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Genetik Happy und ihre Brüder

Wie gelingt es, ein Jahrhundert lang gesund und vital zu bleiben? Mediziner und Biologen untersuchen Hundertjährige, um das Geheimnis der Langlebigkeit zu entschlüsseln. Eine Begegnung mit den Geschwistern Kahn - 108, 104 und 100 Jahre alt.

Helen, 108, verabscheut Salat, Gemüse, frühes Aufstehen und das gesunde Leben überhaupt. Sie liebt kurzangebratene Hamburger, Schokolade, Cocktails und das Nachtleben von New York - die exotischen Restaurants, den Broadway, das Kino, in dem sie sich zuletzt "Iron Man 2" anschaute, und die Metropolitan Opera. Dort hat sie im Jahr 1918 "Samson et Delila", ihre erste Oper, erlebt. Es war ein Geschenk ihres Vaters zum 17. Geburtstag.

Rauchen

Ach ja, und das natürlich: "Ich habe mehr als 80 Jahre lang geraucht, den ganzen Tag, jeden Tag, es waren ganz schön viele Zigaretten", gesteht Helen, die seit Kindertagen nur "Happy" gerufen wird, "die Glückliche", und lässt sich kichernd in ihren plüschweichen Sessel zurückfallen. So klein und zierlich ist die 108-Jährige, dass sie beinahe darin verschwindet. Sie trägt eine Bundfaltenhose, Ballerinas, ein rosa Strickjäckchen mit Rüschen, einen passenden Schal und viele lange Perlenketten. Ihre kurzen hellbraunen Locken sind perfekt geföhnt; sie hat Rouge und Lippenstift aufgelegt. Zart und fast fleckenlos ist ihre Haut, die braunen Augen hinter der Brille funkeln vergnügt.

Schlaganfall

Seit einem vor fünf Jahren ist ihre Aussprache etwas undeutlich; doch ihr Geist ist wach, ihre Entdeckungsfreude ungetrübt und ihr Gedächtnis oft besser als dasjenige ihrer 37-jährigen philippinischen Betreuerin. In diesen Tagen ist sie erkältet und soll sich schonen - deshalb empfängt sie in ihrer Wohnung in der Park Avenue und nicht beim Inder um die Ecke oder in einem anderen ihrer Lieblingsrestaurants. "Aber am Samstag", sagt Happy, richtet sich schon wieder auf und strahlt, "am Samstag verabreden wir uns mit meinem Bruder Irving zum Lunch. Okay?"

Happy wurde zum Fall für die Wissenschaft

Helen Faith Keane Reichert, geboren am 11. November 1901 auf Manhattans Lower East Side als Tochter polnisch-jüdischer Einwanderer, ist diplomierte Psychologin, Modeexpertin, ehemalige Fernsehmoderatorin und emeritierte Professorin für Marketing an der New York University. Sie war verheiratet mit einem Kardiologen; Kinder hat sie nicht. Als ihr Mann vor 25 Jahren 88-jährig starb, reiste die damals 84-Jährige um die Welt, nach Irland, Spanien, Italien, in die Türkei, nach Ägypten, China, Japan und Australien - ihre Art, den Verlust zu verarbeiten. "Nur in Indien war ich nicht", sagt sie, "da würde ich gern mal hin."

Auf ihre alten Tage nun ist Happy, die Unverwüstliche, zum Fall für die Wissenschaft geworden - gemeinsam mit ihren Brüdern Irving, 104, und Peter, 100, und ihrer 2005 im Alter von 102 Jahren verstorbenen Schwester Lee.

Das wohl älteste Geschwisterquartett der Welt hat Blutproben abgegeben und sich viele Stunden lang von Altersforschern aus Boston und New York interviewen lassen - um bei der Klärung von Fragen zu helfen, die angesichts der alternden Gesellschaft in den Industrieländern immer drängender werden: Wie schaffen es manche Glückspilze, 100 Jahre und länger zu leben - und dabei auch noch so unerhört gesund und aktiv zu bleiben? Wie kann es sein, dass Hundertjährige das Gesundheitssystem im Schnitt deutlich weniger belasten als Normalsterbliche?

