hohelied der Aufklärung und der "open society", sondern machen mit zum Teil rechtsextremen Vorstellungen gegen eine angebliche Überfremdung mobil (über die vor allem diejenigen klagen, in deren Regionen die wenigsten Ausländer in Deutschland leben). Sie sind nicht viel weniger antisemitisch und chauvinistisch gesinnt, als die von ihnen als fremd empfundenen und abgelehnten muslimisch geprägten Migranten.

Nach unten treten, nach oben buckeln: Der zunehmende Hass gegen sozial Schwächere geht einher mit einer wachsenden Akzeptanz autoritärer Gesellschaftsmodelle: Gut jeder vierte Deutsche wünscht sich laut der Umfrage der Friedrich-Ebert-Studie eine "starke Partei", die die "Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert". Mehr als jeder Zehnte sehnt sich nach einem "Führer", der "Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert" und hält die Diktatur für "die bessere Staatsform".

Zurecht analysiert eine Kommentatorin die Ergebnisse der Ebert-Studie: "Während autoritäres Denken, körperliche Gewalt in der Erziehung und Antisemitismus gerade bei vielen Migranten aus muslimisch geprägten Gesellschaften verbreitet sind, werden gerade diese Muslime konfrontiert mit den Ressentiments der narzisstisch gekränkten, krisenverunsicherten Deutschen. Zwei demokratieferne Gruppen antagonisieren einander."

Die deutsche Leitkultur schrumpft demnach zu einem sozialdarwinistischen Index, der Zugehörigkeit nur akzeptiert, wenn er vermeintliche ökonomische Vorteile mit sich bringt. Von wegen Goethe, Humboldt oder Schiller – alles, was zählt, ist das ökonomische Kalkül und die klamm-diffuse Vorstellung, etwas Besseres zu sein, während "die Anderen" Sozialschmarotzer sind, kulturferne obendrein.