10.11.2007 / 22:21 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Die Abrechnung – Teil 1 (122-134)


Foto: Kathrin Passig
Fast hätte man es vergessen: Nebenbei lese ich auch noch dieses Buch von einem Mann namens Penrose und bin mittlerweile beim Kapitel 7, "Complex-number calculus", angelangt, in dem es also um das Differenzieren und Integrieren von komplexen Funktionen geht. Zugegeben, Penrose hat schon dreissig Seiten vorher mehr als deutlich klargemacht, dass er im Kapitel 7 keinen Leser mehr antreffen will (Eltern haften für ihre Kinder), und zwar durch die brutale Einführung des komplexen Logarithmus auf den Seiten 90-99. Ausserdem kann man sich über mangelnde Vorwarnung nicht beklagen, denn auf den Einband steht in paraphrasierter Form in wenig freundlichen Lettern: "Panik!".

Andererseits verwendete Penrose ganz am Anfang zwei volle Seiten darauf, die Zahl "drei Achtel" zu erklären, später ebenfalls zwei Seiten für die Erklärung eines Quadrats. Zum Vergleich ein paar Beispiele aus Kapiteln 6 und 7: vier lächerliche Sätze für Diracs Delta-Funktion, eine Seite für holomorphe Funktionen, eine halbe für homologe und homotope Klassen, und lachhafte fünf Seiten für die analytische Fortsetzung komplexer Funktionen. Am Schluss von Kapitel 7 werden in einem einzigen kurzen Absatz Dirichlet-Reihen und die Riemannsche Zetafunktion samt Riemann-Hypothese zusammengepfercht, unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Wenn man an einer deutschen Universität Physik studiert, kommt man ungefähr im zweiten Semester erstmals mit komplexen Zahlen in Kontakt, und ungefähr im vierten Semester darf man sich dann mit "complex number calculus" befassen. Was Penrose hier in 12 Seiten abreisst, dafür schreiben Dozenten normalerweise cirka 30 Stunden lang Tafeln voll (macht etwa 200 Tafeln), und zwar vor kriegsgestählten Studenten, und trotzdem versteht es nur die Hälfte (optimistische Schätzung).

Zudem begeht Penrose, der sanfte Engländer mit den feingeschnittenen Gesichtszügen, eine Reihe von Anfängerfehlern, die unter anderen Umständen (Arktis, Himalaja) normalerweise automatisch zum Tode führen: Zuerst fallen in kurzen Abständen abschreckende Dinge wie die Cauchy-Riemann-Gleichungen, Taylor-Reihen, Ringintegrale, die Cauchy-Gleichung (nicht zu verwechseln mit den Cauchy-Riemann-Gleichungen) und noch aller möglicher anderer Unfug vom Himmel. So verwirrt hilft es auch nicht zu erfahren, dass dieses Zeug irgendwann später im Buch (oh my god) erklärt werden wird. Und es ist zudem überhaupt nicht aufbauend, davon zu lesen, dass die Formel, die man eben in keiner Weise verstanden hat, weil sie in keiner Weise erklärt ist, für so unfassbar viele Bestandteile der Wirklichkeit von fundamentaler Bedeutung ist, dass man sich fragt, wieso man jetzt erst davon hört. Nach dieser Trias an Entmutigungstechniken blickt man ungetröstet am ausgemergelten Leib hinab und beginnt, sich Sorgen um die Zukunft zu machen.

Wieso ist dieses Buch ein Sunday Times Bestseller? Wieviele Menschen haben dieses Buch wirklich bis zum Ende gelesen? Wieviel sind auf dem Weg umgekommen? Werde ich der Erste sein, der den Gipfel bezwingt? Man kommt sich vor wie Edmund Hillary, der auch nicht wusste, ob Mallory vor ihm auf dem Everest war oder nicht. Einziger Hoffnungsschimmer: Heute die ersten 20 Seiten vom grossen Gatsby gelesen, zäher, langweiliger Schleim ohne eine einzige Leiche.

Hilfreicher Hinweis: Nie das Inhaltsverzeichnis lesen, nie durch den verbleibenden Rest des Buches blättern.

134 von 1049 Seiten

Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (5) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Sind Sie das Herr Dr. Scholz? Das wäre das einzige, worauf ich mir in Ihrem Beitrag einen Reim machen kann.

11.11.2007 / 04:11

Kommentar #2 von Aleks:

So? Was ist denn sonst unklar?

11.11.2007 / 13:24

Kommentar #3 von schuehsch:

Ich mag vor allem den Wollsocken unten links im Bild. Also den Fuss mit Wollsocke, ihr wisst schon.

11.11.2007 / 23:45

Kommentar #4 von Frau Grasdackel:

Ihr Beitrag an sich, Herr Dr. Scholz, ist schon verständlich, vor allem der Satz, dass Penrose schon dreissig Seiten vorher mehr als deutlich klargemacht hat, dass er im Kapitel 7 keinen Leser mehr antreffen will. Aber was soll man mit den vielen Formeln, Gleichungen, Reihen anfangen, wenn man noch nicht mal Descartes' 2+3=5 trauen kann? (Ich bin erst bei der ersten Meditation...)

12.11.2007 / 03:33

Kommentar #5 von Brett:

Die Idee, ein Buch zu Ende lesen zu müssen, zumal ein Sachbuch, kommt mir altertümlich vor. Es muss doch irgendwo auf der Welt enen Menschen geben, der so einen Wälzer herunterschlürft wie Cola und dann in seinem Blog eine handhabbare Executive Summary liefert. Es wäre seit Menschengedenken der erste Fall, dass ein grosser Gedanke am Ende nicht ganz einfach und ergreifend, sondern tatsächlich schwierig wäre. Glaube ich nicht. Ah, was sagt Wiki? Die letzten Kapitel eien der persönlichen Perspektive gewidmet?! Penrose ist dort optimistisch bezüglich seiner eigenen Theorien, skeptisch gegenüber der Stringtheorie?! Und dafür erst mal 390 Seiten Hochleistungs-Mathematik?! Übrigens, Lichtenberg, gewesener Physiker, war der Ansicht, aus jedem Buch behielten wir am Ende nicht mehr als eine ganze einfache Abstraktion. So etwas wie: "Dieses Buch legt dar, dass ..." Bitte, den Satz hätte ich dann gerne später fürs Party-Gespräch.

27.09.2010 / 10:55