Um 100 zu werden, braucht man eine besondere genetische Ausstattung

Demografen haben errechnet, dass die Lebenserwartung der Menschen in der entwickelten Welt seit über 170 Jahren um durchschnittlich drei Lebensmonate pro Jahr steigt. In Deutschland liegt sie für Frauen derzeit bei 82, für Männer bei 77 - und ein Ende des Trends ist nicht in Sicht. Doch wie lässt sich verhindern, dass sich parallel dazu die typischen Leiden des Alters ausbreiten - langwierige Gebrechen wie Arteriosklerose, Diabetes, Krebs und Alzheimer? Lassen sich aus den Lebensabläufen der Jahrhundertmenschen Rezepte gegen das drohende Siechtum in einer vergreisenden Gesellschaft ableiten?

Rund 50.000 über Hundertjährige soll es in den USA geben, in Deutschland immerhin knapp 6000. Einer von sieben Millionen lebt gar 110 Jahre und länger - für diese Urgesteine gibt es im Englischen einen eigenen Begriff: "Supercentenarians". Weltweit, auch in Deutschland, fahnden Forschungsteams seit einiger Zeit nach Hundert- und Super-Hundertjährigen, um in deren Genen, Krankenakten und Lebensgeschichten nach Erklärungen zu suchen.

Hundertjährige sind eine Klasse für sich

Der israelische Mediziner Nir Barzilai und seine Mitarbeiter am Institut für Altersforschung des Albert Einstein College in New York haben Hunderten Hundertjährigen Hunderte Fragen gestellt, unter anderem zu Lebensumständen, Ernährung, Alkoholkonsum, Rauchen, körperlicher Aktivität, Schlaf, Bildung, Status und Spiritualität - in der Hoffnung, auf Gemeinsamkeiten zu stoßen.

Das Resultat ist ernüchternd: "Es gibt keine Muster", konstatiert Barzilai, 54. "Die üblichen Empfehlungen für ein gesundes Leben - nicht rauchen, nicht trinken, viel Sport, ausgewogene Ernährung, kein Übergewicht -, die gelten für uns Durchschnittsmenschen", so der Forscher, "aber nicht für sie. Hundertjährige sind eine Klasse für sich." Er holt Tabellen aus einer Schublade, rückt seine Brille zurecht und liest vor: "Mit 70 Jahren waren 37 Prozent unserer Probanden nach eigener Aussage übergewichtig, 8 Prozent fettleibig. 37 Prozent waren Raucher, im Schnitt 31 Jahre lang. 44 Prozent sagen, sie hätten sich in Maßen bewegt. 20 Prozent haben null Sport getrieben."

Barzilai ist es wichtig, nicht missverstanden zu werden: "Der Lebenswandel trägt schon dazu bei, ob jemand mit 85 stirbt oder bereits mit 75." Aber um 100 zu werden, so der Forscher, brauche man eine besondere genetische Ausstattung. "Diese Menschen altern anders. Langsamer. Am Ende sterben sie zwar an denselben Krankheiten wie wir - aber 30 Jahre später und meist schneller, ohne langes Dahinsiechen."

Andere Altersforscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen: "Ich habe leichtes Übergewicht und mache wenig Sport", sagt Stefan Schreiber, 48, Leiter der Forschungsgruppe Gesundes Altern an der Universität in Kiel, die ebenfalls Studien mit Hundertjährigen durchführt. "Wenn ich fest daran glaubte, dass es einen Unterschied macht, würde ich das ändern."

Gewiss seien Fettleibigkeit, Rauchen oder krasse Bewegungsarmut nicht förderlich für die . Ein Patentrezept aber, wie man leben, essen oder sich verhalten müsse, um bis ins hohe Alter gesund zu bleiben, hätten all die Befragungen nicht ergeben: "Keiner unserer Hundertjährigen hat eine Algendiät gemacht", spottet er. Eine Gemeinsamkeit allerdings sei ihm doch aufgefallen, berichtet Schreiber: "Viele haben in ihrem Leben nur eine einzige Frau geküsst." Geküsst, wohlgemerkt, wiederholt er und lacht. "Vielleicht ist das ja die Essenz, warum jemand 100 wird?"

"Dinge lernen, die man noch nicht kann - das hält jung!"

Happys kleiner Bruder Irving, 104, ist an Arbeitstagen zwischen 8.30 und 15.30 Uhr eine Parallelstraße und drei Blocks vom Apartment seiner Schwester entfernt in seinem Büro im 22. Stock eines Wolkenkratzers an der Madison Avenue anzutreffen. Kahn Brothers heißt die Investmentfirma, die er 1978 mit zwei seiner drei Söhne gegründet hat; der ältere Sohn, heute 72, ging allerdings vor fünf Jahren in Rente.

Irving Kahn, ein kleiner, rundlicher Mann mit akkurat nach rechts gescheiteltem Haar, Lesebrille und Hörgerät, sitzt hinter einem Flachbildschirm, vor ihm auf dem Schreibtisch liegen Papierstapel und eine große Lupe. Er denkt nicht ans Aufhören: "Ich interessiere mich für viele verschiedene Branchen und Technologien", erklärt er, "und ich lese leidenschaftlich gern. Deshalb ist Investor der perfekte Job für mich." Seit dem Tod seiner Frau vor 14 Jahren arbeite er sogar noch mehr: "Ich habe einfach niemanden mehr gefunden, der so interessant wäre wie die Frau, mit der ich 65 Jahre lang das Bett geteilt habe."

Sein Debüt an der Wall Street gab Kahn, nach einem abgebrochenen Studium und Lehrjahren als Assistent des legendären Wirtschaftswissenschaftlers Benjamin Graham an der Columbia University, im Jahr 1928. Als kurz darauf die große Depression das Land erfasste, sei er noch glimpflich davongekommen, erzählt er: "Mein Lohn wurde auf 60 Dollar pro Woche gekürzt. Ich erinnere mich, wie mein Chef mich fragte: Warum gucken Sie so fröhlich? Und ich antwortete: Ich dachte, Sie würden mich feuern."

Was ist sein persönliches Rezept für ein 100-jähriges Leben? Irving reckt Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger in die Höhe und beginnt zu dozieren: "Erstens muss man sich gesund ernähren, mit viel Gemüse und Salat. Zweitens: viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Drittens: nicht trinken, nicht rauchen. Ich trinke höchstens alle drei Monate ein Glas Wein."

Unsere Probanden sind in der Regel extrovertiert und kontaktfreudig

Ringfinger und kleiner Finger schnellen nun ebenfalls empor, der alte Herr redet sich in Schwung: "Viertens, man muss immer in Bewegung bleiben, offen sein, Menschen von überall auf der Welt kennenlernen. Und fünftens viele Interessen haben und Dinge lernen, die man noch nicht kann - das hält jung!"

Aber was ist mit seiner ältesten Schwester? Irving schüttelt den Kopf und grummelt vor sich hin. "Schon klar", sagt er dann, ein wenig verschnupft, "das ist ein alter Witz in unserer Familie. Happy liebt es, sich mit einer Zigarette in der einen Hand und einem Cocktail in der anderen fotografieren zu lassen."

Irvings Gebote vier und fünf allerdings sind wissenschaftlich bestätigt: "Wir haben ein paar interessante Persönlichkeitsmerkmale gefunden", sagt Tom Perls, 50, von der Boston University, der die New England Centenarian Study leitet, die größte Hundertjährigen-Studie der Welt mit rund 2600 Teilnehmern. "Unsere Probanden sind in der Regel extrovertiert und kontaktfreudig und haben ein stabiles soziales Netz."

Außerdem seien sie nicht neurotisch - sie haderten nicht mit den Widernissen des Lebens, und sie beherrschten die Kunst des Loslassens. Ähnliches berichtet der Kieler Mediziner Stefan Schreiber: "Diese Wachheit des Geistes, die Offenheit, das ist bemerkenswert - zumal diese Leute ja kein einfaches Leben hatten, sie haben Kriege, Hunger und Armut erlebt."

"Ich habe ehrlich keine Ahnung, warum ich so alt geworden bin"

Lässt sich das Leben also mit Lebensfreude und Optimismus verlängern? Oder sind Hundertjährige eben von Natur aus mit einem sonnigen Gemüt gesegnet und darum weniger anfällig für Stress und Krankheiten? "Wie viel davon genetisch bedingt ist, wissen wir nicht", sagt Perls. "Aber wir lernen, dass es nützlich ist, aus sich herauszugehen."

"Ich habe ehrlich keine Ahnung, warum ich so alt geworden bin", sagt Peter, 100, das Nesthäkchen der Familie Kahn. Er habe "absolut normal" gelebt, nie groß auf seine Gesundheit geachtet und auch nie groß über sein Alter nachgedacht, beteuert er.

Wie seine Schwester Happy amerikanisierte auch Peter einst seinen Nachnamen. Als Peter Keane machte er im Showbusiness Karriere - als Fotograf und Kameramann in Hollywood. Er war dabei, als Ende der dreißiger Jahre "Vom Winde verweht" gedreht wurde. Und als die junge Judy Garland am Set von "Der Zauberer von Oz" ihr legendäres "Over the Rainbow" gesungen habe, so erzählt es Peter, sei die gesamte Crew in Tränen ausgebrochen.

Körperlich ist der Jüngste zugleich der Gebrechlichste der drei. Vor drei Jahren ist er erblindet; seit einem unglücklichen Sturz trägt er eine Halskrause. Sein Haus in Westport, Connecticut, verlässt er kaum noch. Am liebsten sitzt er vor dem Kamin im Wohnzimmer und hört sich Krimis, naturwissenschaftliche und historische Sachbücher an.

Peters Frau Beth, 66, mit der er seit 26 Jahren verheiratet ist, kümmert sich um ihn und dirigiert ihn, wenn er sich blind und mit Gehhilfe durchs Haus tastet. Er könnte sich auch in den Rollstuhl setzen und sich schieben lassen, das ginge leichter und schneller - aber er geht lieber.

Sie hätten sich damals auf einer Party von Freunden kennengelernt, erzählt Beth. Sein Alter sei ihr nicht aufgefallen, sagt sie und lächelt. "Ich dachte nur: Der ist aber charmant!" Peter lächelt jetzt auch. Er verstehe ja nicht viel von Genforschung, sagt er, "aber die Forscher behaupten, ich hätte ungewöhnliche Gene".

Hundertjährige hätten genetisch bedingte Schutzmechanismen

Vor einigen Wochen sorgte die Bostoner Forschergruppe um Tom Perls weltweit für Aufsehen: Im Fachjournal " Science" vermeldeten die Wissenschaftler, dass sie 150 Genvarianten im Genom von Hundertjährigen entdeckt hätten. Mit 77-prozentiger Treffsicherheit könnten sie anhand dieser Erbanlagen die Langlebigkeit voraussagen. Die Varianten gruppierten sie zu 19 typischen genetischen Signaturen.

Hundertjährige hätten zwar ein kaum geringeres Risiko für Altersleiden wie Diabetes oder Bluthochdruck, erklärt Perls weiter - doch sie hätten genetisch bedingte Schutzmechanismen, die den Ausbruch dieser Krankheiten verzögern und ein langes Leben begünstigen.

Als Durchbruch und Meilenstein der Altersforschung wurde die Studie von Fachkollegen und Presse gefeiert - doch sie stieß auch auf Kritik. Denn bei der Auswertung gab es ein technisches Problem, zehn Prozent der Daten wurden dadurch unbrauchbar. Die Erkenntnisse aus der Studie scheint dies indes nicht in Frage zu stellen. "Unsere Probandengruppe ist zum Glück so groß, dass wir die fraglichen Daten eliminieren können", sagt Perls, "und die Resultate bleiben trotzdem äußerst robust."

Andere Forschungsgruppen wetteifern nun darum, seine Ergebnisse mit ihren Hundertjährigen zu replizieren - darunter auch das deutsche Team in Kiel. "Perls' Idee ist smart und sexy", sagt Studienleiter Schreiber. "Wenn sie sich erhärten ließe, wäre das in der Tat ein Durchbruch."

Altersforscher Barzilai in New York denkt sogar schon einen Schritt weiter: "Als Nächstes müssen wir verstehen, wie diese 150 Varianten ihre Träger vor Krankheiten schützen", sagt er, "damit wir therapeutische Ansätze entwickeln können." Auf diese Weise, hofft Barzilai, könne man viele Alterskrankheiten in den Griff bekommen.

Happy ist unterdessen von ihrer Erkältung genesen. Fünf Tage hat sie in ihrer Wohnung verbracht, wobei sie vor Langeweile immer hibbeliger wurde. Nun aber trifft sie ihren Bruder Irving in einem Restaurant am Central Park zum Lunch; beide kommen mit einer Betreuerin. "Ich fühle mich, als wäre ich zwei Wochen lang eingesperrt gewesen", sagt Happy, während sie genüsslich Krabbenkuchen mit Kartoffeln verspeist und hinterher noch ein Stück Schokoladentorte.

Ihr Bruder isst derweil einen gemischten Salat. Er schüttelt den Kopf, altersmilde. "Meine Wochenenden sind auch immer sehr aufregend", erklärt er, "ich spiele Tennis, gehe schwimmen und laufen - aber nur in meiner Erinnerung!"

Nach dem Essen will er wieder nach Hause, zu seinen Sachbüchern. Seine Schwester blickt aus dem Fenster. Die Sonne scheint, Menschenmassen wuseln über die Bürgersteige, es ist ein zauberhafter Sommertag in New York City.

"Lass uns in den Park gehen, Irving!", sagt Happy.

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